Anton Mattle
Reportage

Tirol: Über eine Wahl, die den Trend vorgeben könnte

Zwei Wochen vor der Wahl zittert die Tiroler ÖVP vor einem Absturz. Dabei galten Land und Landespartei als untrennbar verbunden.

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Man stelle sich kurz vor, Günther Platter würde vor einem Tiroler Einkaufszentrum stehen und eine Runde drehen! Er würde Hände schütteln, eine nach der anderen. Zuerst auf der Straße, dann noch auf der Terrasse eines Restaurants. Und dann stelle man sich noch vor, wie Platter von einer Mitarbeiterin mehr oder weniger freundlich aus dem Lokal gebeten würde! Platter, übermächtiger Landeshauptmann der ÖVP, dem kann das eigentlich nicht passieren.Wirtschaftslandesrat Anton Mattle schon. Er ist es, der gerade die Terrasse verlassen musste. Entweder hat die Mitarbeiterin seinen Wahlkampf im Restaurant nicht befürwortet, oder sie hat ihn nicht erkannt. Dabei ist Mattle jetzt Obmann, Spitzenkandidat und damit wichtigster Mann der Tiroler Volkspartei: Platter bleibt zwar, und das ist durchaus ungewöhnlich, bis zur Landtagswahl am 25. September Landeshauptmann. Aber danach möchte es Mattle werden, und zum ersten Mal in der Geschichte des Bundeslandes ist das keine Selbstverständlichkeit. Auch die Koalitionsfrage kann noch niemand beantworten. Tirol wird am Wahltag womöglich politisch beben, und das lässt die gesamte ÖVP zittern: Wenn die anderen Landeshauptleute und der Bundeskanzler Richtung Westen blicken, sehen sie dann auch in ihre Zukunft?

535.112 Tirolerinnen und Tiroler dürfen am 25. September wählen. In den Bezirken Innsbruck Stadt und Innsbruck Land allein leben 213.262 Wahlberechtigte. Die Einwohner der Landeshauptstadt und ihrer Umgebung sind wichtiges Wählerpotenzial für Mattle. Sie muss er ansprechen-damit sie ihn überhaupt kennen und dann vielleicht auch wählen, wobei gerade die Innsbrucker nicht als Sympathisanten der ÖVP gelten.

Sein Wählerpotenzial versucht Mattle an diesem Dienstagnachmittag vor dem Einkaufshaus abzuarbeiten. Deswegen ist der Termin in der Landeshauptstadt so wichtig: "Griaß di, i bin der Mattle Toni", sagt er zur Frau vor der Apotheke. Neuer Stand: 213.261. "Derf i Hallo sagen?",fragt er den Burschen auf der Sitzbank. 213.260. "Geaht's guat?",den Mann mit dem Einkaufssackerl. 213.259. Auch wenn die Sonne auf den Platz knallt, kommen sprichwörtliche dunkle Wolken für die ÖVP auf. Die Partei spielt selbst mit dem Bild: Der blaue Wahlkampfbus parkt prominent auf dem Vorplatz und zeigt den Kandidaten im karierten Hemd, Regenschutz und Großformat. "Wetterfest". Die Mitarbeiterinnen verteilen Gummibärchen("Meine Lieblingsnachspeise",sagt Mattle) und Luftballone. Dass der Stand in Rot gehalten wird, irritiert wohl nur Angereiste. Türkis wollte die Tiroler Partei nie sein, ihre Farbe ist Schwarz, das Logo rot.

Die ÖVP rechnet mit ihrem historisch schlechtesten Ergebnis bei einer Landtagswahl, darauf hat sie sich schon eingestellt. Bisher hielt Platter den Nega tivrekord mit 39 Prozent der Stimmen im Jahr 2008. Davor schwebte die ÖVP meistens im Ergebnishoch zwischen knapp 50 und 60 Prozent. 2018 schaffte Platter immerhin 44 Prozent der Stimmen.

Was die Partei nicht akzeptieren will, ist das Ausmaß ihres Absturzes. Noch kann viel passieren. Aber in Umfragen erklären sich derzeit zwischen 25 ("IMAD" für die "Kronen Zeitung") bis 35 Prozent (GMK für die Bezirksblätter) bereit, die ÖVP zu wählen. An dieser letzten Befragung hält sich die Partei gerade fest, um die eigenen Leute mitzureißen. Es braucht die Motivation, aber es zeigt auch den Ernst der Lage: Ein Minus von fast zehn Prozentpunkten wird schon als Erfolg gewertet. Mattle wünscht sich "deutlich mehr als 30 Prozent".

Andreas Hofer hätte in Innsbruck keine freien Wahlen gewonnen.

Anton Pelinka, Politologe

Haben sich Landespartei und Land entfremdet? Oder hat man im Alpengebiet gerade einen besonders guten Ausblick darauf, wie tief die ÖVP österreichweit in der Krise steckt?

Die Antwort ist für die Volkspartei besonders bitter. Es gibt nicht das eine große Problem, das sie lösen könnte; die eine Schraube, an der sie drehen muss, damit alles wieder stabil ist. Das schwere politische Erbe haben Mattle zwei (einst) mächtige Männer hinterlassen: Platter im Land, nach der Corona-Krise und einer überraschend schnellen Übergabe. Und Sebastian Kurz im Bund, nach zahlreichen Korruptionsvorwürfen.

Auf beiden Ebenen vertraut die Bevölkerung den Regierungsparteien nicht mehr so, wie sie es zu Beginn der Corona-Krise tat. Ein Forschungsteam der Universität Wien analysierte in den vergangenen zwei Jahren die Stimmung in der Bevölkerung. Wahlverhaltensexpertin Julia Partheymüller sah sich für profil die Datenlage zu Tirol an. Die dortigen Vertrauenswerte für die ÖVP bewegen sich ziemlich im Mittelfeld aller Bundesländer. Man liegt im Trend, und der geht eben abwärts. Ein Tiroler Spezifikum ist das nicht.

Anton Pelinka, ehemaliger Professor der Politikwissenschaft an der Uni Innsbruck, hat zusätzlich eine erstaunliche Erklärung. Sie könnte, in gewisser Hinsicht, sogar beruhigend für Mattle sein. Denn der Abstieg liegt nicht an seiner Person. Es sei gar nicht überraschend, dass die ÖVP ihre deutliche Vormachtstellung im Bundesland nach und nach verliere, findet Pelinka. Sondern eher, wie lange sie das verhindern konnte: "Das spricht für das Geschick der ÖVP."Dass das urige Land und seine traditionelle Volkspartei untrennbar zusammengehören, sei mittlerweile ein großes Missverständnis. 2018 hatte der Höhenflug von Sebastian Kurz die Volkspartei in Tirol mitgerissen. Aber der gesellschaftliche Wandel fand auch in diesem Bundesland statt.

"Tirol ist längst nicht mehr so bäuerlich und so katholisch, wie es dargestellt wird. Das Priesterseminar in Innsbruck hat schon lange geschlossen", sagt Pelinka. "Der Andreas-Hofer-Mythos hat lange Modernisierungsschübe blockiert und hängt nun an Tirol wie ein Ballast."Er halte sich so lange, weil er funktioniert: Das Bild des urigen Tirols verkaufe sich gut.

Als der von vielen als Volksheld gefeierte Freiheitskämpfer Andreas Hofer Anfang des 19. Jahrhunderts nach Innsbruck gekommen und das Land von den Bayern befreit habe, sei die Innsbrucker Bürgerschaft sehr skeptisch gewesen. Pelinka: "Die Frauen dort waren schon angesteckt vom Geruch der Französischen Revolution. Andreas Hofer hätte in Innsbruck keine freien Wahlen gewonnen, weil er zu katholisch und zu antirevolutionär war."

Im Großraum Innsbruck sei die ÖVP lange nicht mehr hegemonial. "Es gab einen rasanten Rückgang der Bedeutung des Bauerntums und einen rasanten Anstieg des Faktors Tourismus und Bildung. Hier sind es die Universitäten und die urbane Gesellschaft, die den Ton angeben." Eine Klientel, mit der sich die Volkspartei schwertut. Und die stetig wächst. Mittlerweile leben mehr als 40 Prozent der Bevölkerung hier.


Für die Grünen ist es hingegen ein guter Nährboden: 2018 wurde Georg Willi erster grüner Bürgermeister einer Landeshauptstadt. 1994 war Eva Lichtenberger die erste Grüne, die in eine Landesregierung einzog. Damals herrschte nicht nur die ÖVP mit absoluter Mehrheit, sondern auch das Proporzsystem, das allen Parteien ab einer gewissen Stimmenanzahl einen Sitz in der Landesregierung verschaffte. Erst später koalierte Schwarz bewusst mit Rot, dann mit Grün.

Auffällig sei die Schwäche der SPÖ, sagt Pelinka. Erstens historisch betrachtet: In der Spätphase der Monarchie sei die Sozialdemokratie als Eisenbahnerpartei nach Tirol gekommen. Danach war das Bundesland vergleichsweise industriearm. "Das hat die Sozialdemokratie am Aufstieg gehindert." Zweitens sei auch die aktuelle Situation erstaunlich: Die Landes-SPÖ scheint die Schwäche der Volkspartei und den roten Aufwind im Bund nicht für sich zu nutzen. In Umfragen kämpft sie mit der FPÖ um Platz zwei.

Was das für die künftige Koalition bedeutet, ist völlig offen. Mattle schloss eine Koalition mit Markus Abwerzger und seiner FPÖ schon dezidiert aus("Wahltaktisch vielleicht nicht ganz klug",sagt er).SPÖ-Chef Georg Dornauer lehnt dafür eine Dreierkoalition ab-auch wenn nicht klar ist, ob zwei Parteien überhaupt eine Mehrheit haben werden. Die Liste Fritz möchte nicht mit der Volkspartei koalieren. Bleiben also noch zwei andere Parteien übrig: die NEOS und der bisherige Partner der Volkspartei, die Grünen.

Auch bei ihnen erwacht langsam der Intensivwahlkampf. Spitzenkandidat Gebi Mair steht um 06.45 Uhr am Terminal Innsbruck, einem der wichtigsten Knotenpunkte für öffentlichen Verkehr, und verteilt Frühstück. 150 Wachauer und 100 Pide hat sein Team im Lastenrad vorbeigebracht. Normalerweise findet sich immer jemand, der auf den Bus wartet und plaudern mag, erzählt Mair. An diesem Morgen aber nicht. Mair verteilt das Gebäck auf beiden Straßenseiten("Nie bei Rot drübergehen, das ist wichtig als Politiker")und hofft, dass die Leute den Flyer im Sackerl nicht übersehen.

Für Mair und seine Co-Spitzenkandidatin Petra Wohlfahrtstätter ist es der erste Wahlkampf in der allerersten Reihe. Die beiden blicken mit einer seltsamen Mischung aus Genugtuung und Sorge auf den 25. September: Sie freuen sich über die Schwäche der ÖVP, fürchten aber ihre Konsequenzen. Auch die Grünen sind Regierungspartei in Bund und Land und kämpfen gegen Vertrauensverluste. "Es herrscht eine diffuse Unzufriedenheit, wenn man mit den Menschen spricht",sagt Mair. Vor allem vor den Folgen der Teuerung fürchte man sich. Im Sommer hätten ihn noch einige auf die Klimakrise im Land, auf Muren und Naturkatastrophen angesprochen. "Aber man weiß nie, ob das die Menschen auch in eine politische Handlung umsetzen." Tun sie es nicht, könnten die Grünen nach der Wahl in der Opposition landen.

Anton Mattle versucht, nicht nur für einen personellen Wechsel, sondern für einen Wandel zu stehen. Auch stilistisch: Er erzählt, dass Landeshauptmann nie sein großer Traum war. Die Bühne im Scheinwerferlicht sucht er nicht, das nimmt man ihm auch ab. Wohler fühlt er sich im Straßenwahlkampf, auch wenn es Gegenwind geben kann. Ob die Tirolerinnen und Tiroler Mattle dort erkennen, ist eine regionale Frage. Und eine der Generationen. "Pater Toni",wie er gerne genannt wird, predigte bisher im Oberland, in seiner Heimatgemeinde Galtür. Mit 28 wurde er Bürgermeister, sieben Jahre später brach das größte Lawinenunglück in der Geschichte Österreichs über das Dort herein. Wer sich daran erinnern kann, kennt auch noch Bürgermeister Mattle. Die Jüngeren und das Unterland mussten ihn erst kennenlernen.

Mattle versucht aufzufallen, auch mit politischen Signalen. Er sendet sie in alle Richtungen: Der Klimabonus soll nicht für Häftlinge und Asylwerber in staatlicher Betreuung gelten. Der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung könnte kommen. Die CO2-Bepreisung müsste verschoben, dafür die Energiewende eingeleitet werden. Das passe alles zusammen, "weil es aus meiner persönlichen Überzeugung herauskommt". Und: "Die Leute sollen wissen, wofür der Toni Mattle steht." Die Energiewende spricht Mattle immer wieder an, er schwärmt von den Sonnenstunden südlich des Alpenhauptkammes und lobt die erneuerbare Wasserkraft durch Flüsse. Sie soll nicht nur dem Land, sondern auch der Landespartei ein nachhaltiges Image verleihen.

Bettina Urbanek, Gewässerschutzexpertin des WWF, sitzt in einem Kaffeehaus in der Innsbrucker Innenstadt und erhebt Einspruch. Auch sie möchte mit einem Mythos brechen: "Wasserkraft ist wichtig.

Aber sie ist noch lange nicht so grün, wie gerne getan wird."Tirol habe schon früh Kraftwerke gebaut, als es noch kaum Umweltauflagen gab. Vor allem bei den großen Speicherkraftwerken mache sich das bemerkbar: Sie sammeln das Flusswasser in einer Reserve auf großen Höhen. Weiter unten am Fluss befindet sich das Kraftwerk. Sobald der Strompreis und der Bedarf hoch sind, schaltet es sich ein. "Das ist wie ein Hochwasser, mehrmals am Tag",sagt Urbanek. Mit ökologisch fatalen Auswirkungen. "In Österreich sterben dadurch bis zu zwei Millionen Jungfische im Jahr." So, wie man lange die Klimakrise ignoriert habe, übersehe man nun das Artensterben.

Ob es nicht trotzdem besser sei, als Kohlekraftwerke wieder anzuwerfen? "Es geht um eine Mischung aus Erneuerbaren."Die Ressourcen, die man in Wasserkraft investieren will, sollte man lieber in andere Energiequellen fließen lassen, findet Urbanek.

Anton Mattle will nun Photovoltaik-Anlagen auf Großparkplätzen errichten lassen. Die Universität für Bodenkultur empfahl diese Maßnahme schon 2017 in einer Studie. Der Mann, der nie Landeshauptmann werden wollte, sagt, dass sich die Menschen bewusst sein müssten, dass das Landschaftsbild sich verändern werde, auch wenn es in diesem Fall nur Großparkplätze betrifft. Der große Wandel steht Tirol ohnehin bevor.

Iris Bonavida

Iris Bonavida

ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.