2,4 Milliarden Euro: Der hohe Preis der Krankheit Adipositas
Übergewicht kommt teuer. Nicht nur den Betroffenen, sondern der gesamten Gesellschaft. Zu diesem Schluss kommt eine am Mittwoch präsentierte Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS). Gesundheitsexperte Thomas Czypionka sieht darin eine wichtige Grundlage für politisches Handeln.
„Das Thema wird zu oft abgetan“, sagt Czypionka, „dabei ist die Adipositas-Epidemie ein zentrales Problem für die öffentliche Gesundheit und unsere Wirtschaft“, so der Gesundheitsökonom weiter. Die kritisierte Gleichgültigkeit in der Politik und im Alltag sollen die erstmals erhobenen Daten ändern. Co-Autorin Stephanie Reitzinger stellt sie vor: Krankhaftes Übergewicht ist verantwortlich für 537.000 Krankenhaustage und 1,24 Millionen Krankenstandstage im Jahr. Arbeitgeber verlieren dadurch 4400 Vollzeitäquivalente jährlich. Dabei sind Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems (zum Beispiel Arthritis) und des Bindegewebes, welche zu Muskelschmerzen führen, die häufigsten Gründe für die Krankschreibungen.
Zudem gehen adipöse Menschen früher in Pension. Die Studie schätzt, dass Adipositas zu 5,6 Prozent der Invaliditätspensionen beiträgt. Basis für diese Schätzung bieten Gesundheitsdaten aus 2019. Der Gesamtschaden für die Volkswirtschaft beträgt 2,4 Milliarden Euro. Nicht eingerechnet sind private Pflegekosten, Einkommenseinbußen aufgrund von Diskriminierung im Job, die psychische Belastung und daraus resultierende nicht-medizinische Ausgaben.
3,8 Millionen Österreicher:innen übergewichtig
Florian Kiefer ist Leiter der Endokrinologie-Ambulanz an der MedUni Wien und Präsident der Österreichischen Adipositas Gesellschaft (ÖAG). Kiefer schildert den Fall einer 56-jährigen Patientin. Mit 124 Kilo und einem BMI von 44 ist sie Teil der Hochrisikogruppe. Sie leidet an Bluthochdruck, Prädiabetes, erhöhten Blutfetten, Depressionen und hat mehrere Bandscheibenvorfälle hinter sich.
„Diese Patientin hat wirklich versucht, aus eigener Kraft entgegenzusteuern“, sagt Kiefer. Trotzdem kann sie heute nicht einmal selbstständig einkaufen. Seit heuer bezieht sie eine Berufsunfähigkeitspension. Selbst wenn sie kurzfristig Gewicht verlor, nahm sie immer wieder zu. Der Endokrinologe erklärt, was dahintersteckt: Komplexe biochemische Mechanismen, die wirken wie ein „verstellter Thermostat, der versucht, das letzte Höchstgewicht wieder zu erreichen.“ Das sei kein selbstverschuldetes Problem aufgrund von mangelnder Disziplin, wie oft vorschnell angenommen wird.
Die Österreicher:innen werden immer dicker. Rund 3,8 Mio. Personen ab 15 Jahren sind laut der letzten Gesundheitsbefragung 2019 von Übergewicht betroffen. Mehr als 16 Prozent der Bevölkerung hat Adipositas, wobei Männer etwas häufiger adipös sind (18 Prozent aller Männer und 15 Prozent aller Frauen haben Adipositas).
Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die vielschichtige Ursachen hat und professioneller Behandlung bedarf. Übergewicht beginnt bei einem BMI von 25. Ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 30 spricht man nach den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von Adipositas, also von krankhafter Zunahme des Körperfetts. Bei einem einem BMI von 40 und mehr spricht man von morbider Adipositas.
Adipositas verursacht der Studie zufolge acht Prozent aller Todesfälle in Österreich. Die Krankheit mindert auch die Lebensqualität. Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infertilität und Krebs sind nur einige Folgen von Adipositas. Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems machen den größten Kostenfaktor aus. Und: Menschen, die etwa im Alter von 45 Jahren an Hochrisiko-Adipositas leiden, verlieren knapp fünf Lebensjahre und sogar bis zu zehn gesunde Lebensjahre.
Erstattung von Abnehmspritzen eingeschränkt möglich
„Die Politik muss handeln“, sagt Florian Kiefer. Die Österreichische Adipositas Allianz (ÖAA) nimmt die neue Studie zum Anlass, erneut ihre Forderungen an die nächste Bundesregierung zu stellen. „Adipositas muss endlich als eigenständige chronische Erkrankung anerkannt werden“, so Kiefers Appell im Namen der ÖAA. Das würde auch den Zugang zu Medikamenten für Patient:innen erleichtern, argumentiert er. Wichtig seien auch die Förderung von Präventionsmaßnahmen und ein niederschwelliger Zugang zu Therapien.
Hinweis am 15.10.2024: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, dass Semagludid, also der Wirkstoff im Abnehmmedikament Ozempic, von der Krankenkasse erstattet wird. Tatsächlich ist aber von Liraglutid, einem ähnlichen Wirkstoff, die Rede. Wir entschuldigen uns für diesen Fehler.
Mittlerweile erstattet die Krankenkasse medikamentöse Präparate wie Liraglutid (etwa im Arzneimittel Saxenda erhalten) für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren. Auch Erwachsene, die vor einem bariatrischen Eingriff (also eine Magenverkleinerung) stehen, können um Erstattung ansuchen. „Das ist ein erster Schritt“, sagt Kiefer. „Aber es reicht nicht, jemandem ein Rezept in die Hand zu drücken.“ Denn: Die Medikamente würden ausschließlich mit einer Änderung des Lebensstils wirken.
Für Gesundheitsökonom Thomas Czypionka fängt die Prävention bereits im Supermarkt an. „Dort stehen die Süßigkeiten in den Regalen ganz unten. Mein kleiner Sohn sieht sie sofort.“ Hier gäbe es zahlreiche kleine, aber wirksame Änderungen. Auch in der Schule sieht er viel Potenzial: „Ich wundere mich, dass der Sportunterricht noch immer genauso abläuft wie in meiner Schulzeit.“ Weniger die Leistung solle beim Turnen zählen, vielmehr solle der Unterricht Freude an der Bewegung vermitteln. Dann, so Czypionka, könnten auch „die Langsameren" motiviert werden.