Ärzte Ohne Grenzen: "Humanitäre Hilfe wurde politisiert"
profil: Halten Sie die Notverordnung für plausibel? Mario Thaler: Ich bin überzeugt, dass es in Österreich keinen Notstand gibt. Indem ein Notstand herbeigeredet wird, wird versucht Asylgesetze, Genfer Konvention und EU-Recht zu umgehen. Durch die Notverordnung wird das Asylrecht gemäß der Genfer Konvention komplett ausgehebelt.
profil: Welche Folgen könnte eine Umsetzung der Notverordnung in Österreich haben? Thaler: Die Signalwirkung, die Österreich in der Flüchtlingskrise hat, ist groß. Wenn Österreich nun seine Grenzen schließt, könnte das zu einer Kettenreaktion in anderen Staaten führen. Im schlimmsten Fall machen alle Staaten bis zu den Nachbarländern der Krisenländer ihre Grenzen zu. Dann sind die Menschen in Syrien, im Irak und in Afghanistan eingeschlossen. Ihnen werden dadurch Möglichkeit und Recht auf Schutz genommen.
Die Regierung hat bisher realitätsferne Entscheidungen gefällt und dabei anscheinend vergessen, dass es sich bei den Betroffenen um Menschen handelt, die unmittelbar unter den Folgen leiden.
profil: Die Flüchtlingskrise scheint medial in den letzten Monaten in den Hintergrund gerückt zu sein. Woran liegt das? Thaler: Die Medien berichten immer weniger darüber, weil das Problem an die Grenzen anderer Länder verlagert wurde. An der jordanisch-syrischen Grenze leben derzeit etwa 80.000 Menschen in Flüchtlingslagern, an der türkischen Grenze sind es bis zu 100.000.
profil: Wie schätzen Sie das bisherige Verhalten der EU hinsichtlich der Flüchtlingskrise ein? Thaler: Die Ressourcen für eine Lösung der Flüchtlingsproblematik sind auf Zäune und nationale Sicherheitsvorkehrungen ausgerichtet statt auf EU-weite Lösungen. Schutz und Versorgung der Menschen auf der Flucht kommen dabei zu kurz und werden mit wesentlich weniger finanziellen Mitteln unterstützt. Flüchtende sollen dadurch abgeschreckt werden. Dass diese Menschen dann hungernd und im Dreck in Lagern in Griechenland leben, wird scheinbar vergessen.
profil: Immer wieder wird vor Wirtschaftsflüchtlingen gewarnt. Wie soll mit Asylanträgen in Zukunft umgegangen werden? Thaler: Natürlich gibt es auch Wirtschaftsflüchtlinge. Aber genau da ist eine vernünftige Überprüfung von Asylanträgen und Fluchtgründen wichtig.
profil: Wie wäre eine erneute Flüchtlingswelle zu bewältigen? Thaler: Die Flüchtlingskrise stellt eine enorme Herausforderung dar, die mit der aktuellen Scheuklappenpolitik nicht bewältigt werden kann. Es müssen legale Fluchtwege nach Europa geschaffen werden.
profil: Ärzte Ohne Grenzen wurde im Rahmen der Flüchtlingskrise vorgeworfen sich in politische Themen einzumischen. Warum? Thaler: Wir leisten medizinische Versorgung, retten Flüchtende aus seeuntauglichen Booten und bergen Tote aus dem Meer. Unsere Arbeit ist nicht heroisch, sondern notwendig. Das Problem ist, dass humanitäre Hilfe politisiert wurde. Das ist moralisch höchst fragwürdig.
profil: Was würden Sie der österreichischen Regierung gerne sagen? Thaler: Die Regierung hat bisher realitätsferne Entscheidungen gefällt und dabei anscheinend vergessen, dass es sich bei den Betroffenen um Menschen handelt, die unmittelbar unter den Folgen leiden. Wieso bedarf es im 21. Jahrhundert einer Privatorganisation um darauf aufmerksam zu machen?
Zur Person
Mario Thaler studierte Internationale Wirtschaftswissenschaften und ist seit 2011 Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Österreich.