Afghanistan, Slum, Gemeindebau, ÖVP-Bezirkschef: Der Weg des Leon Wassiq

Von Clemens Neuhold
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„Afghanen-Mahrer.“ Das war bisher der rassistische Höhepunkt des Wien-Wahlkampfs. Den Spruch warf Wiens FPÖ-Chef, Dominik Nepp, dem Obmann der ÖVP-Wien, Karl Mahrer, an den Kopf. Hintergrund war Mahrers Kritik am Buhlen der FPÖ um türkischstämmige Wähler. Nepp revanchierte sich mit dem Hinweis auf aktive „Afghanen“ in Mahrers Landespartei. Aber wer genau war damit gemeint?
Dafür muss man die Donau nach Floridsdorf überqueren. Zum neuen ÖVP-Bezirksparteichef Leonhard („Leon“) Wassiq. Ein Mann, mit einer erstaunlichen Integrationsgeschichte zwischen Afghanistan, indischem Slum, Großfeldsiedlung und ÖVP-Chefsessel in Floridsdorf.
Der 36-Jährige ist seit 2023 Chef der Bezirkspartei. Im Eurospar-Restaurant im 1. Stock, mit Blick über den Franz-Jonas-Platz, erzählt er seine Geschichte. Und die ist selbst im multikulturellen Wien ziemlich einzigartig. Den Ort des Treffens hat Wassiq vorgeschlagen. Rundherum sitzen ältere Menschen, die wirken, als würden sie hier regelmäßig günstig essen. „Wasser, Kaffee oder ein Bier?“, fragt Wassiq an der Kasse.
„Er schaut aus wie Kurz“, hatte ein anderer Bezirkspolitiker Wassiq im Vorfeld beschrieben. Beim Outfit und in der Handhaltung tun sich tatsächlich Parallelen zum zwei Jahre älteren Ex-Bundeskanzler der ÖVP auf. Nicht nur dort.
Wassiq hat afghanische Eltern. Deren Sprache Dari spricht er fließend. Wassiq selbst ist aber nicht in Afghanistan geboren, sondern in Neu-Delhi. „In einem Slum“, fügt er hinzu. Als er zwei Jahre alt ist, reist die Familie auf der Suche nach einem besseren Leben nach Europa. Ziel sind Verwandte in Deutschland, doch Österreich ist beim Visum und der Aufenthaltsgenehmigung großzügiger.
Nach Traiskirchen und einem weiteren Flüchtlingslager in Mödling landet Wassiq in Wien, im 15. Bezirk. „In einer Mini-Wohnung mit Kakerlaken und Mäusen. Ich habe meinem Vater geholfen, Fallen zu bauen.“ Der Vater liefert Pizza aus, die Mutter ist zu Hause. Die gemeinsame Familien-Pizza hat er heute noch als Highlight in Erinnerung.
Mit der Staatsbürgerschaft geht es damals in den 1990er Jahren noch schnell. Aus Afghanen werden Österreicher mit afghanischem Migrationshintergrund, die Familie wechselt in eine Gemeindewohnung nach Floridsdorf.
Die hat er als „harten Beton“ in Erinnerung. Es herrscht eine handfeste Rivalität zwischen Großfeldsiedlung und Rennbahnsiedlung. Auch zwischen Rapid und Austria Wien muss man sich klar deklarieren, wenn man unter Androhung von Schlägen abgepasst wird. „Das war damals noch eine Gegend von Hooligans und Skinheads“, erinnert sich Wassiq. Und er mitten drin als einer der wenigen „Schwarzköpfe“.
Er besucht mehrere Schulen. „In Floridsdorf war ich der Außenseiter. Nach dem Wechsel in ein Gymnasium, zurück über die Donau in die Brigittenau, war ich plötzlich von vielen Migranten umgeben und sprach als einer der wenigen nicht das dort übliche Migra-Deutsch.“
Wassiq hadert mit seiner Identität. Erinnert sich an Mobbing in der Schule. Droht selbst auf die schiefe Bahn zu geraten. „Viel Stress, wenig Geld“, sagt er über diese Zeit. „Ich war verhaltensauffällig, flog von der Schule, war kurz obdachlos.“
Vom Thaiboxer zum Integrationsbotschafter
Aber er biegt nicht in die Kriminalität, sondern in ein Boxsport-Center in Floridsdorf ab. Bestreitet Wettkämpfe im Thai- und Kickboxen. Das bringt ihn wieder auf Spur. Er holt die Matura nach, jobbt als Security und Billa-Regalschlichter. Landet bei A1 Telekom Austria. Er bringt sich als Autodidakt laufend neue digitale Skills bei, wechselt ins Management. Wird in der unter Kanzler Kurz zusammengelegten Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) Leiter der digitalen Transformation. Nach einem Stopp beim IT-Konzern AT&S heuert er bei der internationalen Rechtsanwaltskanzlei Wolf Theiss an, wo er bis heute „Chief Digital & Technology Officer“ ist.
Sein Weg in die ÖVP führt vor zehn Jahren über die Christ-Gewerkschaft in die Junge Volkspartei (JVP). Kurz ist deren Chef und Integrationsminister. Wassiq wird einer seiner Integrationsbotschafter. Warum ausgerechnet die ÖVP? „Die meisten Migranten damals gingen fast automatisch zur SPÖ. Das hatte auch mit der Angst zu tun, dass unter rechten Parteien vielleicht die Oma abgeschoben wird.“ Er selbst fühlte sich dafür zu konservativ, zu wirtschaftsnah und zu hart in Sachen Integration. „Ich gab Deutschkurse für Türken in Favoriten. Ich verbot den Schülern, Türkisch zu reden. Weil sie das ohnehin daheim und im Park taten.“ Die SPÖ-nahe Kursleitung habe ihn dafür kritisiert. „Ich schmiss hin.“
„Integration ist ka Wunschkonzert“, plakatiert seine Partei in Floridsdorf heute mit seinem Konterfei. Es ist Wassiqs Auftrag, mit Law & Order-Politik zu verhindern, dass die ÖVP im Bezirk völlig abstürzt. Denn die Gefahr ist groß. Immerhin waren bei der Wien-Wahl 2020 massiv Blauwähler zur Volkspartei übergelaufen. Der Grund: Der Ibiza-Skandal. Die ÖVP schoss von sieben Prozent 2015 auf 20 Prozent hinauf. Jetzt droht das Pendel wieder zurückzuschlagen.
Ungewöhnlich ist auch Wassiqs Sprung an die Spitze der Bezirkspartei. Er ging 2023 als lachender Dritter aus einem Führungskampf zwischen dem langjährigen Bezirksparteichef Erol Holawatsch und dem Herausforderer Christian Klar hervor. Klar ist als streitbarer Mittelschuldirektor in Floridsdorf bekannt. Schrieb Bücher über die Islamisierung der Gesellschaft und die damit zusammenhängenden Probleme in Schulen. Tritt in Talk-Shows auf. Auf Bezirksebene ist er noch Bezirksvorsteher-Stellvertreter. Doch in der Bezirkspartei selbst zog er erst gegen Holawatsch und dann gegen Wassiq den Kürzeren.
Als Migrant näher an der FPÖ als an der SPÖ
Wassiq soll wegen seiner jungen und frechen Art von Mahrer gepusht worden sein. Die vergleichsweise aktive Truppe der Jungen ÖVP Floridsdorf soll im Machtkampf entscheidend gewesen sein. Und weil Wassiq nicht der einzige Afghanischstämmige in der jungen Floridsdorfer ÖVP war, kam das Gerücht vom „afghanischen“ Putsch auf, das Nepp mit seinem Spruch vom „Afghanen-Mahrer“ beförderte. Diese Version bestätigen parteiinterne Widersacher Wassiqs nicht.
Im Bezirk kann er mit vielen. Heinz-Christian Strache, der mit seinem „Team HC“ ebenfalls antritt und neuerdings in Floridsdorf wohnt, nennt Wassiq den „Heinz“. Wenn er über die „Unsicherheitszonen“ im Bezirk spricht, zitieren er und der Spitzenkandidat der FPÖ Floridsdorf, Karl Mareda, fast deckungsgleich Episoden in der Nordrandsiedlung, Großfeldsiedlung oder Mitterhofergasse („Klein-Manhattan“), die nach Pariser Banlieu klingen – und vom Polizeikommandanten so nicht bestätigt werden.
Näher an der FPÖ als an der SPÖ - als Zuwanderer aus dem islamischen Raum, ehemaliger Gemeindebaubewohner, Profiteur des roten Wien. Wie geht das zusammen?
„Als Zuwanderer weiß ich noch viel mehr, dass es nicht selbstverständlich ist, in einem so tollen Land wie Österreich zu leben. Deswegen kann ich nicht akzeptieren, wenn Zuwanderer sich nicht benehmen und die Werte des Landes missachten.“
Die ÖVP spricht Migranten direkt an, mit bewusst provokanten Wahlplakaten: „Deutsch ist Pflicht, Habibi.“ Eine von Österreichern ohne Migrationshintergrund im Innen-Stadt-Büro designte Kampagne, die auf Zuwanderer ziemlich abgehoben wirken könnte. Wassiq fremdelt nicht damit.
Mit konservativem Islam fängt er wenig an
Auch mit dem von der Regierung geplanten Kopftuchverbot hat der Politiker aus dem muslimischen Afghanistan kein Problem. Seine Mutter habe „als absolute Feministin“ die Verhüllung als „Einschränkung“ für Frauen gesehen. Sein Vater habe einen Integrationsverein gegründet. „Doch als die ersten Flüchtlinge aus Afghanistan verlangten, dass Männer und Frauen getrennt sitzen, hörte er auf.“
In Floridsdorf liegt die größte Moschee Österreichs, das „Islamische Zentrum“, von Muslimen wegen ihrer Lage auch „Donau-Moschee“ genannt. Durch die getrennten Eingänge für Männer und Frauen strömen jeden Freitag Tausende Gläubige.
Am Ende des Ramadan, zum Zuckerfest, zählt die Donau-Moschee laut Polizei 30.000 Besucher. Wassiq ist nicht darunter. Er bestellt im Eurospar-Restaurant noch ein kleines Bier.

Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.