Alexander Van der Bellen: Der wache Riese
Im Wahlkalender 2022 findet sich nur ein Eintrag von Bedeutung. Im Herbst wird der Bundespräsident gewählt, ob regulär, bleibt abzuwarten. Österreichs Staatsoberhäupter waren stets alte weiße Männer. Alexander Van der Bellen, Jahrgang 1944, ist da keine Ausnahme. Natürlich wäre es höchst an der Zeit für eine Bundespräsidentin, aber Irmgard Griss verpasste ihre Chance, Karoline Edtstadler will wahrscheinlich nicht und Dagmar „Impfschaden“ Belakowitsch hoffentlich nicht.
Wie derzeit in allen Parteien geraunt wird, strebt Van der Bellen eine zweite Amtszeit an. Der Bundespräsident selbst sagt nichts zu seiner persönlichen Zukunft, auch nicht bei seiner Neujahrsansprache 2022. Zur Zukunft des Landes äußerte er sich vor einem Jahr in seiner Neujahrsansprache 2021: „Irgendwann in den nächsten Monaten wird sich langsam das Gefühl einstellen, dass die Pandemie vorbei ist oder zumindest unter Kontrolle.“ Tatsächlich stellte sich dieses Gefühl zwar ein, es hat sich mittlerweile aber wieder verflüchtigt.
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Trotz seines epidemiologischen Irrtums ist Van der Bellen ein Testimonial für die guten Seiten des in Verruf geratenen alten weißen Mannes. VdB kann Regierungskrise. In seiner bisherigen Amtszeit gelobte er beinahe mehr Kanzler und Minister an als seine Vorgänger zusammen. Da ein Bundespräsident formal viel Macht besitzt, diese in der Praxis aber nicht einsetzt, nennen ihn Verfassungsexperten „einen schlafenden Riesen“. Van der Bellen ist der erste Bundespräsident der Zweiten Republik, der hellwach bleiben musste, auch wenn das oberflächlich betrachtet seinem Naturell widerspricht.
Unrasierte Lässigkeit
Kein österreichischer Staatsbürger hört die Bundeshymne so häufig wie der Bundespräsident. Wo auch immer er offiziell erscheint, wird sie gespielt, auch im Ausland. Bei Auftritten in den Bundesländern folgt auf die Bundeshymne die jeweilige Landeshymne. Bei der Eröffnung der Rieder Messe im September sang Van der Bellen an der Seite des Landeshauptmanns das „Hoamatland“ textsicher mit, wovon sich Ihr „Bauer sucht Politik“-Reporter live vergewissern konnte. Entweder kennt der Bundespräsident die oberösterreichische und alle anderen Landeshymnen auswendig, oder er bewegt im Anlassfall seine Lippen so geschickt synchron wie ein TikToker.
Der frühere Bundespräsident Heinz Fischer entwickelte fast allergische Reaktionen, wenn die Würde seines Amtes nicht gewahrt wurde. Das war aus Fischers Sicht bereits bei der unzulässig verkürzten Anrede „Herr Fischer“ der Fall. Mit Alexander Van der Bellen zog eine unrasierte Lässigkeit in den Leopoldinischen Trakt der Hofburg ein. Im Begleittross des Bundespräsidenten konnte der profil-Reporter dessen entspannten Umgang mit dem Bürger des Öfteren persönlich miterleben – und die Reaktion des Bürgers auf das Staatsoberhaupt.
Zwei Beispiele
Eine Asfinag-Raststation an der A2: An einem Stehtisch gönnen sich zwei Mitarbeiter der Autobahnmeisterei – erkennbar an ihrer orangen Montur – gerade eine kleine Rauchpause. Der Auto-Konvoi des Bundespräsidenten fährt vor. Van der Bellen steigt aus der Dienstlimousine, holt sich einen Kaffee aus dem Automaten, zündet sich eine Zigarette an und gesellt sich zu den beiden. Der eine staunt, der andere grüßt mit republikanischem Selbstbewusstsein: „Seavas, Chef!“ Heinz Fischer hätte seinen Automatenkaffee verschüttet. VdB nickt höflich und nippt weiter am Plastikbecher.
Im Mai 2017 nimmt Alexander Van der Bellen an einem Festakt zum 60-Jahre-Jubiläum des Slowenischen Gymnasiums in Klagenfurt teil. Zweiter Ehrengast der Feier im Konzerthaus ist der slowenische Präsident Borut Pahor. Kurz vor Beginn der Veranstaltung wollen, beziehungsweise müssen beide Präsidenten wie viele andere Besucher das gleiche: aufs Klo. (Auch der profil-Reporter ist vor Ort.) Für Borut Pahor wird eine komplette Toilettenanlage im Konzerthaus geräumt. An der Tür wachen zwei Personenschützer darüber, dass niemand das Staatsgeschäft stört. Im überfüllten Männerklo daneben steht plötzlich der österreichische Bundespräsident und stellt sich höflich in die Reihe. Ein Vorbenützer will ihm vor Schreck fast die Hand schütteln.
Wir lernen: Alexander Van der Bellen ist ein Bundespräsident zum Anfassen, wenn auch nicht auf einer Herrentoilette in Klagenfurt.
Gernot Bauer
Der profil-Redakteur ergründet seit 20 Jahren Wesen und Unwesen der österreichischen Innenpolitik.
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