Alkoholverbot: Wie Obdachlose von öffentlichen Plätzen verbannt werden
Erst grummelt er vor sich hin, dann tritt der Mann, der auf einer Bank auf dem Wiener Pratervorplatz sitzt, nach einer Wodka-Flasche und bringt sie zum Zerbersten. Er rempelt seinen Kollegen, dem die Flasche unter Verlust der letzten Tropfen entglitten war. Polizei und Passanten sind zu weit weg vom Stammplatz der Obdachlosen, um den Streit zu bemerken.
Nicole ärgert sich über den Unruhestifter, weil er ihren Vortrag konterkariert. Gerade erst hat sie erzählt, wie friedlich ihre "Familie" doch sei. Die Frau um die 40 lebt mit 15 Obdachlosen aus Österreich und Polen ihre Alkoholsucht am Praterstern aus. "Gleich trinken sie wieder aus derselben Flasche", sagt Nicole. Friede, Freude, Wodka.
"Es reicht", befand die SPÖ Wien. Seit Freitag gilt ein weiträumiges Alkoholverbot am Praterstern, das vor allem auf rund 60 obdachlose Dauergäste des Platzes zielt. Eine Zäsur im roten Wien, die viel mit der neuen Sicherheitsdoktrin des künftigen Wiener Bürgermeisters Michael Ludwig zu tun hat.
Subjektives Sicherheitsgefühl
Bahnhöfe sind historisch jene Orte, an denen die Mitte der Gesellschaft auf ihre Ränder trifft. Heute werden immer mehr öffentliche Räume als potenzielle No-Go-Areas wahrgenommen, auf denen Alkoholverbote und Schutzzonen verhängt werden. Was früher noch naserümpfend akzeptiert wurde, soll nun ganz aus dem Stadtbild verdrängt werden. Mit einer tatsächlichen Gefahr hat das weniger zu tun als mit der gefühlten Bedrohung der Stadtbewohner und einer Politik, die sich immer stärker an diesem subjektiven Sicherheitsgefühl orientiert.
Unter dem Titel "Kriminalitätsprävention" werden Verhaltensweisen und Lebensformen verboten, die von der Norm abweichen. Das Politikkonzept fußt auf der sogenannten Broken-Windows-Theorie der US-Sozialforscher James Wilson und George Kelling aus dem Jahr 1982. Die umgehende Beseitigung kleinster Anzeichen der Unordnung soll Straftaten vorbeugen. Dieser Ansatz wurde Anfang der 1990er-Jahre vom damaligen New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani und dessen Polizeichef Bill Bratton übernommen und bildete die Grundlage der Zero Tolerance Strategy.
Versatzstücke der Null-Toleranz-Devise finden sich in Österreichs Städten seit Anfang 2000. Alkoholverbote gibt es von Dornbirn über Salzburg, Wels, Eisenstadt bis Klagenfurt. Innsbruck verhängte bereits im Jahr 2001 ein Alkoholverbot auf dem zentrumsnahen Haydnplatz, weil sich Anrainer an einer Handvoll lärmender Obdachloser stießen. Diese Maßnahme leitete eine Wende ein, die nicht nur aus der gesamten Innsbrucker Innenstadt eine Alkoholverbotszone machte - heute gilt dort auch ein Nächtigungs-sowie ein zeitlich begrenztes Bettelverbot. Graz wird seit 2003 von Siegfried Nagls Law-and-Order-Politik geprägt. Dem langjährigen ÖVP-Bürgermeister war die Gruppe obdachloser und suchtkranker Menschen rund um den Brunnen am Grazer Hauptplatz bereits viele Jahre ein Dorn im Auge, bevor er 2007 ein Alkoholverbot verhängte. 2009 folgte die Trockenlegung des Univiertels und der angrenzenden Mondscheingasse; 2012 wurde die Zone auf die gesamte Grazer Innenstadt ausgeweitet.
Restriktive Ordnungspolitik
Aber nicht nur konservativ regierte Städte pflegen heute eine restriktive Ordnungspolitik - mittlerweile üben sich selbst Sozialdemokraten in Verbotskultur. Der Linzer Bürgermeister Klaus Luger will ab Juni an drei Plätzen der Stadt eine Alkoholverbots- und Schutzzone erlassen. Auch in Klagenfurt lässt Bürgermeisterin Maria-Luise Mathiaschitz seit Anfang April am Busbahnhof Heiligengeistplatz und der Wörtherseemündung Lendhafen eine trinkfreie Zone austesten, weil sich Anrainer über Gestank und Lärm beschwerten.
Die Bundeshauptstadt Wien schien Anfang April von solchen Maßnahmen noch weit entfernt zu sein. Sozialstadträtin Sandra Frauenberger (SPÖ) erklärte, der diskutierte Alkoholbann am Praterstern sei vom Tisch. Sie berief sich dabei auf den Beirat für Sucht- und Drogenfragen, der die Alkoholverbote in österreichischen und deutschen Städten analysierte und in Wien andere Strategien empfahl. Nicht einmal einen Monat später schlägt Frauenbergers Nachfolgerin, Umweltstadträtin Ulli Sima, ganz andere Töne an. "Der Praterstern hatte eine starke Tendenz zur No-Go-Area. Wir mussten gegensteuern", sagt sie gegenüber profil. Wie scharf der Kurswechsel ausfällt, zeigt die Kritik der renommierten Stadtplanerin Gabu Heindl. Sie hat unter anderem das Konzept für die öffentliche Nutzung des Donaukanals entworfen. "Kein Ruhmesblatt für Wien. Das macht die Stadt doch aus, dass an Orten wie dem Praterstern Platz für alle da ist." Heindl ortet eine klare Vertreibung der "Ärmsten und Marginalisierten", die auf Bahnhöfen sozialen Anschluss suchen, aber nicht im geordneten Rahmen konsumieren. "Die Gastronomie breitet sich hingegen immer stärker aus." Tatsächlich sind Stände und Lokale am Praterstern vom Alkoholverbot ausgenommen, die Supermarktkette Billa darf in der Bahnhofshalle weiterhin bis 22 Uhr harte Spirituosen verkaufen.
Der Strategiewechsel zu einer schärferen Sicherheitspolitik der SPÖ unter dem designierten Bürgermeister Ludwig erfolgte ohne lange Debatten - und ohne klares Konzept für Süchtige, das einst für den Karlsplatz existierte. Der U-Bahn-Knotenpunkt war über viele Jahre Drogen-Hotspot der Stadt. 2010 wurde die Junkie-Szene aufgelöst. "Wir haben uns lange darauf vorbereitet, Personal aufgestockt und den Süchtigen neue Aufenthaltsräume zur Verfügung gestellt", sagt Elisabeth Odelga-Öcker. Sie war damals als Sozialarbeiterin der Suchthilfe Wien in einer neu geschaffenen Einrichtung tätig. Eine vergleichbare Strategie sieht sie für den Praterstern derzeit nicht; dort werde das Problem lediglich verlagert.
Michael Musalek, Suchtexperte und Ärztlicher Leiter am Anton-Proksch-Institut in Wien, bezweifelt die Gefahr eines zweiten Pratersterns um die Ecke. Der Bahnhof sei besonders einladend für kollektive Trinkgelage gewesen.
Verlagerungen
In Innsbruck und Graz ist die Trinker-Szene jedenfalls nicht verschwunden. "Bei uns haben sich die Wohnungslosen, gegen die sich die erste Verbotszone richtete, ein paar Meter hinaus bewegt, dann haben sich wieder Anrainer aufgeregt, dann wurde die nächste Zone beschlossen, dann kam es wieder zu Verlagerungen. Und so weiter", sagt Michael Hennermann vom Verein für Obdachlose in Innsbruck. Heute ist das freie Trinken außerhalb der Gastronomie aus der gesamten Altstadt verbannt.
"Handelskai, Donauinsel ..." Am Praterstern fallen Nicole sofort einige Ausweichorte für sich und ihre "Familie" ein. Georg Papai, roter Chef des 21. Gemeindebezirks, rüstet sich bereits. Er fordert ein Alkoholverbot für den Floridsdorfer Bahnhof und den Franz-Jonas-Platz: "Da gibt es einen Verdrängungseffekt, wenn zum Beispiel viele Polizeikontrollen am Praterstern sind."
Überraschend cool bleiben die Vorsteher der Bezirke Josefstadt und Ottakring, die bei der U6-Station Josefstädter Straße aneinandergrenzen. "Ein Alkoholverbot ist für uns kein Thema", sagt Veronika Mickel, Bezirksvorsteherin in der Josefstadt. "Die Situation ist stabil, die Beschwerden sind überschaubar. Das Josi leistet hervorragende Arbeit."
"Natürlich gibt es die Probleme weiter, die Leute sind jetzt im Stadtpark oder sonstwo", sagt der Leiter der Grazer Ordnungswache, Wolfgang Hübel. "Aber am Hauptplatz - dort, wo die Gewerbetreibenden und Touristen sind -sind sie weitgehend weg. Damit fahren wir ganz gut."
Sozialarbeiter fahren schlecht damit. Sie erreichen ihre Klienten schwerer, weil diese zusehends über die ganze Stadt verstreut sind. Hübel macht kein Hehl daraus, dass Verbotszonen kein Mittel der Sozialpolitik, sondern ein Verdrängungsinstrument sind -und ein Zugeständnis an das von Politikern neuerdings so gern beschworene "subjektive Sicherheitsgefühl", obwohl von Obdachlosen selten direkte Gefahr für Außenstehende ausgeht. "Im Sandlermilieu sind die meisten alt, lehnen auf der Bank und saufen sich dort an. Außer, dass sie optisch störend sind, tun sie niemandem was", bestätigt ein Ordnungswächter. Auch ein Streetworker der Stadt Graz ist überzeugt: "Ihre Konflikte werden zu 99 Prozent intern ausgetragen."
Am Wiener Praterstern musste die Polizei in den ersten drei Monaten dieses Jahres in 40 Fällen wegen "alkoholbedingter Ordnungsstörungen oder Körperverletzungen einschreiten", sagt der Wiener Polizeichef Gerhard Pürstl. "Das zeigt, dass man beim Alkoholkonsum ansetzen muss."
Mediales Dauerfeuer
Diese Vorfälle, die nun als Begründung für das Verbot genannt werden, schafften es jedoch nur selten in die Schlagzeilen, die dem Praterstern den Ruf als "Hotspot" Nummer eins der Stadt einbrachten. Ins mediale Dauerfeuer nahm der Boulevard Flüchtlinge, die mit Drogen dealten, einander "Bandenkriege" mit Messern lieferten oder vereinzelt Frauen vergewaltigten. Am Cannabis- oder Tabletten-Konsum am Praterstern und im angrenzenden Park, der Teil der Verbotszone ist, ändert der Alkoholbann per se noch nichts. Vor diesem Hintergrund erscheint das Trinkverbot für Obdachlose als eine klare Themenverfehlung. Ohne die Flüchtlingskrise und ihre Folgen wäre der Alkoholpegel am Praterstern wohl Ludwigs geringste Sorge gewesen.
Am Praterstern zeigt die Chefin der NEOS Wien, Beate Meinl-Reisinger, auf einem Plan, wo sie neue Straßenlampen und Videokameras gegen "Angsträume" installieren würde. Bei einem Bürgerforum mit 40 Anrainern hat sie festgestellt: "Die Obdachlosen waren immer da. Sie sind nicht der Grund, warum sich die Bürger unsicherer fühlen. Intensiver wurde über die vielen Flüchtlinge diskutiert." Ein Alkoholverbot lehnten die NEOS-Sympathisanten bei der Veranstaltung mehrheitlich ab.
Besser könnte Meinl-Reisinger mit Schutzzonen leben, die in niederösterreichischen Städten wie Wiener Neustadt verhängt wurden. Polizeibeamten reicht dabei der Verdacht, dass Personen strafbare Handlungen setzen wollen, um sie für bis zu 30 Tage von Bahnhof oder Stadtpark wegzuweisen. Selbst Eva Schobesberger, Grüne Stadträtin in Linz, könnte sich mit Schutzzonen anfreunden: "Ich halte generell nichts von Verbotszonen - aber wenn, macht das am meisten Sinn." Die Schwierigkeit an großen Plätzen wie dem Praterstern: Schutzzonen sind rechtlich nur dann erlaubt, wenn sie überwiegend junge Menschen schützen, die beispielsweise in eine nahegelegene Schule gehen. Nach dem Landessicherheitsgesetz Wien dürfen derzeit störende Personen nur bis zu zwölf Stunden des Platzes verwiesen werden. Im Analysepapier der Suchtkoordination Wien, das noch bis Anfang April SPÖ- Linie war, wird eine Ausweitung auf 72 Stunden empfohlen - eine Art Schutzzone light.
Noch stärker entlasten könnte den Praterstern aber ein anderer Vorschlag: eine Rückkehrhilfe für schwer alkoholkranke und stark verelendete Menschen aus osteuropäischen Nachbarländern, die oft keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Sie machen bereits einen wesentlichen Teil der Wiener Obdachlosenszene aus.
Edi steht mit seinen Leuten hinter dem U-Bahn-Aufgang und schaut zu den Obdachlosen auf dem Vorplatz hinüber. "Wir besorgen ihnen manchmal ihre Flaschen vom Billa, weil sie Hausverbot haben." Seit 20 Jahren ist der Praterstern das Wohnzimmer des heute 39-Jährigen. Edi trinkt seit Jahren nichts. Er ist auf der Ersatzdroge Substitol. Deswegen fürchtet er sich nicht vor dem Alkoholverbot. "Die Kiwara werden uns trotzdem nachrennen und schauen, was wir im Flaschl haben. Dabei hätten sie hier so viel anderes zu tun." Auch seine Szene sei über die Jahrzehnte schon öfter "zusammengeräumt" worden. Er sagt trocken: "Das wird sich immer verlagern, und in 50 Jahren stehen wir dann in Niederösterreich."