Alle Flüchtlinge gehen nach Wien – wollen wir das?
Von Clemens Neuhold
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Eine schmucklose Zwei-Zimmer-Wohnung in Wien-Favoriten. Mahmoud Alkatib sitzt neben seiner Frau und seiner kleinen Tochter am Teppichboden, im Nebenzimmer spielen seine beiden Söhne, die im Volksschulalter sind. Vor zwei Monaten flog die Mutter mit den drei Kindern über das syrische Nachbarland Libanon direkt nach Wien – die Hauptroute für den seit Monaten andauernden Familiennachzug aus Syrien. profil begleitet das Schicksal der Alkatibs seit ihrer Ankunft. Jetzt ist die Familie mit dem Vater wiedervereint. Angekommen ist sie noch nicht. Ihr droht nach nur drei Monaten in der neuen Wohnung die Delogierung. Vor ihnen liegt ein Brief der Wiener Vermieterin. Die letzte Mahnung.
Der Vater ist seit 2021 im Land, arbeitete eine Zeit lang in einer Shampoofabrik. Derzeit lernt er Deutsch und hat keinen Job. Im Februar stellte er einen Antrag auf Mindestsicherung in Höhe von 2550 Euro für die gesamte Familie. Bisher ohne Resultat. Eine Bearbeitungszeit von sechs bis acht Wochen sei derzeit normal, heißt es am Telefon bei der Magistratsabteilung 40. Eine NGO berichtet von Klienten, die wegen der vielen Anträge im Rahmen der Familienzusammenführungen vier bis sechs Monate warten.
Solange der Antrag bearbeitet wird, bekommt die Familie kein Geld. Die Miete beträgt um die 900 Euro für knappe 70 Quadratmeter. Fliegen die Alkatibs aus der Wohnung, müssten sie schnell eine desolate Billigwohnung finden oder die Wohnungslosenhilfe der Stadt in Anspruch nehmen. Doch auch dieses letzte soziale Wohnungsnetz ist bereits strapaziert. Denn bis eine Gemeindewohnung beantragt werden kann, gilt eine Wartezeit von zwei Jahren.
Die Grenzen des Möglichen
2023 gestattete das Innenministerium 9500 Müttern und Kindern die Einreise. Von Jahresbeginn 2024 bis Ende März stellten weitere 2700 Familienangehörige einen Einreiseantrag, um zu den Vätern zu ziehen. Und diese leben meist in Wien. Pro Monat kamen so rund 350 Kinder neu in die Pflichtschulen der Hauptstadt. Das entspricht einem Zusatzbedarf von monatlich 14 Klassen. Die Zahl neuer Kinder unter sechs Jahren überstieg die der Pflichtschüler in manchen Monaten noch. All das bedeutet einen enormen Stresstest für Schulen, Wohnungsmarkt, Sozialsysteme. Der Schulcontainer wurde zum Symbol dieser Platznot und Überforderung.
Vor einem Monat widmete profil der Familiennachzugswelle aus Syrien eine Coverstory. Es folgten teils hitzige Debatten über die Grenzen des Möglichen. „Wir schaffen das nicht mehr“, schlug etwa der oberste Pflichtschulgewerkschafter Wiens, Thomas Krebs, Alarm.
Eine entscheidende Frage wurde bisher nicht behandelt: Wie könnte man Flüchtlingsfamilien besser auf Österreich aufteilen? Als wäre es ein Naturgesetz, dass Syrer nach Wien gehen und ihre Kinder dort aufwachsen; als wäre Integration künftig nur ein Thema auf einer Wiener Flüchtlingsinsel; die soziale Balance im Land nur eine Angelegenheit zwischen Wiener Bezirken; als wären die Erfahrungen am Beginn der Flüchtlingswelle aus Syrien nie gemacht worden.
Zieh nicht fort, integriert im Ort
Damals, ab 2015, wurde die Frage der Verteilung noch leidenschaftlich diskutiert. Unter anderen setzte sich der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, Ex-Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad, mit Verve dafür ein. Weil von Anfang an klar war: Je unterschiedlicher der kulturelle und sprachliche Hintergrund, desto wichtiger der Kontakt zu Einheimischen, um anzukommen. Eine vitale Zivilgesellschaft – von örtlichen Welcome-Buddys bis zur Freiwilligen Feuerwehr – sorgte für beeindruckende Integrationsgeschichten.
Das Gros der Flüchtlinge zog es dennoch nach Wien. Schon damals. Für Flüchtlinge haben Metropolen überall die größte Anziehungskraft. In der Anonymität der Großstadt fallen kulturelle Unterschiede weniger auf, man findet Anschluss an dort lebende Landsleute, trifft auf ein dichteres Netz an sozialen Einrichtungen.
Anonym und unter sich bleiben
Österreich hat aber nur eine Metropole. Durch die ungleiche Verteilung der Migranten ist eine Schieflage bei der Integration entstanden. Die Familienzusammenführung lässt beispielsweise die Höchstschülerzahl pro Klasse an Favoritner Volksschulen Richtung 30 steigen, während Landgemeinden von Vorarlberg bis Südkärnten keine 30 Schüler mehr für die gesamte Volksschule zusammenbringen. Beispiel Hirschbach im niederösterreichischen Waldviertel: Die Volksschule besteht aus nur noch einer Mehrstufenklasse für alle Jahrgänge.
Zum Kampf um Landschulen schreibt der ÖVP-Vizebürgermeister von Altlengbach (NÖ) und Sprecher von Bundeskanzler Karl Nehammer, Daniel Kosak, auf dem Nachrichtendienst X: „De facto ist das in fast jeder Gemeinde unter 2000 Einwohnern schwierig. Eine Gemeinde, die weniger als zehn bis 15 Geburten pro Jahr hat, gerät in der Regel in Schwierigkeiten.“
Während in Wien Flüchtlinge viel zu lange in der Sozialhilfe festhängen, müssen Unternehmen im Westen zusperren oder die Betriebszeiten einschränken, weil Arbeitskräfte fehlen. Während syrische Flüchtlingsfamilien in Wiener Elendsquartiere ziehen mussten und es nun Razzien dagegen gibt, stehen außerhalb der Hauptstadt Flüchtlingsquartiere leer (diese sind nicht privat nutzbar, aber eventuell für Übergangslösungen zu benutzen).
Die große Integrationschance verpufft
Es erweist sich heute als falsch, dass die Politik ab 2015 nicht stärker in die Ortswahl der Flüchtlinge eingegriffen hat – sei es mit klaren Auflagen oder starken Anreizen. Denn die starke Ballung in Wien erschwert nun die Eingliederung genau jener, die leichter zu integrieren wären: Kinder.
Ab 2015 kamen vorwiegend Männer aus Syrien oder Afghanistan. Seit 2023 sind es zu einem guten Teil Kinder mit ihren Müttern. Sie wären kulturell wie sprachlich leichter für ihre neue Heimat Österreich zu gewinnen, weil sie die alte Heimat nur kurz erlebten. Allerdings nicht, wenn sie nach der Ankunft in der eigenen Community verharren. Und darauf läuft es in Bezirken wie Wien-Favoriten verstärkt hinaus. „Für meine Kinder bin ich die einzige Bezugsperson zu Österreich“, sagt eine Volksschullehrerin im Bezirk, die sich manchmal wie „eine Exotin“ fühlt. Welche Auflagen oder Anreize gebe es, um neu zugezogene Flüchtlingskinder besser zu verteilen?
Gegen die Einbahnstraße nach Wien
Nach Schätzungen des Fonds Soziales Wien werden sich bis zu 80 Prozent der Flüchtlinge in Wien niederlassen, was zu einer „enormen regionalen Konzentration führt“ … „Bereits jetzt ist das Wiener Pflichtschulwesen überfordert“ … „Ebenso besteht eine große Anspannung auf dem Wohnungsmarkt“ … „Der primäre Anschluss an die eigenen Landsleute hat Abschottungstendenzen zur Folge.“ Dieser parlamentarische Entschließungsantrag der NEOS liest sich wie frisch eingebracht, stammt aber aus dem Jahr 2016. Darin forderte die Partei Residenzpflicht oder Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge. Damit nicht alle nach dem Asylverfahren nach Wien ziehen.
Im Parlament fand die Residenzpflicht nie eine Mehrheit. Der Wiener NEOS-Politiker Christoph Wiederkehr holt sie nun wieder aus der Schublade. Sie soll für Asylberechtigte drei Jahre lang gelten. SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig trägt die Forderung seines Stadtrats mittlerweile öffentlich mit: „Ich unterstütze Maßnahmen, um zu einer gerechteren Verteilung von Asylberechtigten in Österreich zu kommen.“
Landflucht der Asylwerber
Als Stadtrat für Integration, Bildung und Jugend ist Wiederkehr politisch hauptverantwortlich für Lösungen beim Familiennachzug. Derzeit lässt er Containerschulen in Außenbezirken aufstellen. Eine Wohnsitzauflage soll zumindest in Zukunft für Entspannung sorgen: Flüchtlinge sollen auch nach Anerkennung drei Jahre dort bleiben, wo sie Asyl erhielten, und so lange auch nicht nach Wien ziehen können.
Die Schieflage bei der Verteilung beginnt aber schon früher: bei den Asylwerbern. Sie werden nach der Abklärung in den Erstaufnahmezentren des Bundes auf die einzelnen Bundesländer aufgeteilt: per Quote. Wer sie – wie die meisten Bundesländer – verfehlt, hat keine Sanktionen zu befürchten. Während Wien die Quote zu 197 Prozent erfüllt, liegt Oberösterreich aktuell bei 58 Prozent und Kärnten bei 48 Prozent.
Nach Wien nur ohne Sozialhilfe
Freilich: Eine Residenzpflicht wäre rechtlich umstritten. Denn Flüchtlinge können sich genauso frei in der EU bewegen wie andere Drittstaatsangehörige. AMS-Chef Johannes Kopf hätte sich eine rechtliche Prüfung gewünscht. Für ihn war es schon 2015 suboptimal, dass es den Großteil der Geflüchteten dorthin zieht, wo ohnedies bereits die höchste Arbeitslosenquote herrscht – nach Wien. Außerdem wies er auf die Möglichkeit von „Ghettobildungen“ hin.
Heute stellt er eine rechtlich weniger verfängliche Alternative zur gesetzlichen Residenzpflicht in den Raum, eine Art Sozialhilfe-Auflage. Die ginge so: Flüchtlingen steht Sozialhilfe oder Mindestsicherung zu, sobald sie Asyl bekommen. Für die Auszahlung sind die Bundesländer zuständig. Nach Kopfs Idee könnten die Länder eine sogenannte 15a-Vereinbarung beschließen. Nur jenes Bundesland, in dem während des Asylverfahrens der Wohnsitz lag, ist für die Mindestsicherung für diese Flüchtlinge zuständig. Zieht eine geflüchtete Person beispielsweise von Tirol nach Wien, gäbe es kein Sozialgeld mehr. Ist die Familie nachgezogen und lebt von Mindestsicherung, wären die Einbußen entsprechend höher und die Motivation, umzuziehen, geringer.
Umziehen würden die Flüchtlinge dann eher nur, wenn sie einen Job im anderen Bundesland gefunden haben.
Das Schweigen von Raab
Solche Vorschläge zumindest zu diskutieren, würde man sich besonders von einer Person erwarten: Susanne Raab. Die ÖVP-Politikerin ist Ministerin für Integration, Familie und Frauen. Für den Familiennachzug aus Syrien wäre sie demnach dreifach zuständig. Doch sie schwieg bisher. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker sprach sich am Rande einer Pressekonferenz dafür aus, den aktuellen Familiennachzug zu stoppen. Frauen und Kinder sollten nur noch nachgeholt werden dürfen, wenn die Väter eigenständig für sie sorgen können. Dies stünde freilich im Widerspruch zur geltenden EU-Rechtslage.
Aus Sicht der Volkspartei verstärkt Wien bewusst den Zuzug von Flüchtlingen und deren Familien in die Hauptstadt – durch höhere Geldleistungen als im Rest Österreichs. Raabs Ministerium macht das an den sogenannten subsidiär Schutzberechtigten fest. Sie bekommen kein Asyl, werden aber nicht abgeschoben, weil daheim Verfolgung droht. Ihren Aufenthaltstitel müssen sie nach einem Jahr neu beantragen. Sie bekommen in Wien die volle Sozialhilfe von 1156 Euro für eine alleinstehende Person – wie Asylberechtigte. In den anderen Bundesländern bis auf Tirol erhalten sie nur die Grundversorgung – wie Asylwerber. Sie macht zwischen 260 und 330 Euro je nach Bundesland aus.
Ist Wien selbst schuld?
Der Unterschied zwischen den Bezügen in Wien und beispielsweise Niederösterreich macht im Monat rund 850 Euro aus und steigt mit Kindern noch deutlicher an. Subsidiär Schutzberechtigte zieht es aktuell zu 90 Prozent nach Wien. Auch sie können ihre Familie nachholen. Allerdings erst nach drei Jahren. Deswegen fallen sie bei der Familiennachzugsdebatte weniger ins Gewicht. Dennoch gibt der Streit, was die verschiedenen Flüchtlingsgruppen „wert“ sind, schon einen Vorgeschmack auf den Wahlkampf.
Wiens Soziallandesrat Peter Hacker, SPÖ, glaubt, dass es rechtswidrig sein könnte, subsidiär Schutzberechtigte schlechterzustellen. Ein Anstieg von Armut oder sogar Beschaffungskriminalität in der Stadt drohe bei massiven Kürzungen. Das Raab-Ministerium meint, der Verfassungsgerichtshof habe die Regelung mehrfach geprüft. Wien solle sie umsetzen.
Rotes Wien gegen Bundes-ÖVP: In diesem Konflikt keimen pragmatische Ansätze, um Flüchtlinge besser zu integrieren. In Oberösterreich bietet ÖVP-Landesrat Wolfgang Hattmannsdorfer Syrern Ausbildungsplätze und Sprachkurse an, während sie noch im Asylverfahren sind. Das pragmatische Credo: Arbeitskräfte heute statt Sozialhilfebezieher morgen. Das geht sich im Industriebundesland sogar in der Landes-Koalition mit der FPÖ aus.
Ein anderer ÖVP-Politiker, Gemeindebund-Präsident Johannes Pressl, spricht sich gar für eine Residenzpflicht für Flüchtlinge aus und hat sich jüngst Modelle in Schweden angesehen. Zusätzlich sollte die Wirtschaft örtliche Jobangebote außerhalb Wiens noch stärker in die syrische Community tragen – zum Beispiel über Social Media.
„In kleineren Gemeinden kann die Integration besser gelingen“, ruft er in Erinnerung. Die Hunderten Kinder, die Monat für Monat ins enge Wien ziehen, wären es wert, wieder darüber nachzudenken.
Mitarbeit: Clara Peterlik
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.