Andau: Wo die Balkanroute geschlossen ist und die FPÖ dennoch abräumt
Von Clemens Neuhold
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2400 Einwohner zählt Andau. Es ist schwer, hier auch nur einen von ihnen anzutreffen. Das letzte Wirtshaus am Kirchenplatz hat zugesperrt. Kein Kaffeehaus. Der einzige Heurige öffnet erst donnerstags. Die meisten Andauer sind an diesem Dienstagvormittag nach Wien zur Arbeit gependelt, auf Urlaub oder leben ihre Pension „hintauße“, wie man hier im Nordburgenland sagt.
Von der Straße aus ist dieses pannonische Leben in Gärten und auf Feldwegen nicht zu erahnen. Zu dicht stehen die Einfamilienhäuser beieinander, zu hoch sind die Hoftore. Eine alte Frau, ganz in Schwarz gekleidet, taucht am Horizont auf und schiebt ihren Rollator vor sich hin. Eine zweite Frau in Schwarz begleitet sie auf der langen Gerade und passt ihr Tempo an. Mehr passiert hier nicht.
Als Andau noch ein Durchhaus war
2022 war es auf dieser Straße zwischen Raiffeisen-Filiale und Ortsende fast unmöglich, keine Menschen anzutreffen. Morgen für Morgen tauchten bis zu 50 Flüchtlinge aus den nebeligen Feldern an der grünen Grenze zu Ungarn auf und wanderten die knapp zwei Kilometer von der Grenze ins Ortszentrum. Dort ließen sie sich gut sichtbar auf zentralen Plätzen wie jenem vor der Bank nieder. So wollten von der Polizei oder dem Bundesheer gefunden werden, um ihre lange und beschwerliche Reise gen Westen mit dem Wort „Asyl“ zu beenden.
Sie bekamen Wasser sowie Nahrung, wenn es kalt war, auch Decken – und wurden ins Erstaufnahmezentrum Traiskirchen verbracht. Die niederösterreichische Stadt ist das Auf und Ab der Flüchtlingswellen gewohnt. Doch in kleinen Orten wie Andau ist alles anders, wenn über Nacht so viele Fremde kommen wie 2022 und dann plötzlich wieder ausbleiben.
Gab es 2022 im gesamten burgenländischen Grenzbezirk Neusiedl am See 43.000 Aufgriffe von irregulären Migranten, halbierte sich die Zahl 2023 auf 19.000. Im ersten Halbjahr 2024 waren es überhaupt nur noch 170. Ein Minus von 99 Prozent. Die Balkanroute zu schließen, dieses berühmte Versprechen ist so alt wie die Flüchtlingswelle 2015. In Andau wurde es vorerst eingelöst. Und dennoch legte die FPÖ bei der EU-Wahl im Juni um 9,4 Prozentpunkte auf 30,8 Prozent zu, mehr als im Österreich-Schnitt. Die Bundeskanzlerpartei ÖVP stürzte im selben Ausmaß ab. Ist der generelle Rechtsruck auch mit Fakten wie der begrenzten Fluchtwelle nicht zu stoppen?
„Die Grenze ist ziemlich dicht“, sagt Ilse Tergowitsch. Die 71-jährige Pensionistin aus der Nachbargemeinde Tadten fährt mit ihrem Motorroller regelmäßig zum Einkaufen nach Andau. Denn so kahl die Wirtshauslandschaft, so üppig ist das Supermarktangebot in Andau mit einem Adeg am Kirchenplatz, einem großen Billa am Ortsende Richtung Zicksee und einem Spar Richtung Halbturn. Tergowitsch parkt ihren Roller vor der Kirche und spricht über das Ende des Flüchtlingsstroms: „Für mich ändert sich dadurch nicht viel. Weil ich nie Angst hatte vor den Flüchtlingen. Eher Mitleid.“ Die „armen Syrer“ hätten sich nicht in Hinterhöfen versteckt, sondern seien gut sichtbar zu den Sammelpunkten marschiert. „Von Einbrüchen habe ich nie gehört.“ Ein erprobter Ablauf ohne Berührungspunkte mit den Andauern.
Die Fadesse ist jetzt der größte Feind
Der 36-jährige Bundesheer-Leutnant Philipp Harlander ist dafür zuständig, ein routiniertes Nebeneinander von Einheimischen und Fremden zu gewährleisten. Er befehligt 40 Mann, die im „Camp“ Andau untergebracht sind, einem ehemaligen Zollhaus auf dem letzten Kilometer zur ungarischen Grenze. Sie assistieren der Polizei entlang der grünen Grenze. Der größte Feind dieser Tage ist die Fadesse. Routine-Übungen ersetzen den Ernstfall. Soldaten – im Fachjargon „Figuranten“ – mimen Migranten oder Schlepper, die sich gegen eine Leibesvisitation wehren. Pfeffersprays kommen zum Einsatz, die mit Wasser gefüllt sind. „Die Kräfte direkt an der Grenze wurden angepasst und reduziert. Ganz zurückziehen geht aber nicht. Das merken die Schlepper und kommen wieder“, ist Harlander überzeugt.
Die Erklärung, warum die Schlepper derzeit einen Bogen um das Burgenland machen, ist in Serbien und Ungarn zu finden. Vor der Parlamentswahl Ende 2023 schickte der serbische Präsident Aleksandar Vučić eine Spezialpolizei los, um die gefährliche Situation an der serbisch-ungarischen Grenze zu entschärfen. Lager wurden geräumt, Menschen in den Süden umgesiedelt. Auch Ungarn schaltete mit Unterstützung der österreichischen Polizei auf scharf. Der Flüchtlingsstrom verlagerte sich über die Slowakei nach Tschechien oder von Slowenien Richtung Italien und Frankreich.
Einer der Grenzposten, zwischen denen derzeit nur Radfahrer, Vogelbeobachter oder Rebhühner zwischen den Ländern pendeln, ist die historische Brücke von Andau. Sie wurde im Gedenken an 70.000 Ungarn-Flüchtlinge wieder errichtet, die im Jahr 1956 allein an diesem Grenzabschnitt in den Westen gelangten. Die Menschlichkeit von damals steht auch heute noch im Vordergrund. Dass es Menschen aus Kriegsgebieten an einen viel besseren Ort zieht, könne er nachvollziehen. „Wir behandeln sie mit Respekt“, sagt Harlander auf der Brücke. Zwar muss jeder illegale Übertritt angehalten und angezeigt werden, die wahren Feinde sind hier aber die Schlepper.
Es sind die Fragen, die bleiben, wenn Migranten gehen
Warum ist das politische Klima in Andau so abgekühlt, obwohl Schlepper und Flüchtlinge nun ausbleiben? Das kann sich der Leutnant nur mit den Fragen erklären, die bleiben, wenn die Migranten längst weitergezogen sind: ob sie tatsächlich Verfolgte sind wie damals die Ungarn, ob sie sich kulturell integrieren können, ob der Sozialstaat diese Form von Zuzug noch schultern kann.
„Viele finden es nicht richtig, dass Asylanten bei uns in Österreich so viel bekommen“, sagt der Chef der ÖVP Andau, Andreas Peck. Auf der Website der Ortspartei firmiert er auch als Bürgermeister. Die Website wird offenbar selten gewartet, denn Ortschef war der 55-jährige Wasserbau-Ingenieur von 2012 bis 2022, bis sich die SPÖ das Amt zurückholte. Nun will Peck auch die Ortspartei übergeben. „Die letzten Jahre haben sich in der Bevölkerung eingebrannt, da kann die ÖVP tun, was sie will“, sucht er eine Erklärung für das starke Abschneiden der FPÖ und den Absturz seiner Partei bei der EU-Wahl. „In den Morgenstunden saßen die Fremden an jeder Ecke. Das war Frauen nicht wurscht, wenn sie in der Dämmerung zum Bäcker gingen“, erinnert er sich an 2022. Landwirte seien unterwegs gewesen wie die Müllabfuhr, um ihre Felder von Rucksäcken, Schlafsäcken und schmutziger Kleidung zu säubern.
Und wie analysieren die beiden FPÖ-Gemeinderäte den Höhenflug ihrer Partei auf über 30 Prozent? Sie haben die Anweisung, nicht mit profil zu reden. Für sie antwortet Landesparteisekretär Daniel Jägerbauer: „Auch wenn die Zahl der aufgegriffenen Illegalen zeitweise sinkt, etwa durch geänderte Routen, hat das Asylchaos der EU tiefe Spuren hinterlassen.“ Gerade im Burgenland treffe das Konzept der „Festung Österreich“ den Nerv der Bevölkerung.
Andau war schon einmal Festung. Hermetisch abgeriegelt vom kommunistischen Osten durch den Eisernen Vorhang. Als diese Festung 1989 fiel, profitierte keine Region stärker als das Burgenland. In Andau kauften Ungarn die Geschäfte leer. Besonders elektronische Geräte gingen weg wie die warmen Semmeln. Dann wurde das Burgenland durch den EU-Beitritt 1995 Fördergebiet „Ziel 1“ und erhielt eine Milliarde Euro.
Andau war ein Hauptprofiteur offener Grenzen
In Andau zeugen moderne Weinbaubetriebe wie Zantho, Reeh, Thell oder Scheiblhofer von dieser Aufbruchsstimmung. Sie wurden wichtige Arbeitgeber und Förderer des Wein-Tourismus. Scheiblhofer war Wein nicht genug. An der Ortseinfahrt dominiert das 4-Stern-Hotel „The Resort“ die Szenerie mit 118 Zimmern, Spa und einer Lobby, die Gäste beim Betreten von der Puszta in eine internationale Business-Welt beamt.
Ohne ungarische Pendler ginge nichts mehr in der lokalen Wirtschaft. Manche sind gleich Andauer geworden. Der Ort hatte zu Beginn der 1970er-Jahre schon 3000 Einwohner. Jetzt sind es nur noch 2400. Die Ungarn haben den Schrumpfprozess gestoppt. Und helfen damit, die Existenz der Volksschule und Mittelschule im Ort abzusichern.
"Festung Österreich", wie soll sie hier aussehen?
Eine „Festung Österreich“ wieder direkt an dieser Grenze zu Ungarn wäre anachronistisch. Was die FPÖ genau damit meint, wird sie erst erklären müssen.
„Ob sie kommen oder nicht – bei uns im Grenzort geht es immer um Flüchtlinge“, sagt der 42-jährige Bürgermeister Philipp Pelzer von der SPÖ. Im Unterschied zur ÖVP verlor seine Partei bei der EU-Wahl nur minimal von 37,9 auf 37,2 Prozent. „Gerade in einer Grenzregion hilft die schärfere Linie, die Hans Peter Doskozil im Vergleich zur Bundes-SPÖ fährt“, sagt er über seinen roten Landeshauptmann. Den Wähleraustausch zwischen ÖVP und FPÖ kann auch Pelzer sich nur mit den eingebrannten Flüchtlingsbildern von vor zwei Jahren erklären. „Natürlich fragt sich seither jeder: Was bekommen sie nun in Österreich? Wer dann im Internet von Tausenden Euro Mindestsicherung im Monat pro Familie liest und an die Pensionshöhe der Großeltern denkt, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, kippt vielleicht politisch.“
Wohl nicht mehr kippen wird Johann Csida, der eingefleischte „Sozi“, wie er sich selbst nennt. Jahrzehntelang pendelte der Maurer nach Wien. Nun ist der 78-Jährige in Pension. Er steht vor seiner Garage und zeigt auf einen überwucherten Grünstreifen gegenüber. In der Hochphase der Flüchtlingswelle sah er dort, wenn er die Rollos hochzog, fast täglich Afghanen oder Syrer sitzen.
„Lange Zeit haben dieselben 20 Leute FPÖ gewählt im Ort“, erinnert sich Csida. Jetzt gelingt es ihm nicht mehr, alle Blauen namentlich aufzuzählen: „Sie liegen halt im internationalen Trend.“
Selbst – oder gerade – in Andau.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.