„Ich hätte auch auf einen Babler-Effekt gehofft“, seufzt Willi Mernyi. Der bullige Mittfünfziger organisiert als Bundesgeschäftsführer des Gewerkschaftsbundes seit Jahren Kampagnen und gilt als einer der Babler-Macher. Die Frage, warum die SPÖ maximal mittelmäßig dasteht, beantwortet er so: „Der Andi hatte einen Hype, aber der ist abgeflaut. Kein Wunder bei all den Querschüssen. Immer dann, wenn die SPÖ zu streiten anfängt, verlieren wir zwei Prozentpunkte. Ich besuche viele Betriebe und höre überall: Hört endlich mit den ewigen Streitereien auf.“ Schluss-satz: „Andi hat viel Energie, er wird Drive in den Wahlkampf bringen.“
+
Traditionelle Trachtengruppen mit Marschmusik, temperamentvolle, bunt gewandete Trommelbands in Pluderhosen, kleine Heurigenzug-Garnituren für die Älteren, junge Weltverbesserer mit Protestschildern wie „Klassenkampf ist unsere Leitkultur“: Sie alle drängen sich an diesem 1. Mai, dem höchsten Feiertag der Sozialdemokratie, auf dem Wiener Rathausplatz, der deutlich besser gefüllt ist als in Vorjahren. Viele Genossinnen und Genossen sind neugierig auf die erste 1.-Mai-Rede Bablers. Und der liefert und donnert etwa in die Menge: „Sobald ich endlich dort drüben im Kanzleramt sitze, werde ich keine Ruhe geben, bis das letzte Kind aus der Armut herausgeholt ist.“ Dröhnender Applaus. Den Abschluss der 1.-Mai-Feier bildet traditionell das gemeinsame Absingen der „Internationalen“: Wiens Bürgermeister Michael Ludwig und das Gros der SPÖ-Granden auf der Bühne absolvieren das fast emotionslos, die Arme ruhig an der Hosennaht. Andreas Babler ist einer der wenigen, der zum Refrain „Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht“ energisch den Arm hebt und die Hand kämpferisch zur Faust ballt.
+
Ist Babler zu links? Verprellt er mögliche Wählerschichten, die Wirtschaft und Koalitionspartner? Muss die SPÖ mehr in die Mitte rücken? Diese Fragen beantworten etliche Genossen Querredner von Tirol bis zum Burgenland drei Mal eindeutig mit Ja und verlangen „mehr Pragmatismus“ vom Parteivorsitzenden. Das Merkwürdige dabei: Links ist vor allem Bablers Auftreten, inklusive Marxismus-Bekenntnis und Anekdoten aus linker Parteijugend. In Slim-fit-Maßanzügen sieht man ihn nicht, er betont seine Herkunft aus dem Arbeitermilieu und tritt als Gegenfigur zum dritten Weg und keinesfalls als „Genosse der Bosse“ auf. Damit wirkt er linker als manch Vorgänger und lässt, zumindest laut Umfragen, jegliche Anziehungskraft auf bürgerliche Klientel vermissen. Klassenkämpferische Punkte wie ein „Verbot von Privatjets“ finden sich nun im aktuellen roten Programm für die Europawahl, andere viel diskutierte Forderungen wie Vermögens- und Erbschaftssteuern erhoben allerdings schon SPÖ-Vorsitzende wie Werner Faymann, und bereits Pamela Rendi-Wagner trat für die 32-Stunden-Woche ein.
Das ändert nichts daran, dass selbst die eigene Partei mit dem Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich, einem von Bablers Kernprojekten, ziemlich lautstark fremdelt. Mario Leiter etwa ist seit vorigem Juni Chef der Vorarlberger SPÖ – nebenberuflich. Hauptberuflich werkt er als Polizist. Und summiert aus vielen Gesprächen mit Menschen: „Die 32-Stunden-Woche ist bei den Leuten kaum Thema. Wichtig ist etwas anderes: Wir müssen die Arbeitszeiten so regeln, dass es mit der Kinderbetreuung zusammengeht und die Arbeitsbelastung sinkt. Bei uns in Vorarlberg haben etliche Unternehmen die Vier-Tage-Woche eingeführt. Von Montag bis Donnerstag wird länger gearbeitet, dafür ist am Freitag meistens frei. Seither sanken die Krankenstände, und die Arbeitszufriedenheit stieg. Das ist für Branchen, in denen das geht, ein sehr guter Weg.“ Flammende Unterstützung für Bablers Kernthema Arbeitszeitverkürzung würde deutlich anders klingen.
Leiter ist keiner der üblichen roten Querredner. Er findet es gut, wenn die SPÖ „breit aufgestellt ist“: „Ich bin seit 40 Jahren Polizist und jetzt Politiker und strahle in die Mitte aus.“ Als wichtige Themen für die SPÖ nennt er die Teuerung, leistbares Wohnen – und eine eigene Medizin-Universität für Vorarlberg. Die Priorität ist klar: Leiter hat im Herbst Landtagswahlen zu schlagen, sein Ziel-1-Gebiet ist, die SPÖ Vorarlberg in die Landesregierung zu führen. Erst irgendwann danach auf der Wichtigkeits-Skala rangiert die Bundeswahl.
Diese Interessenlage ist in anderen Bundesländern ähnlich. In der Steiermark finden im Herbst 2024 Landtagswahlen statt, in Niederösterreich im Jänner 2025 Gemeinderatswahlen, im Winter 2025 will die SPÖ Burgenland ihre absolute Mehrheit bei Landtagswahlen verteidigen, spätestens im Herbst 2025 die SPÖ Wien ihre Vorherrschaft in Wien. Darauf konzentrieren sich die jeweiligen Landesparteien. Und schauen, quasi erste Reihe fußfrei, zu, wie das unerfahrene Team in der Bundes-SPÖ handwerkliche Fehler macht und wenig Boden gewinnt. Die laute öffentliche Kritik ist leiser geworden und einer gewissen Lethargie gewichen. Alle warten auf die Nationalratswahl – und vor allem auf die danach folgende Koalitionsbildung: Wird es Babler gelingen, die seit 2017 dauernde Oppositionszeit der SPÖ, die sie selbst als quälend empfindet, zu beenden und die SPÖ wieder in eine Regierung zu führen? Vor allem die Wiener SPÖ drängt auf eine Neuauflage der Zusammenarbeitet mit der ÖVP. In diese Position müsste die SPÖ aber erst kommen.
Die bisherigen Wahlergebnisse im Superwahljahr 2024 sind durchwachsen: In der Stadt Salzburg den Bürgermeistersessel von der ÖVP zurückgeholt, in Innsbruck (auf niedrigem Niveau) leicht dazugewonnen, aber auf den hinteren Rängen, meilenweit von der Entscheidung Stichwahl entfernt. Bei den Arbeiterkammer-Wahlen leichte Verluste eingefahren, aber Platz 1 verteidigt. Bei der Bürgermeisterwahl in Vösendorf trotz des umstrittenen ÖVP-Bürgermeisters Hannes Koza acht Prozentpunkte verloren.
Ein überzeugender Siegeszug schaut anders aus. Und mit linken Inhalten punktet die KPÖ in Salzburg und Innsbruck, mit der Bierpartei kommt zusätzliche Konkurrenz von links.
+
„Kann ich bitte ein Selfie?“, gefolgt von: „Dürfma ein Foto?“ Michael Häupl ist zwar seit sechs Jahren nicht mehr Wiener Bürgermeister, aber dennoch einer der Stars des Mai-Aufmarschs. Er steht vor dem Burgtheater und wird von Familien, weißhaarigen Omas und Jugendlichen umlagert und grinst sich von Foto zu Foto. Häupl, zu seinen aktiven Politiker-Zeiten ein wortgewandter Polterer, der bevorzugt gegen die Männer austeilte, die unter ihm Bundespartei-Chefs waren, gibt sich milde. Und sagt: „Noch hat die FPÖ nicht gewonnen. Der Andi Babler hat gezeigt, dass er die SPÖ begeistern kann. Jetzt muss er darüber hinauswirken und Wähler begeistern.“
+
15.500 neue Mitglieder sind unter Babler beigetreten, eine Eintrittswelle, wie sie die SPÖ seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. Auf den Wahllisten sind dennoch keine neuen Gesichter zu sehen, keine Quereinsteigerinnen, keine unkonventionellen Kandidaten. Die Parteigranden ließen den Parteichef mit seinem Wunsch nach Newcomern schlicht abblitzen: Für Paul Stich, Chef der sozialistischen Jugend, blieb nur ein wackeliges Mandat, Babler-Unterstützer und Querdenker Niki Kowall kämpft um Vorzugsstimmen, die Medizinerin Miriam Hufgard-Leitner, Mitglied von Bablers Expertenrat, steht auch weit hinten auf der Wahlliste, Muna Duzdar ebenso. Menschen mit Migrationshintergrund fehlen, Nonkonformisten ebenso. Damit schaut der SPÖ-Chef ziemlich schwach und die SPÖ reichlich altbacken aus und ist für Protestwähler wenig interessant – die Stimmen der Nonkonformisten sammelt eher Punkrocker Dominik Wlazny ein.
Ein strategisches Dilemma, das in der SPÖ für zunehmende Verunsicherung sorgt. Die Parteispitze hüpft von Thema zu Thema, vertieft keines wirklich, bleibt auf keiner Forderung so lange drauf, dass sie sickern könnte. Bei der wichtiger werdenden Frage Migration-Asyl brechen überhaupt alte Konflikte auf (siehe Seite 18). In ihrer Suche nach einem Wahlkampfheuler verfällt die SPÖ gar auf Forderungen, mit denen schon die ÖVP Schiffbruch erlitt – und verlangt neuerdings Recht auf Bargeld. Damit versuchte Kanzler Karl Nehammer das Sommerloch 2023 zu füllen, mit mäßigem Erfolg.
Roland Fürst ist Klubobmann der SPÖ-Burgenland und war vor einem Jahr eine Speerspitze des Doskozil-Lagers. Er ist nach wie vor überzeugt, dass die SPÖ mit Doskozil eine realistischere Chance auf Platz eins gehabt hätte, aber akzeptiert die neue Parteispitze. Und seufzt: „Es wird nach wie vor Nebenschauplätzen – die zwar wichtig sind – wie dem Thema LGBTQ zu viel Dominanz eingeräumt. Der SPÖ fehlt da und dort die Bereitschaft, selbstkritisch eigene Positionen zu hinterfragen, etwa bei der Migration. Hier ist sicher noch Luft nach oben.“
+
Andreas Babler kniet vor der Parteizentrale in der Wiener Löwelstraße auf dem Boden, umringt von Kindern, und versucht das Wort „Kinderrechte“ durch eine Schablone zu sprühen und auf den Boden zu bürsten. Alle sind mit Begeisterung bei der Sache und schrubben die Buchstaben auf den Asphalt. Beim dritten Versuch gelingt es, die Kinderfreunde und Babler posieren für ein Foto. Wenige Minuten später donnert ein Gewitter über die Stadt und wäscht den Schriftzug weg.