Herbert Kickls Wahlprogramm will Menschenrechte aufheben, fordert die Abschottung Österreichs und Meldestellen gegen linke Lehrer. Die Bundesverfassung möchte der FPÖ-Obmann tiefgreifend ändern.
Große Umbauten beginnen mit dem ersten Abriss. Sollte er Kanzler werden, sagt Herbert Kickl, würde er als erste Maßnahme wieder den alten Text der Bundeshymne einführen und die „großen Töchter“ streichen. Was danach käme, legt der FPÖ-Obmann nun im blauen Wahlprogramm mit dem Titel „Festung Österreich, Festung der Freiheit“ vor. Er werde, so Kickl im Geleitwort, „als Volkskanzler vom ersten Tag an alles tun, um den Österreichern ihre Freiheit zurückzugeben“. Welche Freiheit er meint, lässt sich auf 140 Seiten nachlesen.
Kickls Plan sieht neben Detail-Skurrilitäten wie „die Erhaltung des Gebrauchshundesports“ eine tiefgreifende Änderung der österreichischen Bundesverfassung vor. Auch Kickls Idol Jörg Haider entwarf derartige Konzepte, er plante eine „Dritte Republik“. Im Jahr 1994 veröffentlichte das Freiheitliche Bildungswerk eine Denkschrift mit dem Titel „Weil das Land sich ändern muss! Auf dem Weg in die Dritte Republik“. Autoren waren der Historiker Lothar Höbelt und der Rechtsprofessor und spätere Dritte Nationalratspräsident Wilhelm Brauneder. Wenige Monate nach der Veröffentlichung fand ein junger Mann aus Kärnten seinen ersten Job in der blauen Parteiakademie: Herbert Kickl.
In seinem Buch „Die Freiheit, die ich meine“ führte Haider das Konzept weiter aus. Sein Plan sah die Umgestaltung der repräsentativen Demokratie, einen starken Staatspräsidenten und den Ausbau von Referenden vor.
Jörg Haider träumte zeitlebens vom Kanzleramt, doch kam er ihm nie so nah wie sein Redenschreiber Kickl. Vier Wochen vor der Nationalratswahl am 29. September liegt die FPÖ in allen Umfragen voran. Wie ein „Volkskanzler“ Kickl das Land umbauen würde, wird im Wahlprogramm der FPÖ unter den Großkapiteln „Individualität“, „Souveränität“, „Homogenität“ und „Solidarität“ abgehandelt und vom freiheitlichen Obmann persönlich kommentiert. Es ist Kickls Anleitung zur – auch wenn er es nicht so nennt – Dritten Republik.
Das Misstrauen des Volkes
Per „Volksinitiative“ soll die Regierung jederzeit abgesetzt werden können. Es ist ein wenig ungewöhnlich, dass ausgerechnet die Partei, die in der kommenden Legislaturperiode den Kanzler stellen möchte, davon ausgeht, dass es dringend eines Gesetzes bedarf, um eine „unfähige Regierung“ oder „unfähige Regierungsmitglieder“ abwählen zu können. Genau das schlägt die FPÖ unter dem Titel „Direkte Demokratie ausbauen“ vor.
„Dem Volk sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, eine unfähige Regierung oder unfähige Regierungsmitglieder abzuberufen.“
FPÖ-Wahlprogramm
Wenn 250.000 Wahlberechtigte – etwa vier Prozent – einem einzelnen Regierungsmitglied oder der gesamten Regierung in einer „Volksinitiative“ das Misstrauen aussprechen, müsse darüber gemäß dem FPÖ-Vorschlag verpflichtend eine Volksabstimmung abgehalten werden. Stimmt dabei eine Mehrheit für diesen Misstrauensantrag, so ist das jeweilige Regierungsmitglied oder die Regierung abgesetzt. Eine solche Abwahlmöglichkeit mutet radikal an und würde eine (politisch höchst unwahrscheinliche) Verfassungsänderung erfordern – aber ist sie undemokratisch oder gar rechtsextrem?
In westlichen Demokratien existieren durchaus ein paar Vorbilder für diese Art von direktdemokratischem Misstrauensvotum. Das vielleicht bekannteste ist der „Recall“ im US-Bundesstaat Kalifornien. Dort kann jeder gewählte Repräsentant und jede Repräsentantin bis hinauf zum Gouverneur in einem Recall-Referendum das Amt verlieren. Tatsächlich mussten sich bereits zwei Gouverneure dieser Prozedur stellen. 2003 verlor der Demokrat Gray Davis die Abstimmung (sein Nachfolger wurde übrigens der Republikaner Arnold Schwarzenegger), und 2021 siegte der heute noch amtierende Demokrat Gavin Newsom.
Interessant ist, dass die Einführung der Recall-Bestimmung in der kalifornischen Verfassung im Jahr 1911 eine Initiative der „Progressiven Reformbewegung“ war, einer linken Gruppierung. Dahinter stand die Hoffnung, das Volk werde sich auf diese Weise dagegen zur Wehr setzen, dass das mächtige Monopolbahnunternehmen „Southern Pacific“ die Entscheidungen der Regierung diktierte.
Ironischerweise fand sich der FPÖ-Vorschlag auch in der Verfassung der Sowjetunion. Dort hieß es in Artikel 142: „Jeder Abgeordnete (…) kann jederzeit durch Mehrheitsbeschluss der Wähler, in dem durch das Gesetz festgesetzte Verfahren, abberufen werden.“ Angewandt wurde dieses Prozedere jedoch nie.
Das Besondere an dem FPÖ-Vorschlag besteht darin, dass eine Abwahl die gesamte Bundesregierung betreffen kann. Das bedeutet ein erhebliches Risiko der Instabilität. Dass sich vier Prozent der Stimmberechtigten mit der Regierung unzufrieden zeigen, scheint keine allzu große Hürde. Das darauffolgende Referendum erfordert jedoch viel Zeit und Geld. Zum Vergleich: Der Recall von Gavin Newsom begann mit der Petition im Februar 2020, und das Referendum fand unter Einhaltung aller Fristen im September 2021 statt – also mehr als eineinhalb Jahre später (wobei auch die Coronapandemie für etwas Verzögerung sorgte). In dieser Zeit musste Newsom praktisch einen Wahlkampf führen, um sein Amt zu behalten, was seine Arbeit als Gouverneur einigermaßen beeinträchtigte. Die Kosten des gesamten Prozesses für den Bundesstaat wurden mit rund 300 Millionen Dollar (268 Millionen Euro) beziffert. Newsom siegte mit über 61 Prozent der Stimmen.
Viel Zeit und Geld also, doch für die FPÖ überwiegt wohl dennoch der politische Nutzen. Das „Misstrauensvotum des Volkes“ passt perfekt in die Erzählung, wonach die Partei dem Volk mehr Macht gegenüber der Elite verschaffen würde. Wobei das Volk sich damit allerdings im Wesentlichen einen Dauerwahlkampf einhandeln würde.
Österreich muss befreit werden
EU, EZB, WHO, der Europäische Gerichtshof … Sie alle sind nach FPÖ-Lesart Feinde unserer Souveränität.
Wer dachte, dass Österreich ein freies Land sei, wird durch das Wahlprogramm der FPÖ eines Besseren belehrt. Tatsächlich befindet sich die Republik in „immer größeren Abhängigkeiten von internationalen Organisationen“, die die „Souveränität erheblich einschränken“. Diese Organisationen werden nicht alle genannt, nur ein paar werden hervorgehoben. „Allen voran die EU“ würde „mehr und mehr Kompetenzen ohne Not an sich reißen“.
„Sämtliche internationalen Abkommen sind auf souveränitätsbeschränkende Komponenten zu überprüfen und gegebenenfalls aufzukündigen.“
FPÖ-Wahlprogramm
Aus dem Kapitel „Souveränität“ des Wahlprogramms sprechen tiefes Misstrauen und offene Ablehnung gegenüber allen überstaatlichen Organisationen. Mit keinem Wort werden positive Leistungen der EU oder anderer internationaler Institutionen erwähnt – aus Sicht der FPÖ gibt es möglicherweise auch gar keine.
Dass ein Staat einen Teil seiner Souveränität abgibt, wenn er sich einem Bündnis wie der Europäischen Union anschließt, ist eine Binsenweisheit. Dass völkerrechtliche Verträge bestimmte Handlungen verlangen und andere ausschließen, ebenfalls. Und dass internationale Gerichte, denen sich Österreich unterwirft, Urteile fällen, an die sich die Republik zu halten hat, ist auch keine Neuerung. Aus all dem konstruiert die FPÖ das Bild eines gefesselten Staates Österreich, der politisch unfrei sei.
Tatsächlich ist Österreich aus freien Stücken – nach einer zu dieser Frage abgehaltenen Volksabstimmung – der Europäischen Union beigetreten. Die EU hat seither auch nicht „ohne Not mehr und mehr Kompetenzen an sich gerissen“, wie es im Wahlprogramm heißt, sondern jede Änderung in den Europäischen Verträgen wurde gemeinsam – mit der Stimme Österreichs – beschlossen. Die Vorwürfe, wonach der Europäische Gerichtshof (EuGH) „nicht demokratisch legitimiert“ sei und „die Grenzen der Gewaltenteilung“ überschreite, stehen ebenfalls auf tönernen Füßen, denn die Richter des EuGH werden von den Mitgliedstaaten bestellt (etwa auch von der ÖVP-FPÖ-Regierung 2018), und der Gerichtshof urteilt wie jedes Höchstgericht auf Basis der geltenden Gesetze.
Die FPÖ wittert hinter jeder internationalen Organisation Anschläge auf Österreichs Wohlergehen. So plane die Weltgesundheitsorganisation (WHO) „massive Eingriffe in die Grundrechte“, die supranationalen Gerichtshöfe seien zur „treibenden Kraft der gesellschaftspolitischen Zersetzung“ geworden. Noch nie hat eine potenzielle Kanzlerpartei in Österreich ein so negatives, feindseliges Bild der internationalen Institutionen gezeichnet.
Die Konsequenzen daraus sind nicht überraschend: Eine FPÖ-Regierung würde Kompetenzen, die an die EU übertragen wurden, „nötigenfalls“ wieder „zurückholen“. Allerdings können einmal an die EU übertragene Kompetenzen nur in einem gemeinsamen Beschluss aller EU-Mitglieder an die nationalen Parlamente transferiert werden. Einzige Alternative: ein Austritt aus der EU.
Im Weltbild der FPÖ werden Österreich von fremden Mächten Regeln auferlegt, gegen die es sich nicht wehren kann. Dass Österreich in all diesen Institutionen mitentscheidet, bleibt unerwähnt. Kickl möchte den Geist des Jahres 1848 wiederaufleben lassen, als die patriotischen Kräfte für die Freiheit der Nationen und der Bürger gekämpft haben. Bloß galt dieser Kampf damals monarchischer (Fremd-)Herrschaft, im Jahr 2024 hingegen gilt er Institutionen, an deren Gestaltung die demokratischen Repräsentanten Österreichs seit Jahrzehnten mitarbeiten.
Volksgemeinschaft statt Multikulti
Früher warnte die FPÖ bloß vor „Überfremdung“, nun will sie sie aktiv bekämpfen.
Im Februar 1993 lag das von Jörg Haider initiierte Volksbegehren „Österreich zuerst“ zur Unterzeichnung auf. Es sah unter anderem einen „Einwanderungsstopp bis zur befriedigenden Lösung der illegalen Ausländerfrage“ vor, eine eigene Grenzschutztruppe und eine Verfassungsbestimmung, wonach Österreich kein Einwanderungsland sei. Es fanden sich darin aber auch Punkte, die heute von fast allen Parteien gefordert werden wie die rasche Ausweisung und Aufenthaltsverbot für ausländische Straftäter; oder solche, die bereits Rechtslage sind, wie Vorbereitungsklassen für Schüler ohne Deutschkenntnisse. Es war schon damals der FPÖ-Kniff: rechtlich fragwürdige Forderungen mit durchaus diskussionswürdigen zu wattieren.
Von Haider bis Kickl – seit drei Jahrzehnten ist das weite Feld „Ausländer“ Hauptbestandteil der blauen Programmatik. Auch im aktuellen Wahlprogramm nehmen Migration und Asyl viel Platz ein, subsumiert unter dem Schlagwort „Homogenität“. Antithese zur Homogenität war in der FPÖ-Terminologie bisher die „Überfremdung“. Nun schreibt Kickl von der „Vielfalt“, die „vom politischen Mainstream glorifiziert werde“. Die Homogenität leide an der „Multikulti“-Gesellschaft. Daher müsse es das Ziel sein, „das Volk wieder zu einer möglichst homogenen Einheit zu machen, in der sich der Einzelne beschützt, bewahrt und aufgehoben fühlt“. Derartig nah an das historisch belastete Konzept der Volksgemeinschaft hat sich die FPÖ noch nie herangetastet.
„Wer durch Geringachtung unseres Landes und Volkes gegen diesen Einbürgerungsvertrag verstößt, kann seine erhaltene Staatsbürgerschaft auch nachträglich wieder verlieren.“
FPÖ-Wahlprogramm
Damit das Volk homogen bleibt, soll der Weg zur Staatsbürgerschaft Asylberechtigten versperrt sein. Und reguläre Einwanderer dürfen nur dann Österreicher werden, wenn sie sich assimilieren. Allerdings: „Bei Geringachtung unseres Landes und Volkes“ soll Migranten die Staatsbürgerschaft wieder entzogen werden. Und im schlimmsten Fall droht ihnen die „Remigration“, also die Rückführung in ihre Herkunftsländer. Die FPÖ-Abgeordnete Dagmar Belakowitsch sprach bei der Präsentation des FPÖ-Programms davon, auch Schüler abschieben zu wollen, wenn sie in den Klassenzimmern gewalttätig werden.
Die Mittel zur Homogenisierung der österreichischen Gesellschaft sind drastisch. So will die FPÖ das Recht auf Asyl, ein Menschenrecht, durch ein „Notgesetz aussetzen, solange Österreich überdurchschnittlich belastet ist“. Das österreichische Asylrecht basiert auf der Genfer Flüchtlingskonvention und der im Verfassungsrang stehenden Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Ein Gesetz, das das Asylrecht – wenn auch nur temporär – aussetzt, wäre also ein Bruch des Völkerrechts und der eigenen Verfassung. Um daran nicht mehr gebunden zu sein, müsste Österreich aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten. Allerdings wäre dann wohl auch der Austritt aus der EU zwingend, da diese sich in ihren Verträgen dazu verpflichtet, die Flüchtlingskonvention und die EMRK einzuhalten.
Aus Sicht der FPÖ ist die Homogenität Österreichs nicht nur durch Asylwerber und Migranten von außen bedroht, sondern auch von innen, nämlich durch „Regenbogenkult“, „Gender- und Woke-Wahnsinn“. Eine Gegenmaßnahme im FPÖ-Programm ist ein Genderverbot im öffentlichen Bereich, wie es in Niederösterreich von der ÖVP-FPÖ-Regierung schon umgesetzt wurde. Neu ist die blaue Forderung, Anglizismen zu vermeiden. Um die sprachliche Überfremdung hintanzuhalten, wendet sich die FPÖ ausgerechnet an einen ihrer Lieblingsgegner: den ORF. Es wäre „gerade die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dieser schleichenden Verdrängung unserer Sprache entgegenzuarbeiten“.
Einen weiteren Gefährder der heimischen Homogenität sieht die FPÖ im Verfassungsgerichtshof. Dieser beschied 2018 nach der Prüfung des Personenstandsgesetzes, dass am Meldezettel oder in Urkunden auch ein drittes Geschlecht eingetragen werden könne. Umsetzen musste dies der damalige Innenminister: Herbert Kickl. Unter einem Bundeskanzler Kickl soll damit Schluss sein. In ihrem Wahlprogramm fordert die FPÖ eine eigene Verfassungsbestimmung, in der die biologische Existenz zweier Geschlechter festgehalten wird.
Am meisten bedroht durch den „Woke-Wahnsinn“ sind in der Welt, wie sie Kickl sieht, Österreichs Schülerinnen und Schü- ler. Denn „immer häufiger“ würden Lehrer ihr Amt „für die politische Beeinflussung der Schüler, zumeist in Richtung des linken Mainstreams, missbrauchen“. Das FPÖ-Programm bietet eine Gegenmaßnahme. „Um die gebotene Neutralität im Unterricht zu gewährleisten“, soll „eine Meldestelle gegen politisierende Lehrer eingerichtet werden, die Verdachtsfälle eingehend untersuchen und notfalls Konsequenzen ziehen soll“.
Ein wichtiges Feindbild der FPÖ im Inneren bleiben die Künstler. Unter dem Schlagwort „Können fördern statt Staatskünstler subventionieren“ fordern die Blauen „die freie Weiterentwicklung unserer eigenen Kultur“ und den Schutz „unserer Muttersprache als wichtigstes kulturstiftendes Element“. Statt „woke Events“ wie die „Wiener Festwochen“ mit „Zwangsabgaben“ zu finanzieren, sollten mehr Förderungen an „heimische Musikverbände, Chöre und Musikkapellen“ fließen.
Oberster Wächter über die Homogenität in der Festung Österreich will Herbert Kickl sein, als „guter Familienvater“, wie er bei der Präsentation des Programms sagte, der garantiere, dass Österreich „eine Insel der Seligen, eine Insel der Glücklichen“ werde. Zuvor muss Kickl noch eine Hürde nehmen. Für die Umsetzung des Wahlprogramms bräuchte er in vielen Punkten eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, weil sie Verfassungsbestimmungen betreffen. Bis auf Weiteres bleibt Österreich also inhomogen.
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.