Ehemaliger Gesundheitsminister Rudolf Anschober
Interview

Anschober: „Kurz war damit beschäftigt, seine Macht zu vermessen“

Rudolf Anschober kritisiert die jetzige Corona-Politik scharf und zieht Bilanz über seine Regierungszeit.

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profil: Vor einem Jahr traten Sie angeschlagen zurück. Wie geht es Ihnen? 
Anschober: Sehr gut. Ich bin gesund, neuer Selbstständiger, von Buchhaltung bis IT für alles verantwortlich. Für mein Buch habe ich meine Zeit als Pandemie-Minister aufgearbeitet, das tat sehr gut.

profil: Hatten Sie je Corona?
Anschober: Nein. Ich zähle – gefühlt – zu den Letzten, die es nicht erwischt hat. 

profil: Hand aufs Herz: Wissen Sie, welche Corona-Regeln derzeit gelten? 
Anschober: Ich bin froh, dass Wien strengere Regeln hat. Die habe ich als Neo-Wiener intus. Aber ich kann nicht aufzählen, welche Maßnahme wo in Österreich gilt. 

profil: Erzeugt das Regelwirrwarr Chaos?
Anschober: Unsere Antworten auf eine globale Pandemie waren nationale oder sogar regionale. Das kleine Österreich hat einen Fleckerlteppich an Regelungen. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Bevölkerung das Vertrauen verliert. 

profil: Wo ging Vertrauen verloren? 
Anschober: Schrittweise. Wir haben gut begonnen, in enormem Tempo konsequent reagiert. Im Nachhinein denke ich mir: Hut ab, dass wir uns im März 2020 den ersten Lockdown getraut haben. 

profil: Es gibt derzeit 30.000 Neuinfektionen pro Tag – beim ersten Lockdown waren es 200. 
Anschober: Dafür Medikamente und die Impfung. Aber 30.000 Neuinfektionen sind kein Zustand, den man hinnehmen kann. Wir müssen massiv runter mit den Zahlen. 

profil: Anfang März wurden alle Corona-Maßnahmen beendet. War das ein Fehler? 
Anschober: Wir haben – das gilt auch für mich – immer den Fehler gemacht, zu schnell zu öffnen. Damit stiegen die Infektionen rasch wieder, und bald brauchte 
es eine Notbremse, die wirtschaftlich und gesellschaftlich wehtat. Ich bin meinen Nachfolgern dankbar, sie machen einen engagierten Job. Gesundheitsminister entscheiden nie allein, es braucht Konsens mit Koalition und Ländern. 

profil: Kostenlose Corona-Tests wurden eingeschränkt. War das richtig? 
Anschober: Das halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für nicht klug. Es ist verantwortungsvoll, sich zu testen, bevor man ins Theater, Gasthaus, zur Familie geht. Vorsicht und Verantwortung sollte man unterstützen, nicht beschränken, gerade weil Österreich bei Tests toll liegt.

profil: Die Tests kosten Millionen Euro. 
Anschober: Je früher wir es schaffen, die Pandemie zu kontrollieren, desto weniger Tests sind notwendig, desto geringer die Kosten. 

profil: Kaum jemand lässt sich derzeit impfen. War das Impfpflicht-Gezerre ein Fehler? 
Anschober: Der erste Fehler passierte früher: Wir haben uns auf die Besorgung von Impfstoff konzentriert. Und vernachlässigt, Zielgruppen über die Impfung zu informieren. In deutschsprachigen Staaten ist die Impfquote gering, auch weil starke rechte Parteien Feldzüge gegen die Impfung führen.

profil: Setzt die Regierung daher stillschweigend auf Durchseuchung?
Anschober: Durchseuchung kann keine Strategie sein. Europaweit herrscht Corona-Überdruss und Resignation in der Bevölkerung und in Teilen der Politik. Und es wurde Omikron unterschätzt, man hat es für mild wie eine Grippe gehalten.

profil: Das Resultat: Spitäler sind extrem belastet, auch wegen Krankenständen. 
Anschober: Im Gesundheitssystem arbeiten Menschen seit vielen Monaten weit über ihre Belastungsgrenze hinaus. Irgendwann geht die Kraft aus. Wir müssen in 
Bezahlung und in Arbeitssituation investieren – ähnlich intensiv wie beim Bundesheer.

„Ich wollte die Menschen nicht mit Befindlichkeiten belästigen. Aber es war heftig. Rückblickend hätte ich das Sozialministerium abgeben sollen.“

Rudolf Anschober

profil: Eine Gesundheits-Milliarde? 
Anschober: Wir werden viel Geld brauchen. Sonst kündigen viele, und zu wenige kommen nach. Schon jetzt müssen manche Pflegeabteilungen schließen. 

profil: Im dritten Corona-Jahr gibt es den dritten Kanzler und den dritten Gesundheitsminister. Laugt die Pandemie Politiker aus? 
Anschober: Die Krise geht ans Eingemachte. Das habe ich selbst erlebt: Ein großes Ressort, arbeitsintensiver Politikstil und die größte Gesundheitskrise seit 100 Jahren – das ist auf Dauer zu viel. 

profil: „Mir ist zum Schreien“, schreiben Sie in einem Tagebucheintrag. Warum haben Sie nicht geschrien? 
Anschober: Weil ich die Menschen nicht mit meinen Befindlichkeiten belästigen wollte. Aber es war heftig. Noch dazu ist das Sozial- und Gesundheitsministerium ein Riesenressort. Rückblickend hätte ich einen Teil des Ressorts abgeben sollen.

profil: Das Sozialministerium? 
Anschober: Ja. Das wäre mir schwergefallen, aber es wäre richtig gewesen.

profil: Ihr Nachfolger Wolfgang Mückstein war Arzt, dilettierte als Politiker. Sein Nachfolger Johannes Rauch galt als Profi und ist schon beschädigt.
Anschober: Johannes wurde in einer schwierigen Situation Minister, von 0 auf 150: Impfpflicht, Lockerungen. Der Johannes ist Politprofi, der wird das gut machen und eine Strategie für den Herbst erarbeiten. Die Neuinfektionen müssen sinken, am besten auf eine vierstellige Zahl.

profil: Wäre statt dem Arzt Mückstein ein Politiker besser gewesen?
Anschober: Soll man Ministerien mit Fachleuten besetzen – oder mit Menschen, die politisches Handwerk gelernt haben? Für beide Varianten spricht etwas. Mücke hatte einen anderen Zugang. Es kann ein Vorteil sein, dass man nicht Polit-Muster automatisiert hat.

profil: Es verleitete Landeshauptleute, mit Mückstein Schlitten zu fahren.
Anschober: Die Pandemie ist nicht der Platz für Parteipolitik. In Österreich passierte das, das war ein großer Fehler. Auch deshalb stehen andere Länder besser da.

profil: Sie schreiben im Buch vom Anfang der Pandemie: „Kurz ist besorgt. Ich finde das sympathisch. Habe ich mich mit meiner Skepsis gegen eine Koalition getäuscht?“ Warum waren Sie skeptisch? 
Anschober: Ich hatte schon als Landesrat Begegnungen mit Sebastian Kurz zum Thema Integration, da liegen ÖVP und Grüne weit auseinander. Dennoch funktionierte die Koalition zu Beginn der Pandemie gut.

profil: Ab Sommer 2020 nicht mehr. Sie schreiben, dass Sie stolz auf das Ampel-System waren – aber wenig Unterstützung von Landeshauptleuten und Kanzler bekamen.
Anschober: Die Ampel funktionierte als Analysetool sehr gut – leider folgten nicht automatisch Maßnahmen bei erhöhten Risikostufen. So konnten Landeshauptleute, etwa der Oberösterreichs, auf stur schalten und Maßnahmen verzögern. Manchmal habe ich überlegt, ob ich öffentlich gegen das Nein von Landeshauptleuten protestieren soll. Aber Streitereien hätten die Menschen verunsichert.

profil: Haben Sie zu viel schöngeredet? 
Anschober: Nein. Ich habe unter hohem Tempo hart verhandelt. In einer Krisensituation muss Politik die Richtung vorgeben und Hoffnung vermitteln – gemeinsam. 

profil: Gemeinsam funktionierte wenig, Sie beschreiben Kurz so: „Kommt Kritik, duckt sich Kurz weg. Es wirkt, als wäre er getrieben von Umfragedaten. Ich fühle mich alleingelassen. Es ist zum Verzweifeln.“
Anschober: Es herrschte enormer Zeitdruck, man brauchte Einigkeit, auch mit den Ländern. Dass es da zeitweise zu Bröseln kam, darf niemand wundern.

profil: Sie schreiben im Tagebucheintrag im Winter 2021: „Mit Populismus können wir die Pandemie nicht stoppen. Ich kann über die Rolle des Kanzlers nur rätseln.“ Was war seine Rolle? 
Anschober: Ich stelle im Buch Fragen, die mir damals durch den Kopf gingen: Hatte Kurz eine eigene Position? Setzten ihn die ÖVP-Landeshauptleute, die Öffnungen forderten, unter Druck? Oder die Wirtschaft? Oder schob er sie vor? Ich weiß bis heute nicht, welche Spielchen das waren. 

profil: Sie beschreiben als Tiefpunkt die Pressekonferenz von März 2021, in der Kurz den „EU-Impfstoffbazar“ der EU kritisierte und später den russischen Impfstoff Sputnik bestellen wollte. 
Anschober: Ich nenne das eine „abenteuerliche Pressekonferenz“ – noch dazu lag ich im Spital. Klar ist: Mit populistischen Manövern kommt man in einer Pandemie nicht weiter. Die Bilanz Ende 2021 zeigt: Österreich war gut mit Impfstoff versorgt. 

profil: Acht Monate nach Ihnen trat Kurz zurück. Sie schreiben: „Er hat vieles, zu vieles der eigenen Karriere untergeordnet und dabei viele, vielleicht zu viele Grenzen überschritten.“ Klingt nicht, als hätte Sie der Rücktritt überrascht. 
Anschober: Nein, ich war nicht überrascht. Mit den Chats wurde der Widerspruch zwischen der versprochenen „neuen Kultur“ und der Realität offensichtlich. Ob strafrechtliche Grenzen überschritten wurden, klärt die Justiz. Schon jetzt ist klar, das beschreibe ich: Kurz ließ ungewöhnlich oft von Umfragen die Stimmung ausleuchten und war damit beschäftigt, seine Macht zu vermessen. 

profil: Haben Sie Kurz wieder getroffen?
Anschober: Ich hatte seit meinem Rücktritt im April 2021 kein Gespräch mit ihm. Es ist ja nicht wichtig, ob wir noch Freunde werden. Ich habe Kurz auf unterschiedlichste Art erlebt. In manchen Phasen hatte er hervorragenden Instinkt und agierte mutig. In anderen Phasen schielte er auf Umfragen und agierte populistisch. In einer Pandemie muss man auch in unangenehmen Situationen Linie halten. Kurz spielte dafür oft Doppelpass mit „Österreich“.

profil: Klingt, als wären Sie auf das Fellner-Medium sauer. 
Anschober: Mit „Österreich“ habe ich keinen Kontakt. Ich bin in der erfreulichen Situation, auf niemand mehr angewiesen zu sein. Und habe ein Ziel: dass wir aus Fehlern im Pandemie-Management lernen.

profil: Sie schreiben, Föderalismus sei „hinderlich, auch wegen erhöhter Populismus-Gefahr“.
Anschober: Im Idealfall hätte die EU bei Gesundheitskrisen Kompetenzen. Kurzfristig sollte man eine EU-Strategie für den Herbst festzurren. Da kann es grimmig werden. Da brauchen wir weniger Klein-Klein und mehr Bund und Europa.

profil: Was bedeutet das für Österreichs Föderalismus?
Anschober: Manche Bundesländer arbeiten ausgezeichnet, etwa beim Contact-Tracing und Testen. Andere schaffen das auch nach zwei Jahren nicht. Das sind klassische Aufgaben für Länder. Aber die strategische Grundsatzentscheidung, welche Corona-Maßnahmen gelten, muss zentral fallen.

profil: Corona ist also keineswegs vorbei? 
Anschober: Ich fürchte, Covid wird uns noch viele Überraschungen liefern. Im Sommer wird es Infektionen geben, im Herbst drohen neue Wellen. Daher muss erste Priorität die Maske sein. Die tun niemand weh. Zweite Priorität ist die Impfung. Wir brauchen eine Impfquote von 90 Prozent. 

profil: Davon ist Österreich mit einer Impfquote von 70 Prozent weit entfernt.
Anschober: Dagegen helfen Kampagnen und Dialogveranstaltungen, besonders in Gemeinden mit niedrigen Impfquoten. So einen Österreich-Dialog zur Impfung, das bräuchten wir jetzt. Militante Impfgegner kann man damit nicht überzeugen – aber die 20 Prozent an Verunsicherten.

profil: Braucht es für den Rest die Impfpflicht?
Anschober: Wenn wir mit einer Informationsoffensive nicht erfolgreich sind, muss man den Weg gehen. 

profil: Sie sagen, der wichtigste Wirkstoff gegen die Pandemie ist Vertrauen. Das wurde verspielt. Ist es wiedergewinnbar?
Anschober: Vertrauen ist eine erneuerbare Ressource. Die Voraussetzung dafür ist Ehrlichkeit und Transparenz. Ehrlichkeit heißt, auf die Leute zuzugehen und ihre vielen Fragen zu beantworten.

profil: Zu derartigen Kraftanstrengungen scheint Türkis-Grün  nicht in der Lage zu sein. Hat die Koalition Zukunft?
Anschober: Mit Kanzler Karl Nehammer läuft es besser. Schon in den Regierungsverhandlungen „durften“ Karl und ich die umstrittensten Kapitel verhandeln: Migration, Asyl, Sicherheit. Trotz schwierigster Verhandlungen ist persönlicher Respekt entstanden, er hat Handschlagqualität. Mit Nehammer sind die Chancen deutlich gestiegen, dass die Koalition bis Ende der Legislaturperiode arbeitet.

profil: Wir erleben eine Fluchtwelle wie 2015 – und eine Welle der Solidarität. Wird das anhalten oder die ÖVP auf Law and Order umstellen?
Anschober: Entscheidend wird sein, ob der Zugang der ukrainischen Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt und damit zur Integration funktioniert. Aber die Chancen sind groß, wenn die Politik die großen Herzen der Österreicher unterstützt. Ein großer Unterschied: Im Jahr 2015 wussten breite Bevölkerungsschichten wenig über den Zerstörungskrieg in Syrien, heute sehen wir 
täglich Bilder des Angriffskrieges vor unserer Haustür.

profil: Schlussfrage zu Ihrer Zukunft: Sie sind 61, reizt Sie eine Rückkehr in die Politik? 
Anschober: Nein. Mein Ausscheiden aus der Bundesregierung war auch das Ende meiner parteipolitischen Karriere. 

profil: Das Amt des Bundespräsidenten gehört nicht zur Parteipolitik. Nach einer etwaigen zweiten Amtszeit von Alexander Van der Bellen wären Sie 67 Jahre alt – für einen Bundespräsidenten ein junger Hupfer.
Anschober: Ich habe viel in Politik investiert, war erfolgreich. Es hat mir große Freude bereitet, aber ich strebe keine Funktionen mehr an. Aber wer weiß schon, was das Leben in den nächsten Jahren bringt?

Zwei Monate nach seinem Amtsantritt, im März 2020, erreichte die Corona-Pandemie erste Höhepunkte. Ein Jahr nach seinem Rücktritt als Gesundheits- und Sozialminister im April 2021 schildert Rudolf Anschober in seinem Buch „Pandemia“ die  Herausforderungen durch die Pandemie: für eine  Ärztin, eine Patientin, eine Forscherin, eine Buchhändlerin. Und für ihn.  Er schreibt Tagebuchnotizen über das Ringen mit Bundeskanzler, Bürokratie und Ländern.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin