Antisemitismus: Erstmals mehr Vorfälle von links als von rechts
Im ersten Halbjahr 2024 wurden 808 antisemitische Vorfälle bei der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) gemeldet – mehr als doppelt so viele wie im selben Zeitraum des Vorjahres, als 311 Meldungen registriert wurden. Seit dem 7. Oktober 2023 stieg die Anzahl der gemeldeten Vorfälle auf das Dreifache im Vergleich zu den Vormonaten. An jenem Tag attackierten Hamas-Terroristen Israel und verschleppten Geisel; Und Israel reagierte mit einer bis heute andauernden Militäroffensive im Gazastreifen. Dabei weist der Bericht der IKG ausdrücklich darauf hin, dass diese Zahl nur die gemeldeten Vorfälle umfasst; die Dunkelziffer dürfte erheblich höher sein.
„2024 waren Jüdinnen und Juden einem seit dem 7. Oktober 2023 enthemmten Antisemitismus ausgesetzt”, sagt Benjamin Nägele, Generalsekretär und Leiter der Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde, gegenüber profil. „Wir sehen uns mit einer leider weiterhin bedrohlichen und bedrückenden Situation konfrontiert.”
Neu ist: Der Antisemitismus verbreitet sich nun auch vermehrt in linken Kreisen. Laut Halbjahresbericht von 2024 kommen erstmals doppelt so viele Vorfälle von linksmotivierten Täter:innen wie von rechten.
Antisemitismus von links
27 Prozent (225 Vorfälle) gehen auf linker Täter zurück, während 14 Prozent (116 Vorfälle) aus dem rechten Spektrum stammen. Der größte Teil der Übergriffe kam jedoch von muslimischen Tätern, mit 255 Vorfällen knapp hinter den linken Angreifern. Weitere 212 Meldungen konnten keiner Gruppe zugeordnet werden.
Noch 2023 sah das Bild anders aus: 34 Prozent der gemeldeten Vorfälle kamen von rechts, 18 Prozent von links und 25 Prozent von muslimischen Tätern.
Erscheinungsformen von Antisemitismus
Die Dokumentation für 2024 ist in fünf Vorfall-Kategorien unterteilt: Angriffe (16), Bedrohungen (22), Sachbeschädigungen (92), Massenzuschriften (401) und Verletzendes Verhalten (277).
2024 sind Massenzuschriften erstmals die größte Vorfall-Kategorie mit insgesamt 401 Fällen. Hierbei handelt es sich um schriftliche antisemitische Inhalte, die an mindestens zwei Adressat:innen gerichtet sind. Dazu gehören Publikationen (online, offline, etwa Zeitungen, Blogs, Magazine) oder Briefe, Emails und Social-Media-Postings.
Eine E-Mail von vielen, die im Postfach der IKG einging: „Sieg Heil Ihr Juden-Loser!!! Das schöne Hakenkreuz-Symbol steht für Freiheit, ist ein Symbol unserer ursprünglichen Kultur und Heimat. Niemand wird uns mehr verbieten, dieses Symbol einzusetzen, sowie wird bald wieder die schöne Fahne in Schwarz, Weiß und Rot mit dem schönen Hakenkreuz Symbol im Wind wehen.”
Während diese Mail eindeutig von einem neonazistischen Absender stammte, kamen die meisten hasserfüllten Massennachrichten von Menschen mit muslimischen Hintergrund. Sie machen mit 168 Fällen die Mehrzahl aus, gefolgt von den Linken mit 138 Fällen, 53 der Rechten und 42, die nicht eindeutig zuordenbar sind.
Die 277 Fälle von „verletzendem Verhalten” sind im Wesentlichen antisemitische Beleidigungen, Äußerungen, Kommentare und Botschaften. Hier ist die Gruppe von nicht zuordenbaren Fällen mit 109 in der Mehrzahl, 64 sind links motiviert, 60 von Menschen mit muslimischen Hintergrund und 44 waren aus rechten Milieus.
Bedrohungen und Angriffe kommen von Personen mit muslimischem Hintergrund am häufigsten vor. Bei der Sachbeschädigung ist die nicht zuordenbare Gruppe mit 47 Vorfällen am stärksten, dann folgen die Linken mit 22 Fällen, 16 kamen von den Rechten und sieben von muslimischen Personen.
Untätigkeit kann man der scheidenden türkis-grünen Bundesregierung zwar nicht vorwerfen: Bereits vor drei Jahren stellte Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) ein Maßnahmenpaket gegen Antisemitismus vor, die meisten Punkte darin wurden bereits umgesetzt, etwa eine Novelle des Verbotsgesetzes, ein Gesetz gegen Hass im Netz, eine Abteilung zur Förderung dieses Kulturerbes und zur Antisemitismusbekämpfung eingerichtet. Den gewünschten Effekt hat die Offensive gegen den Hass aber noch nicht erzielt. Wohl auch, weil die Ereignisse ab dem 7. Oktober den Diskurs stark polarisiert haben.
Antisemitismus dürfe nicht normalisiert werden
„Keinesfalls darf passieren, dass man sich an den grassierenden Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen gewöhnt, egal aus welcher ideologischen Ecke er kommt“, betont Generalsekretär Benjamin Nägele. Sein Appell richtet sich an alle politischen Akteure: „Dazu gehört auch, dass sich politisch motivierte Akteure nicht nur mit dem Antisemitismus der anderen beschäftigen, sondern im eigenen weltanschaulichen Lager entschlossen Verantwortung übernehmen und aktiv werden.“