Arbeitsmarkt: Österreich leidet unter der Zuwanderung aus Osteuropa
Rumänien hat etwa 20 Millionen Einwohner, Bulgarien etwas mehr als sieben Millionen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf liegt in beiden Ländern deutlich unter 7000 Euro. Die zwei Hauptstädte, Bukarest und Sofia, sind von Wien jeweils etwa 1000 Kilometer entfernt. Österreich hat 8,5 Millionen Einwohner, und ein durchschnittlicher Arbeitnehmer verdient hier 35.000 Euro brutto im Jahr.
Kann aus diesen Fakten eventuell ein Problem werden? Könnte es sein, dass relativ viele Rumänen und Bulgaren nach Österreich kommen, um hier zu arbeiten und fünfmal so viel zu verdienen wie daheim? Ist die Kombination aus geografischer Nähe und erheblichem Wohlstandsgefälle ein starker Anreiz? Dreimal nein, keine Sorge: Höchstens 5500 Rumänen und Bulgaren pro Jahr hätten eine Übersiedelung nach Österreich im Sinn, beruhigten Sozial- und Wirtschaftsministerium im Spätherbst 2013. Die Politik berief sich dabei auf eine gemeinsame Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) und des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Die Arbeitslosigkeit in Österreich werde durch den Zuzug nur um 0,03 Prozent wachsen, prognostizierten die Experten damals detailverliebt.
Etwas mehr als zwei Jahre später hätte man als Steuerzahler gerne das Geld zurück, das diese Studie gekostet hat. Denn natürlich kamen wesentlich mehr Menschen. Zwei Jahre nach der Öffnung des heimischen Arbeitsmarktes für die letzten zwei Beitrittsländer in Osteuropa sind fast 50.000 Rumänen und Bulgaren in Österreich beschäftigt, weitere 7500 scheinen in der Arbeitslosenstatistik auf. Auch der Zuzug aus anderen osteuropäischen EU-Staaten bleibt hoch. Zuletzt waren mehr als 230.000 Bürger aus den neuen Mitgliedsländern in Österreich beschäftigt. Das sind doppelt so viele wie vor fünf Jahren.
Es galt lange als Tabu, den Zustrom aus Osteuropa kritisch zu beleuchten.
Über 130.000 weitere sind zwar bei Unternehmen jenseits der Grenze angestellt, werden aber nach Österreich entsendet und arbeiten hier. Auch diese Zahl stieg zuletzt stark. Es galt lange als Tabu, den Zustrom aus Osteuropa kritisch zu beleuchten. Zu laut hat die FPÖ gegen die Osterweiterung polemisiert. Politisch gemäßigte Kräfte wollten dabei nicht auch noch mitmachen. Werner Muhm, Direktor der Arbeiterkammer Wien und Berater des Bundeskanzlers, hat mit dieser noblen Zurückhaltung nun ordentlich aufgeräumt. In der „Kronen Zeitung“ bezeichnete er die hohe Arbeitslosigkeit in Österreich als „in hohem Maße importiert“ und sprach sich dafür aus, die Personenfreizügigkeit zu befristen oder einzuschränken. Im profil-Interview legt Muhm nach und spricht von einem „Angebotsschock bei den Arbeitskräften, den wir auch mit der besten wirtschaftlichen Dynamik nicht bewältigen werden“.
Sehr viel Zustimmung bekam Muhm für seinen Vorstoß nicht. Lediglich der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl pflichtete ihm öffentlich bei. ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner sprach herablassend von einer „Phantomdebatte“. Doch selbst wenn die komplette Regierung Muhms Meinung wäre, würde das nicht viel nützen. Die Personenfreizügigkeit gehört zu den Grundpfeilern der EU. Österreichs Chancen, an diesem Regelwerk etwas zu verändern, sind – freundlich formuliert – bescheiden.
Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Details des Problems. Vielleicht kann man ja für die Zukunft etwas lernen; das Projekt Osterweiterung ist bekanntlich nicht abgeschlossen. Außerdem wird derzeit unter dem Eindruck des drohenden Austritts von Großbritannien diskutiert, welche Sozialleistungen es für EU-Bürger in anderen Ländern geben soll. Im Raum steht etwa eine Reduktion der Familienbeihilfe für Kinder, die im Herkunftsland des Arbeitnehmers leben. Auch das wäre ein Henkel, um die Attraktivität Österreichs ein wenig zu senken.
Von insgesamt 4,2 Millionen Erwerbstätigen hatten zuletzt 615.000 keinen österreichischen Pass.
Laut Prognosen des Arbeitsmarktservice (AMS) werden bis 2019 rund 212.000 zusätzliche Arbeitskräfte auf den Markt kommen, 80 Prozent davon aus dem Ausland. Im gleichen Zeitraum werde es aber nur 132.000 neue Stellen geben. Die große Zahl an Flüchtlingen ist in dieser Vorschau übrigens noch nicht berücksichtigt.
Von insgesamt 4,2 Millionen Erwerbstätigen hatten zuletzt 615.000 keinen österreichischen Pass. Das ist ein Anteil von 15 Prozent und ein Spitzenwert innerhalb Europas. Die größte Gruppe stellen deutsche Staatsbürger, an zweiter Stelle rangieren die Ungarn, auf Platz sechs finden sich bereits die Rumänen. Im Jahresdurchschnitt 2015 erhöhte sich die Zahl der Ungarn in Österreich um fast zehn Prozent, jene der Rumänen um über 17 Prozent.
Geografische Besonderheiten führen mitunter zu seltsamen Ergebnissen in der Statistik: So kommen etwa die Ungarn in Österreich auf eine Erwerbsquote von über 100 Prozent. Das liegt daran, dass viele im Land Beschäftigte gar nicht hier wohnen, sondern einpendeln. Für sie ist der reiche Nachbar besonders attraktiv: Wer zu ungarischen Preisen wohnt und nach österreichischem Kollektivvertrag bezahlt wird, hat es im Leben gut getroffen.
Ende Jänner erreichte die Arbeitslosenrate in Österreich mit fast 500.000 Betroffenen einen neuen Höchststand. Fast ein Viertel, exakt 119.088 Menschen, stammen aus dem Ausland. Populisten tun gerne so, als könne man all diese Zahlen einfach gegenrechnen: 615.000 ausländische Beschäftigte weniger – und Österreich hätte nicht nur keine Arbeitslosen, sondern sogar einen dringenden Bedarf an Arbeitskräften. Diese Rechnung ist natürlich Humbug. Tatsächlich wären manche Branchen ohne Zuwanderung schon seit Jahren nicht mehr lebensfähig. Bei der 24-Stunden-Pflege etwa verlässt sich Österreich praktisch komplett auf Osteuropa. Auch in der Gastronomie, am Bau und in der Landwirtschaft würde kaum mehr etwas funktionieren, wenn Unternehmer ausschließlich auf einheimisches Personal angewiesen wären.
Wir werden den Tag erleben, an dem die Arbeitslosigkeit der Österreicher nicht mehr steigt, jene der Ausländer aber sehr wohl. (Johannes Kopf, AMS-Chef)
Johannes Kopf, Chef des österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS), hält Muhms Kritik deshalb für sinnlos: „Natürlich kann ich der Meinung sein, dass zu viele Arbeitskräfte auf dem Markt sind. Aber wir sind nun einmal Teil der EU. Und insgesamt hat der österreichische Standort von der Arbeitsmigration profitiert.“ Entgegen mancher Propaganda würden die Osteuropäer auch nicht vorrangig den Österreichern die Jobs wegnehmen, sagt Kopf. Es sei vielmehr so, dass gut ausgebildete, junge Zuwanderer den älteren, weniger gut qualifizierten Kollegen Konkurrenz machten. „Wir werden den Tag erleben, an dem die Arbeitslosigkeit der Österreicher nicht mehr steigt, jene der Ausländer aber sehr wohl.“ Für die Volkswirtschaft ist das allerdings egal. Jeder Arbeitslose kostet Geld.
Marcus Scheiblecker, stellvertretender Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), gibt Werner Muhm grundsätzlich Recht: „Der österreichische Arbeitsmarkt ist von der Osterweiterung sicher am stärksten betroffen“, meint er. Deutschland habe in Form der wirtschaftlich schwachen neuen Bundesländer eine Art Pufferzone. In Österreich dagegen liegen die größten Ballungsräume in direkter Nachbarschaft zur osteuropäischen Konkurrenz. „Der Verdrängungsprozess auf dem heimischen Arbeitsmarkt führt bereits zu einem Druck auf das Lohnniveau.“ Zwar müssten auch ausländische Mitarbeiter nach heimischem Kollektivvertrag bezahlt werden. Aber gelegentlich werde dabei wohl getrickst. Außerdem führe das große Angebot dazu, dass es KV-Überzahlungen in den meisten Branchen nicht mehr gebe. „Dafür steigen die Löhne in einigen Ländern Osteuropas seit ein paar Jahren überdurchschnittlich“, sagt Scheiblecker. „Wenn man so will, ist das auch eine Art Entwicklungshilfe, die Österreich hier leistet. Vielleicht müssten wir da ein bisschen europäischer denken.“
Vor allem die SPÖ ist daher gut beraten, sich etwas einfallen zu lassen.
Von einem österreichischen Arbeitslosen ist das aber wohl zu viel verlangt. Ein erheblicher Teil der FPÖ-Wahlerfolge dürfte mehr mit dem Verdrängungsprozess auf dem Arbeitsmarkt zu tun haben als mit genuinem Fremdenhass. Ähnliches ist auch international zu beobachten: „Hinter einem Großteil des Widerstands gegen neue Immigranten steckt ein Verteilungskonflikt“, schreibt der niederländische Soziologe Paul Scheffer in seinem aktuellen Buch „Die Eingewanderten“. Es sei unübersehbar, dass gerade am unteren Rand des Arbeitsmarktes Konkurrenz herrsche.
Vor allem die SPÖ ist daher gut beraten, sich etwas einfallen zu lassen. Auch wenn sich an der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU nichts ändern lässt: Selbst bloßer Aktionismus ist wahrscheinlich besser als das Totschweigen des Problems. Sozialminister Alois Stöger hat jüngst ein Vier-Punkte-Programm vorgestellt, auf dessen Basis die sogenannte Entsenderichtlinie geändert werden soll. Beim nächsten EU-Sozialministerrat will Stöger diesen Plan präsentieren.
Die Entsenderichtlinie regelt den grenzüberschreitenden Arbeitseinsatz – also die Bedingungen, unter denen, als Beispiel, Beschäftigte eines slowakischen Unternehmens in Österreich arbeiten dürfen. Unterschiedliche Auffassungen gibt es zwischen Brüssel und Wien etwa, was die Höhe der Entlohnung, die Dauer der Entsendung und die Bemessungsgrundlage bei der Sozialversicherung angeht. „Lohn- und Sozialdumping werden wir nicht zulassen“, sagt Stöger. Besonders wichtig sind ihm deshalb verstärkte Kontrollen der grenzüberschreitend tätigen Unternehmen. „Außerdem wollen wir einen größeren Spielraum für die nationale Politik bei der Auslegung dieser Richtlinie.“ Eine Reduzierung der Sozialleistungen für EU-Zuwanderer lehnt Stöger ab. Er würde lieber mehr in die Infrastruktur investieren und damit die Arbeitslosigkeit bekämpfen: „Leider wird das durch die Politik der EU verhindert.“
Allerdings müsste sehr viel gebaut werden, um die Lage zu verbessern. „Beim aktuellen Arbeitskräfteangebot bräuchten wir 3,5 Prozent Wachstum“, sagt AMS-Chef Kopf. Und selbst das würde nicht reichen. „Wenn wir so ein Wachstum hätten, kämen noch mehr Zuwanderer.