Arbeitsplatz Hofburg
Alle Augenblicke streckt der Polizist seinen Arm in die eine oder andere Richtung. So weist er Touristen, die zwischen Sisi Museum, Burgkapelle und dem Erzherzog-Karl-Reiterdenkmal die Orientierung verlieren, auf ihren Flanierpfad zurück. Fiaker und Sightseeing-Busse drehen ihre Runden. Werktätige hasten telefonierend durch die Palastanlage, ohne Blick für Denkmäler und Höfe. Nichts deutet darauf hin, dass in der „Hofburg zu Wien“, dem Amtssitz des Österreichischen Bundespräsidenten, eben ein neues Kapitel der Politik aufgeschlagen wird. Was ist die Wahl eines auf sechs Jahre gekürten Staatsoberhaupts gegen den langen Atem der Geschichte? 700 Jahre war die Hofburg Residenz der Habsburger in Wien. Was bedeutet es, wenn die Räumlichkeiten des höchsten staatlichen Repräsentanten Teil eines Weltkulturerbes sind?
Markus Wimmer, Stellvertreter des Burghauptmanns, residiert im Schweizertrakt, dem ältesten Teil der Hofburg. Morgens kann er durch das Bürofenster den Bereitern der Spanischen Hofreitschule zusehen. Seinen Besprechungstisch entwarf einst ein berühmter Hofarchitekt für Kronprinz Rudolf. An der Wand hängt eine Luftaufnahme der Wiener Hofburg. Sie ist eine von 65 historischen Anlagen unter der Obhut der Burghauptmannschaft, erstreckt sich von der Albertina zum Löweltor und vom Äußeren Burgtor bis zum Michaelerplatz, und gilt als größtes profanes Bauwerk Europas. In Quadratmetern: 500.000. In Zimmern: rund 2600. In Wimmers Worten: „Das Herzstück der Monarchie.“
Die 130 Mitarbeiter der Burghauptmannschaft arbeiten jeden Tag daran, ihr kulturelles Erbe zu erhalten. 50 Millionen Euro stehen dafür jährlich zur Verfügung. Etwa die Hälfte der Mitarbeiter werkt auf Baustellen von historischem Belang, der Rest verwaltet die 440 Einzelgebäude. Durchmisst Wimmer öffentlich zugängliche Areale der Hofburg, erschaudert er mitunter. Skateboarder brettern über die Kanten restaurierter Steinpodeste, Touristen breiten fettiges Take-away-Essen auf weißen Marmorsockeln aus. Denkmäler werden beklettert und beschmiert. Allein die Beseitigung der Spuren von Hunde-Urin gehen jedes Jahr in die Tausende Euro. Setzt Wimmer zu ehrfurchtgebietenden geschichtlichen Exkursen an, kann es passieren, dass er sich ein „Was willst, Oida?“ einhandelt. Die Pandemie machte es nicht besser. An manchen Wochenenden summierten sich die Schäden durch Müll, herausgerissene Bänke, Graffiti und abgeschlagene Teile von Statuen auf 10.000 Euro. Die Staatsoberhäupter der Republik residieren seit Karl Renner (1945 bis 1950) im Leopoldinischen Trakt. Die Präsidentschaftskanzlei liegt im ersten Stock. Selbst Vertreter der Burghauptmannschaft wie Wimmer, zu deren obersten beruflichen Sorgen die baulichen Hinfälligkeiten der historischen Gemächer zählen, platzen hier nicht einfach hinein. Im einstigen Schlafgemach Maria Theresias werden seit Jahrzehnten Regierungen angelobt, Würdenträger empfangen und Staatenlenker hofiert.
Einem goldgerahmten Gemälde zufolge sieht es fast genauso aus wie anno dazumal. Nur das kaiserliche Bett fehlt. Anfang 2017 bezog Alexander Van der Bellen nach langem Wahlkampf das Kulturdenkmal. Im Sommer, wenn die Amtsgeschäfte ein wenig ruhen, wuseln hier Gotik-, Barock- und Renaissanceforscher, Restauratorinnen, Bautechniker, Vergolderinnen, Kunstschmiede, Landschaftsplanerinnen und Meister selten gewordener und am freien Markt kaum noch überlebensfähiger Handwerkskünste herum. Sie alle halten die Hinterlassenschaft der Babenberger und Habsburger in Schuss. Den Brokatstoff der berühmtesten Tapetentür der Republik hat Wimmer besonders im Auge. Die Tür soll auf den TV-Bildern schließlich keinen verschmuddelten Eindruck hinterlassen. Dahinter liegt das Arbeitszimmer des Präsidenten.
Ständig treten neue historische Details zutage. Mit Überraschungen ist weiter zu rechnen.
Wimmer hegt ein Faible für überraschende Details und delikate Geheimnisse. In einer Wand versteckt sich ein kleiner Altar, mit dem Joseph II. den seinerzeitigen Papst zu beschwichtigen hoffte. In den unsichtbaren Gängen zwischen den Zimmerwänden huschten Beheizer herum, um die Kachelöfen von hinten zu befüllen. Der hohe Adel und die niederen Stände sollten sich tunlichst nicht über den Weg laufen. Es gibt ein Miniaturenkabinett, einen offenen Steinkamin und eine „Pietra dura“-Sammlung.
Mitunter kollidiert die überlieferte Pracht mit zeitgenössischen behördlichen Auflagen. Das Geländer der Adlerstiege, über die Generationen von Bundespräsidenten schritten, war im Lauf der Zeit wackelig geworden und an Tagen der offenen Türen schlicht gemeingefährlich. Es schrie nach „statischer Ertüchtigung“, wie Wimmer es bei einem Rundgang anlässlich einer profil-Reportage vor sechs Jahren – kurz bevor Van der Bellen ins Amt kam – formulierte. Außerdem musste das Geländer auf die vorgeschriebene Höhe von 1,10 Meter gehoben werden. Lange tüftelten Kunstschlosser, Statiker und Denkmalpfleger an einer Lösung, mit der am Ende alle zufrieden waren: Der samtbezogene Handlauf ruht seither auf Eisenkugeln.
Auch unterirdisch hat die Hofburg einiges zu bieten. Der Keller ragt drei Etagen ins Erdreich. Er beherbergt ein Keramikfass, in dem 73.150 Liter Weißwein lagerten. Daran labte sich der kaiserliche Hofstaat. Außerdem bewahrt die Burghauptmannschaft hier die Originalvorlagen aus Gips für die Skulpturen von Hofburg, Burgtheater und Ringstraßenbauten auf: Brahms, da Vinci, Cäsar, Cicero, Allegorien auf die Häuser Habsburg und Lothringen, Kaiser Franz Joseph in wallendem Ornat, neben einem Denkmal seiner Gemahlin Elisabeth und Herakles, der die Hydra erschlägt.
Kurz vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Hofburg vom geschäftstüchtigen Erfinder Thomas Alva Edison elektrifiziert worden. Reste der frühen Haustechnik blieben erhalten. Ein paar Gänge weiter ragen angeschimmelte Stromleitungen aus den 1960er-Jahren aus dem Mauerwerk. Am Rand des Leopoldinischen Trakts sind Teile der ehemaligen Befestigungsanlage zu sehen. Archäologen meinen hier eine Geschützstellung zur Verteidigung der alten Burg zu erkennen. Die Geschichte der Hofburg ist mittlerweile in fünf Bänden grundlegend aufgearbeitet. Und doch, so Wimmer, „treten ständig neue historische Details zutage. Mit Überraschungen ist weiter zu rechnen.“
Seit 16 Jahren sorgt der gelernte Betriebswirt als Burghauptmann-Vize für Renovierungen und Instandhaltung, also dafür, dass auch die Nachwelt sich an dem imperialen Erbe ergötzen wird können. Fast jedes Objekt, jede Ecke ruft Geschichten, Anekdoten und Zahlen in ihm ab. Bei der Frage, ob Van der Bellens Hund schon einmal ein Lackerl in der Präsidentschaftskanzlei ausgekommen ist, muss Wimmer allerdings passen: „Ehrlich, das weiß ich nicht.“ Aber natürlich fällt ihm auch dazu eine historische Anmerkung ein: Schon in der Kaiserzeit waren Haustiere in der Hofburg durchaus üblich.