Nach Assads Sturz: Hussein kehrt nach Syrien zurück
Diktator Baschar al-Assad ist Geschichte. Hussein geht zurück nach Syrien. Abud bleibt vorerst. Warum entscheidet sich der eine für die Rückkehr, der andere nicht?
Es gibt Tage, die wischen vorüber, als wären sie nie gewesen, und dann gibt es Tage wie den 8. Dezember 2024. An diesem Tag erobern Milizen der islamistischen Hai’at Tahrir asch-Scham Damaskus. Sie nehmen ein Viertel nach dem anderen ein, im Verlauf der Nacht kontrollieren sie die gesamte syrische Hauptstadt. Dem Diktator Baschar al-Assad, der in den vergangenen Jahren mehr als sechs Millionen Syrer in die Flucht getrieben hat, bleibt nichts anderes übrig, als selbst zu flüchten. Mit seiner Familie setzt er sich nach Russland ab.
Der 8. Dezember 2024 markiert einen spektakulären Wendepunkt in Syriens Zeitgeschichte. Er markiert aber auch eine Weggabelung in den Lebensgeschichten von Hussein und Abud. Beide sind Syrer, beide sind vor Assad geflüchtet, beide leben seit rund drei Jahren in Wien. An diesem Tag entscheidet Hussein, in seine alte Heimat zurückzukehren, um dort ein neues Leben zu beginnen; Abud hingegen beschließt, in seiner neuen Heimat sein altes Leben zu vergessen. Warum trifft der eine die Entscheidung, aufzubrechen, während der andere bleibt?
Rund 100.000 Syrerinnen und Syrer leben in Österreich. Kaum wurde die Nachricht von Assads Flucht publik, postete FPÖ-Obmann und vielleicht bald Bundeskanzler Herbert Kickl: „Eure Heimat braucht Euch jetzt – die Jubler können jetzt wieder in ihre Heimat zurückkehren! Also, gute Heimreise!“ Einen Tag später kündigt Noch-Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) an, 40.000 Syrer zu informieren, dass Asylaberkennungsverfahren eingeleitet werden. Nicht einmal eine Woche später erhielten die ersten Syrer schon einen Brief aus seinem Ministerium. Einen Monat nach Assads Sturz laufen laut Innenministerium 2400 Asylaberkennungsverfahren, zudem bearbeitet die zuständige Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) derzeit 330 Ansuchen für eine freiwillige Ausreise. Gerade einmal 62 Syrerinnen und Syrer sind bisher freiwillig aus Österreich zurückgekehrt.
Von Amman aus fahren Hussein und Jelud mit dem Auto nach Damaskus.
Hussein am Flughafen in Amman
Von Amman aus fahren Hussein und Jelud mit dem Auto nach Damaskus.
Anfang Jänner kommt er mit Daunenjacke, schwarzer Hose und grau meliertem Schnauzer aus der syrischen Botschaft im 3. Bezirk, in der Hand hält er eine grüne Mappe. Er meldete sich am Tag von Assads Sturz bei der BBU, er will zurück. Drei Wochen später hat er alle Dokumente für sich und seinen Sohn Jelud beisammen. „Es hätte noch schneller gehen können.“
„Ich bin seit zehn Minuten da, ich weine“
Hussein
Als er in Damaskus ankommt
Hussein ist zurück in Damaskus
Eine Woche später schickt Hussein Fotos vom Flughafen in der jordanischen Hauptstadt Amman. Direktflüge nach Damaskus gibt es aus Österreich noch nicht. Statt der schwarzen Hose und dem Anorak trägt er jetzt ein dunkelblaues Männerkleid, am Kopf eine Kuffiye. „Im Flugzeug waren viele andere Syrer“, sagt Hussein, „aus Schweden, dem Sudan, allen möglichen Ländern. Alle auf dem Weg nach Hause.“
In Amman steigt er in ein Sammeltaxi und kommt drei Stunden später in Damaskus an. Neben ihm im Auto sitzt sein Sohn, er ist 14 Jahre alt und hat seit vier Jahren seine Mutter und seine neun Geschwister nicht mehr gesehen. Sie steigen am Busbahnhof aus: „Ich bin seit zehn Minuten da, ich weine“, erzählt Hussein atemlos. Er schickt ein Video aus dem Stau, auf dem Weg Richtung Stadtzentrum, viele in die Jahre gekommene Autos drängen sich hupend auf der breiten Einfahrtsstraße. „Hier schaut es heute anders aus als noch vor dem Krieg. Manche Häuser sind neu, viele sind kaputt“, erzählt er weiter, die Verbindung stockt. „Endlich, die Sonne scheint, es ist warm. Ich bin zu Hause“, sagt er, dann bricht der Anruf ab. Auf einer Brücke hängt ein großes Plakat: „Herzlich willkommen in Syrien“ – mit der neuen offiziellen Fahne. Darüber: „Euer Land hat euch vermisst“.
Über 3000 Kilometer von Damaskus entfernt geht Abud in Wien-Döbling zwischen Weinstöcken im Nebel spazieren. Er friert trotz Anorak und Ohrenschützern, die schwarzen Locken sind zurückgekämmt, die Seiten frisch getrimmt. Abud freut sich, dass Assad endlich weg ist. Erleichtert und gelöst wirkt er bei diesem Spaziergang dennoch nicht. Seine Mitbewohner bejubeln ihn als einen idlibi – einen aus Idlib –, nachdem Oppositionskräfte von dort das Land von Assad befreiten. Auch wenn er schon lange nicht mehr dort lebt, war der Diktator bisher eine der wenigen Konstanten in Abuds Leben und hat es für immer geprägt. Aber Syrien, das ist für Abud heute in Wahrheit nur noch eine ferne Erinnerung.
Das letzte Mal war er vor mehr als zehn Jahren dort, damals war er noch nicht einmal 18 Jahre alt. Es war auch das letzte Mal, dass er seine Familie sah. „Assad hat Syrien zerstört. Ich weiß nicht, was jetzt passieren wird. Aber zumindest ein Problem ist weg.“ Abuds Problem jedoch ist gerade nicht Assad und auch nicht das neue Syrien, sondern die Waschküche in seinem neuen Wohnhaus in Wien-Floridsdorf und seine Mathematik-Prüfung nächste Woche. Er hat gerade erst die Schlüssel bekommen, weiß nicht, wo er den richtigen Chip für die Maschine herbekommt und ob er bei den Mathematik-Textbeispielen alles verstehen wird. In den Tagen, in denen Syrien jubelt, weil Assad weg ist, überlegt Abud, wie er seine Wohnung einrichten kann, was er noch braucht. Abuds Leben ist in Österreich – doch immer wieder quält ihn die Sehnsucht nach Syrien.
"Jetzt kann ich Deutsch, habe eine Wohnung gefunden, habe eine Ausbildung angefangen. Soll ich in Syrien noch einmal von vorn anfangen?“
Abud bleibt vorerst in Wien
„Jetzt kann ich Deutsch, habe eine Wohnung gefunden, habe eine Ausbildung angefangen. Soll ich in Syrien noch einmal von vorn anfangen?“
In Damaskus angekommen, treffen Jelud und Hussein erste Freunde und Verwandte. Wenig später schickt Hussein Fotos, wie er gemeinsam mit ihnen frisch herausgeputzt vor einem schicken Hotel steht. Das entspricht ihm auch weitaus mehr als sein Wiener Leben. Hussein ist 50 Jahre alt, er war in Syrien ein erfolgreicher Unternehmer, hatte eine Metallverarbeitungsfirma, später eine Großbäckerei. In Österreich erhielt er subsidiären Schutz, kein Asyl und damit kaum eine Aussicht auf Familiennachzug. Diese Machtlosigkeit hat dem stolzen Mann zugesetzt, die Aussicht auf eine Zukunft ohne seine gesamte Familie hat ihn zerrieben. Er weiß auch, dass er in seinem Alter nicht mehr gut genug Deutsch lernen wird, auf ihn wartet nur die Baustelle. „Aber ich bin 50. Da will mich dort niemand mehr.“ Fast drei Jahre lang lebte er mit Jelud, einem zurückhaltenden Teenager mit dichten schwarzen Locken, in einer Männerwohngemeinschaft in Wien. In Aleppo jedoch warten auf ihn seine neun weiteren Kinder, sie leben dort gemeinsam mit seiner Ehefrau. Hussein hat hier wenig zu verlieren und dort eine neue Chance. Auf was genau, weiß er nicht. Nur dass er in Österreich kreuzunglücklich war.
Mitte Jänner hat Abud Geburtstag. Er wollte zum ersten Mal feiern – in vielen syrischen Familien ist das unüblich –, aber irgendwie fühlt er sich gerade gar nicht danach. Er hat frische Falafel am Viktor-Adler-Markt besorgt, das ganze Zimmer riecht danach. Abud steckt im Zwiespalt: Er sehnt sich nach seiner Familie, gleichzeitig will er auch nicht schon wieder von vorn anfangen. Er würde gern heiraten und eine Familie gründen. Aber in Österreich gibt es mehr junge Männer aus Syrien als Frauen. Die Eltern verlangen eine hohe Mahr (Brautgabe). In Syrien könnte er jetzt allerdings auch nicht heiraten ohne Job und Geld. „Mein Fehler ist, dass ich zu spät gekommen bin. Heuer werden es vier Jahre, dass ich in Österreich bin.“
Wenn man ihm zuhört, offenbart sich die Tragödie einer ganzen Generation an jungen Syrern, die mehr als ein Jahrzehnt in verschiedenen Ländern ihre Jugend verlebt hat. „Ich habe alles verloren, bin als Jugendlicher in die Türkei geflüchtet. Ich habe gearbeitet, daneben die Matura gemacht, dann ist es in der Türkei für uns Syrer immer gefährlicher geworden. In Österreich habe ich wieder bei null angefangen. Jetzt kann ich Deutsch, habe eine Wohnung gefunden, habe eine Ausbildung angefangen. Soll ich in Syrien noch einmal von vorn anfangen?“ Dafür fehlt ihm die Kraft. Dazu kommt das Gedankenkarussell – wird sein Asyl aberkannt?
Er ist als Jugendlicher in die Türkei geflüchtet, hat gearbeitet, daneben die Matura gemacht.
Abud noch in der Türkei
Er ist als Jugendlicher in die Türkei geflüchtet, hat gearbeitet, daneben die Matura gemacht.
Er verfolgt die Koalitionsverhandlungen sehr genau und fragt sich, was passiert, wenn die FPÖ den Kanzler stellt. „Heißt das, Onkel Kickl kommt, und ich muss gehen?“, fragt er mit Galgenhumor. Die Unsicherheit raubt ihm seine sonstige Ruhe. Die Erwartungshaltung seiner Eltern wächst. Sie sind Binnenvertriebene und wollen in ihre Heimatstadt zurückkehren. „Unser Haus ist kaputt, der Vater hat zuerst gemeint, er will nicht in unsere Stadt zurückkehren und es neu aufbauen. Jetzt hat er seine Meinung geändert.“ An ihn gibt es jetzt eine klare Anforderung: in Österreich arbeiten und Geld verdienen. „Die Familie will nicht, dass ich jetzt zurückkomme. Ich mache die Ausbildung, verdiene Geld, damit wir das Haus wieder aufbauen können.“
Wiederaufbau in Aleppo
Seit knapp einer Woche ist Hussein in Syrien, und es ist viel los. „Lass uns morgen reden“, schreibt er immer wieder. Zwei Verwandte holten ihn und Jelud ab und brachten sie nach Aleppo, seine Heimatstadt. Ganze Viertel sind Ruinen, Strom, Wasser und Internet sind nicht selbstverständlich. Die zweitgrößte Stadt des Landes war massiv umkämpft, wurde von russischen Kampfjets bombardiert und schließlich von Assads Regime zurückerobert. Er hatte viel Besuch die letzten Tage, erzählt Hussein später. Freunde, Familie und Bekannte seien alle zu ihm gekommen. Seine Familie mietet jetzt eine Wohnung in Aleppo, er möchte das Haus am Rande der Stadt neu errichten.
Am nächsten Tag schreibt er: „Es tut mir leid, ich bin heute traurig. Ich war heute in meinem Dorf und hab zum ersten Mal mein Haus wieder gesehen.“ Er schickt 30 Bilder von dem zerstörten Gebäude. Die Grundmauern stehen zwar noch, die Fenster, Fliesen und Türen sind allerdings weg, und Risse ziehen sich durch die Wände. Auf den Feldern rundherum sind die Oliven und Feigenbäume abgehackt. Das syrische Militär habe alles verfügbare Holz genommen und verkauft oder selbst verheizt. „Ich bin wütend. So können wir nicht leben. Das Haus wird viel Arbeit und viel Geld brauchen.“ Und ist Aleppo so, wie er es sich vorgestellt hat? „Es ist so viel Schmutz und Zerstörung überall.“
Trotzdem wirkt er zufrieden, stolz, vielleicht auch auf seine Entscheidung. In Syrien hat er als sunnitischer Mann keine Verfolgung mehr zu befürchten. Das geht nicht allen Diaspora-Syrern so. Für Kurden ist die Situation nicht sicher, sie kämpfen im Nordosten Syriens für ihre Rechte und ihre Existenz gegen die syrisch-türkischen SNA-Truppen. Einigen Minderheiten wird pauschal Regimenähe vorgeworfen – Assad sicherte sich ihre Loyalität geschickt mit der Drohung, ohne ihn seien sie nicht sicher. Hussein ist konservativ eingestellt und sieht die neue Regierung positiv. Er glaubt, viele wollen zurück, aber „sie haben ihre Grundstücke und ihre Häuser verkauft und warten auf den Familiennachzug. Sie haben hier nichts und dort nichts.“
Zurück in Nussdorf. Nach dem Winterspaziergang zögert Abud. Soll er zur Demonstration vor dem Parlament fahren? Mitsingen und jubeln? Vor dem Parlament feierten an diesem Tag Tausende Syrerinnen und Syrer das Ende des Regimes. Quer durch: liberale syrische Künstler, Drusen, der Scheich, der den Bandenkrieg zwischen syrischen und tschetschenischen Jugendlichen im Sommer schlichtete, Hussein und viele andere. Einige werden zurückkehren, einige mit Staatsbürgerschaft auf Urlaub fahren, wiederum andere werden auf sie neidisch sein und fürchten, es könnte sich negativ auf ihren Asylstatus auswirken. An diesem Tag jubeln alle nebeneinander. Abud zögert in der U-Bahn, ob er aussteigen und zur Demo gehen soll. Dann fährt er weiter.