Massenvergewaltigung, Schreckschüsse in Parks, fast tägliche Messerstechereien. Wien erlebt eine Welle an migrantisch geprägter Jugendkriminalität. Ist die Integrationspolitik gescheitert?
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Die Gesamtzahl der Gewaltdelikte nimmt nicht zu. Es ist aber sehr besorgniserregend, dass Täterinnen und Täter jünger werden. Viele davon haben Migrationshintergrund. All das ist höchst problematisch. Es gibt zu wenig klare Antworten auch im österreichischen Rechtssystem, wenn es zum Beispiel um Zehn- bis 14-Jährige geht.
Bessere Integration durch frühere Strafen?
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Wenn Zehn- bis 14-Jährige Gewalt ausüben, ist es mir zu wenig, zu sagen, sie sind noch nicht strafmündig. Auch sie müssen Konsequenzen spüren.
Konkret gefragt: Sind Sie für eine Senkung der Strafmündigkeit unter 14?
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Sanktionen müssen ab zehn Jahren möglich sein. Ich halte aber nichts von Gefängnisstrafen für Kinder. Das macht es nur schlimmer. Sinnvoller wäre ein Jugendgerichtshof, der Straftäter zwischen zehn und 14 zur Arbeit in sozialen Einrichtungen verpflichtet. Begleitet von pädagogischer Arbeit, damit sie auf die gerade Bahn zurückfinden.
Und wenn sie nicht hingehen?
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Dann könnte es Geldstrafen für die Eltern der Jugendlichen geben, wie in der Schweiz praktiziert.
Und wenn die Eltern nicht im Land sind?
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Dann könnte man ihnen klar machen, dass sie bei weiteren Straftaten ab 14 härter bestraft werden als üblich.
MEDIENTERMIN LPD WIEN: "SCHWERPUNKTAKTION DER WIENER POLIZEI IN WIEN-FAVORITEN"
Lokalaugenschein
Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) will in Favoriten Stärke gegen Jugendkriminalität zeigen. Kurz nach seinem Besuch kommt es zur nächsten Messerattacke eines jungen Syrers auf einen jungen Somali.
Wie kann es sein, dass 13-Jährige eine Zwölfjährige vergewaltigen?
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Es ist unglaublich tragisch und nicht erklärbar. Generell sind bei uns auch junge Flüchtlinge angekommen, die Gewalt bereits in Flüchtlingslagern kennengelernt haben. Sich vielleicht auch mit Messern behaupten mussten. Die das Familienoberhaupt waren, weil der Vater nicht da war, und bei uns dann keine Autoritäten akzeptieren. Dazu kommt die frühere Pubertät.
Zieht Wien jetzt anderen Großstädten wie London oder Paris bei der Jugendkriminalität nach?
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Das ist ein internationales Phänomen. Die vielen Krisen der letzten Jahre haben die Jugendkultur verändert. Corona mit all den Schulschließungen hatte massive Auswirkungen. Wir sehen beispielsweise einen deutlichen Anstieg an psychosozialen Erkrankungen bei Jugendlichen. Durch Teuerung oder Kriegserfahrungen hat die Zahl von prekär lebenden Familien zugenommen. Nicht zu unterschätzen sind außerdem Social Media. Wenn sich Eltern bereits in der Frühkindphase zu wenig um ihre Kinder und zu viel um ihren TikTok-Account kümmern, sind Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern oft programmiert. Dazu kommen extrem gefährliche Salafistenprediger aus Deutschland, die auch Wiener Jugendliche radikalisieren und ihr Frauenbild vergiften. Im Vergleich zu anderen Großstädten ist die Jugendkriminalität in Wien aber immer noch gering ausgeprägt.
Alles doch halb so schlimm?
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Nein, weil es zu viele Delikte im öffentlichen Raum gibt. Jedes ist eines zu viel. Wir müssen noch mehr auf Prävention setzen.
Prävention ist ein recht softer Ansatz gegen Messerstechereien und Vergewaltigungen. Was muss konkret im Problembezirk Wien-Favoriten geschehen?
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Ohne Prävention hätten Kriminalität und Gewalt schon eine ganz andere Dimension, davon bin ich überzeugt. Es braucht aber mehr Polizisten auf der Straße. Durch das massive Wachstum des Bezirks Favoriten fehlen bereits 500 Polizisten. Das Wichtigste bleibt für mich die Investition in Bildung. Kinder und Jugendliche müssen ab der ersten Klasse Volksschule lernen, was Demokratie bedeutet. Ich bin daher für einen verpflichtenden Demokratieunterricht anstatt des Religionsunterrichts. Wir haben als liberale westliche Gesellschaft einen Sendungsauftrag, den wir nicht ernst genug genommen haben. Wir stehen in einem Kampf mit religiös-autoritären Systemen, denen sich ein Teil der Zuwanderer zugehörig fühlt. Nach der Schule sollte sich jeder Jugendliche mit österreichischen und europäischen Werten identifizieren.
Volksschulkinder der Rittingergasse in Wien Floridsdorf haben in der Schule Protestplakate gegen Schulcontainer aufgehängt
Die Integrationskraft Wiens wird auf die Probe gestellt. Tausende Väter, die in den vergangenen Jahren nach Österreich geflüchtet sind, holen nun ihre Kinder und Ehefrauen nach. Die meisten kommen aus Syrien. Sie brauchen Wohnraum, Kindergärten, Schulplätze. Schafft Wien das noch?
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Es ist eine riesige Herausforderung. Wir haben in den letzten zehn Jahren 1200 neue Schul-klassen im Pflichtschulbereich eröffnet. Ein massiver Ausbau auf insgesamt 5138 Klassen in ganz Wien. Doch die Zuwanderung von Jugendlichen war noch größer, als all unsere Prognosen vermuten ließen. Durch den Ukraine-Krieg kamen 4000 Kinder und Jugendliche in die Schulen. Weitere 4000 zogen seit 1,5 Jahren über die Familienzusammenführung nach Wien. Das heißt, wir haben 8000 Kinder und Jugendliche zusätzlich im Schulsystem binnen eineinhalb Jahren. Seit Beginn des Jahres kommen monatlich weitere 350 Kinder – viele davon aus Syrien – dazu. Deshalb war es notwendig, kurzfristige Maßnahmen zu setzen, um ausreichend Schulraum zu schaffen. Damit jedes schulpflichtige Kind in Wien auch einen Schulplatz bekommt.
Wien stellt nun eilig in fünf Bezirken Containerschulen für je 225 Schüler auf. Die Direktoren erfuhren aus der ORF-Sendung „Wien heute“ von ihrem Glück. Das schaut nach Überforderung aus.
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Mobile Klassen sind eine praktikable Lösung, bis geplante Zubauten fertiggestellt sind. Wir haben mit Vertreterinnen der Wiener Direktorinnen und Direktoren bereits im Herbst gesprochen, dass es wegen der Familienzusammenführung mehr Platz braucht. Gleichzeitig ist mir wichtig, die Öffentlichkeit zeitnah und transparent zu informieren.
Können Sie garantieren, dass die Container nur eine Übergangslösung sind? Sie werden laut Ausschreibungsunterlagen gekauft und nicht – was auch möglich wäre – bis zum Zubau gemietet.
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Ich kann keine Garantien abgeben, weil ich nicht weiß, wie sich die Schülerzahl entwickelt. Außerdem ziehen manche Standorte mobile Klassen neuen Zubauten vor. Sie sind vollwertige und moderne Klassenräume. Manche Container stehen seit den 1990er-Jahren und werden gerne genutzt. Das alles muss von Standort zu Standort geprüft werden.
Der Elternverein der Mittelschule Afritschgasse im 22. Bezirk wehrt sich vereint mit dem Direktor (Mitte) gegen die Container
Wie fix sind die ausgewählten Standorte? Elternvereine und Anrainer im 21. und vor allem im 22. Gemeindebezirk demonstrieren heftig dagegen.
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Sie sind fix und alternativlos, weil wir sonst die Schülerzahl in Klassen in ganz Wien auf fallweise bis zu 30 erhöhen müssten.
In manchen Favoritner Volksschulen steigen die Klassenzahlen im nächsten Schuljahr bereits auf 29 Schülerinnen und Schüler.
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Das kann im Ausnahmefall vorkommen. Ohne mobile Klassen wären noch mehr Schulen davon betroffen.
Braucht es noch weitere Containerschulen bis Herbst?
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Nein. Damit kommen wir aus. Was wir noch tun, wir prüfen weiterhin geeignete private Gebäude, die leer stehen, ob sie als Schulraum geeignet wären.
Wie haben Sie die fünf fixierten Standorte für Containerschulen eigentlich ausgewählt?
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Wir haben uns angesehen, wo zusätzlicher Schulraum notwendig sein wird.
Bei syrischen Familien ist oft noch nicht klar, wo sie wohnen werden, weil sie in Übergangswohnungen der Caritas oder Volkshilfe sind, bis sie eine leistbare Privatwohnung finden.
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Wir wissen, wo Zuwanderer am Ende verstärkt hinziehen, und können daraus die Schlüsse ziehen.
Ein Schulcontainer, der bereits seit 20 Jahren in der Volksschule Krottenbachstraße in Wien Döbling steht.
Haben Sie einen Einblick, wie gut oder schlecht die Familienzusammenführungen funktionieren? Es geht um Menschen, die sich Jahre nicht gesehen haben und plötzlich auf engem Raum wieder vereint sind.
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Das Zusammenkommen kann zu unmittelbaren Konflikten führen. Denn ohne Ehemann und Vater hatten die Mütter, aber auch die Söhne mehr zu sagen. Der Mann in Österreich wiederum sehnte sich vielleicht nach seiner alten Rolle als Familienoberhaupt. Besonders wichtig finde ich es, die Frauen in ihrem neuen Leben in Österreich zu begleiten. Die Stadt bietet für sie Coachings und Alphabetisierungskurse an. Das kann auch dazu führen, dass migrantische Frauen selbstbewusster werden, nach einem Beruf streben und sich vielleicht sogar scheiden lassen wollen, wenn der Mann das alles nicht mitträgt. Auch hier fördern wir Vereine, die Frauen dabei begleiten.
Und wie verhindern Sie, dass Burschen, die unter der Scheidung leiden oder die Autorität des Vaters nicht mehr anerkennen, auf der Straße landen und sich einer Gang anschließen?
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Für mich ist die Antwort Bildung, Bildung, Bildung.
Nicht alle sind dazu bereit.
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Es herrscht in Österreich immerhin Schulpflicht. Und wenn diese nicht angenommen wird oder Eltern nicht kooperieren, habe ich wiederholt Geldstrafen gefordert.
Integrationsversagen, Jugendkriminalität, Proteste gegen Containerschulen. In ihren Bereichen gibt es aktuell wenig zu gewinnen. Haben Sie sich zu viel zugemutet?
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Natürlich hätte ich mich fein abputzen und sagen können, das Integrationsthema ist mir zu heikel. Aber ich bin ein Überzeugungstäter und möchte Dinge verändern. Deswegen habe ich mich in der Koalition mit der SPÖ für die Bildungsagenden entschieden, und dazu passte Integration sehr gut.
Die SPÖ kann sich aber nun an Ihnen abputzen und sagen, dafür sind Sie verantwortlich. Auf den Protestplakaten vor der Mittelschule im 22. Bezirk, wo man wegen der Container um den Sportplatz fürchtet, sind Sie als Buhmann genannt, nicht Bürgermeister Michael Ludwig von der SPÖ. Nächstes Jahr ist Wien-Wahl.
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Ich glaube schon auch, dass es ein Teil der Wählerinnen und Wähler honoriert, wenn man sich brennenden Herausforderungen stellt und sich nicht wegduckt.
Nicht jede syrische Familie, die der Vater nachholt, hat von Beginn an eine Wohnung.
Gibt es überhaupt genügend Wohnraum für die frisch zusammengeführten Flüchtlingsfamilien?
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Manche haben bereits eine Wohnung am privaten Markt gefunden. Die Wohnqualität dort ist zum Teil besorgniserregend. Andere werden vorübergehend durch Organisationen unterstützt, die ihnen günstigeren Wohnraum zur Verfügung stellen. Insgesamt ist der Wohnraum aber sehr knapp. Denn durchschnittlich liegt die Kinderzahl bei diesen Familien bei drei. Deswegen müssen wir auch an die Frauen denken, damit sie nicht nur daheim sind mit den Kindern, sondern Kindergartenplätze finden.
Wir wissen von syrischen Frauen, die in Favoriten keinen Kindergartenplatz mehr gefunden haben. Dadurch sind sie nicht vermittelbar und bekommen keine Mindestsicherung, weil sie dafür dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssten.
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Das wundert mich. Engpässe kann es, wenn überhaupt, nur in einzelnen Grätzeln geben. Weil wir bei den Drei- bis Fünfjährigen aktuell eine Versorgungsquote von 100 Prozent mit Kindergartenplätzen haben.
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.