Der Covid-Hangover: Die Spätfolgen für Politik und Gesellschaft
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Warum die Seuche Herbert Kickl an die Spitze half. Welche Pandemiemaßnahmen Sinn machten und welche völlig danebenlagen. Mit welchen dramatischen Spätfolgen sich die Pandemie auf Politik und Gesellschaft niederschlägt. Und was jetzt zu tun ist: Eine Aufarbeitung in drei Disziplinen.
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Sterblichkeit, Impfquoten, Maßnahmen: eine erste Bilanz und Fehleranalyse der Wissenschaft.
Die Spitzenreiter stehen fest: Bulgarien mit plus 17 Prozent, Litauen mit plus 16 Prozent, gefolgt von der Slowakei mit knapp plus 15 Prozent.
Erfreulich sind die Rekorde nicht: Die Zuwächse beziffern das Ausmaß der Übersterblichkeit während der Coronaviruspandemie – einen Anstieg der Todesraten zwischen 2020 und 2023 im Vergleich zu den Jahren davor. Am anderen Ende der Skala finden sich Schweden (plus 2,2 Prozent), Island (plus 2,7 Prozent) und Dänemark (plus vier Prozent). Und Österreich? Knapp zwölf Prozent plus, somit Mittelmaß.
Die Daten stammen aus einer im September im Medizinjournal „The Lancet“ erschienenen Studie. Sie reiht sich in eine wachsende Zahl ähnlicher Arbeiten ein und trägt zur Erfüllung einer oft geforderten Aufgabe bei: zur Bilanzierung der durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Pandemie, die vor ziemlich genau fünf Jahren, im Dezember 2019, begann und im Mai 2023 für beendet erklärt wurde. Zuletzt wurden mehrere Studien publiziert, die wesentlichen Fragen nachgehen: Wie meisterte Europa die Pandemie? Wo gab es besonders viele, wo wenige Tote? Korrelierten die jeweils gesetzten Maßnahmen mit der Sterblichkeit? Und welchen Einfluss hatten die Impfungen?
Der „Lancet“-Artikel konzentriert sich auf die Übersterblichkeit. Früher studierte man vor allem die Zahl der an Covid Erkrankten oder Verstorbenen. Doch diese Daten sind teils irreführend: Anfangs wurden mangels Testangebots zu wenige Covid-Opfer erfasst, später häufig zu viele. So gab es heftige Debatten darüber, ob jemand an oder mit Covid verstorben war, weil die jeweilige Person vielleicht bereits an einer lebensbedrohlichen Krankheit litt und sich dann zusätzlich das Virus einfing.
Der Gesamteffekt der Pandemie
Der Indikator Übersterblichkeit hingegen misst, wie sehr die Sterblichkeit in einer Zeitperiode steigt – warum auch immer. Die Daten an der Infektion Verstorbener fließen ebenso ein wie jene bedauernswerten Fälle, denen aufgrund von Engpässen des Gesundheitssystems eine potenziell lebensnotwendige Operation versagt blieb. So erfasst man die Gesamtauswirkungen der Pandemie.
Das „Lancet“-Autorenteam schloss 29 europäische Länder in die Auswertung ein und bezifferte die Übersterblichkeit zwischen 2020 und 2023 mit rund 1,6 Millionen Personen. Dies entsprach einem Anstieg um acht Prozent. Allerdings gab es zwischen den Ländern teils enorme Unterschiede – mit osteuropäischen und baltischen Ländern an der Spitze und skandinavischen Staaten am unteren Ende der Skala. Was erklärt die erheblichen Abweichungen?
Erstens ist die Phase der Pandemie von Bedeutung: Jene Landstriche, die zuerst getroffen wurden, waren zunächst auch mit hoher Übersterblichkeit konfrontiert, vor allem Italien und Spanien. Als das Virus Nordeuropa erreichte, verzeichnete auch Schweden hohe Werte, weil auf harte Maßnahmen verzichtet wurde. Über die Zeit änderte sich jedoch beides: Die Menschen hielten sich freiwillig an eine Reihe von Einschränkungen, und in der Gesamtzusammenschau darf Schweden nun auf die niedrigste Übersterblichkeit verweisen, wohl aufgrund der traditionell hohen Disziplin und Selbstverantwortung sowie der vergleichsweise geringen Bevölkerungsdichte.
Ziemlich das Gegenteil stellt, zweitens, Osteuropa dar: hohe Übersterblichkeit, extrem geringe Impfraten. In Bulgarien etwa wurde bis Ende des Vorjahres nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung geimpft, in der Slowakei kaum mehr als die Hälfte. Drittens nennen die Studienautoren einen bisher kaum beachteten Einflussfaktor: Armut. Je weniger Wohlstand in einem Land, desto höher die Übersterblichkeit, vermutlich aufgrund prekärer medizinischer Infrastruktur.
Waren die Maßnahmen sinnlos?
Und dann schreibt das Forschungsteam einen Satz mit einigem Aufregungspotenzial: „Unsere Analyse fand interessanterweise keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Strenge nicht-pharmazeutischer Maßnahmen und der Übersterblichkeit.“ Also zu Lockdowns, Maskenpflicht, Schulschließungen oder Ausgangsbeschränkungen. Das Zauberwort lautet hier „signifikant“. Es wird nicht behauptet, die Maßnahmen seien sinnlos gewesen – doch sie hatten weit weniger Einfluss als Faktoren wie das beobachtete Ost-West-Gefälle und die Impfquote.
Außerdem: Anders als man annehmen könnte, waren die gesetzten Maßnahmen quer durch Europa gar nicht so verschieden, auch weil den Ländern in kritischen Phasen der Pandemie kaum eine andere Wahl blieb. Starke Effekte auf die Übersterblichkeit sind daher nicht unbedingt erwartbar, wenngleich die Intensität der Restriktionen schwankte, genau wie die Bereitschaft, sie mitzutragen. Die strengsten Maßnahmen nützen nichts, wenn die Menschen wie in vielen Staaten Osteuropas sich nicht daran halten (im krassen Gegensatz zu Skandinavien). „Je mehr, desto besser“, stimme eben nicht, wie eine andere neue Studie konstatiert, die für einzelne Länder einen „Efficacy score“ erstellte: eine Reihung der Maßnahmeneffizienz. Dabei fielen Ungarn, die Slowakei und Schweden in dieselbe Gruppe von Ländern mit niedrigen Scores – doch sehr viel unterschiedlicher könnten die Ergebnisse kaum sein. Entscheidend sei eine kluge Kombination von passenden Maßnahmen zur rechten Zeit, so die Autoren. Das krasse Gegenbeispiel wäre Österreichs Impfpflicht – eingeführt zur Unzeit, als mit Omikron bereits eine deutlich mildere Virusvariante als zuvor zirkulierte.
Apropos Österreich: Das Land liegt in praktisch allen Studien relativ unauffällig im Mittelfeld, nicht überragend, nicht sonderlich schlecht. Mit einer Übersterblichkeit von 11,6 Prozent befindet sich Österreich im oberen mittleren Bereich, und die Impfquote ist insgesamt mit rund drei Viertel der Bevölkerung ähnlich hoch wie im oft zu Vergleichszwecken herangezogenen Schweden – trotz scheinbar massiver Ablehnung, genährt durch die unsinnige Impfpflicht, aber wohl auch dadurch, dass suggeriert wurde, eine Impfung schütze auch zuverlässig vor Ansteckung. Es sei sicher einer der Fehler der Wissenschaft gewesen, meint der Wiener Virologe Norbert Nowotny, zu wenig erklärt zu haben, dass gerade Impfungen gegen Atemwegsinfekte zwar schwere Verläufe verhindern können, Ansteckungen aber nur sehr bedingt.
Ihren eigentlichen Zweck erfüllte die Impfung fraglos, wie eine Anfang August publizierte Studie nahelegt: Diese Arbeit schätzte die Zahl der europaweit durch Impfungen geretteten Leben bis März 2023 und bezifferte sie mit rund 1,6 Millionen – das sind interessanterweise annähernd gleich viele Menschen, wie durch Übersterblichkeit zu Tode kamen.
Auffälliges Ost-West-Gefälle
Eine weitere aktuelle Studie, verfasst von einem deutsch-französischen Forschungsteam, errechnete die Zahl verlorener Lebensjahre während der Pandemie. Dafür wurden nicht Länder verglichen, sondern 569 einzelne Regionen in 25 europäischen Ländern, was ein kluger Ansatz ist: Denn beispielsweise traf die Pandemie Norditalien mit Regionen wie Bergamo viel härter als Süditalien und den Osten Deutschlands stärker als Landesteile im Westen. Diese Analyse lieferte sehr feinkörnige Ergebnisse – und strich dieselben zentralen Faktoren hervor. Im ersten Jahr der Pandemie waren die Todesraten dort hoch, wo das Virus zuerst zirkulierte: in Norditalien, der südlichen Schweiz und Zentralspanien. Anschließend, mit zunehmender Verbreitung des Erregers und teils scharfen Maßnahmen gerade in hart getroffenen Regionen, stach jenes Ost-West-Gefälle ins Auge, das auch die italienischen Kollegen beschrieben – speziell nennen die Forschenden Ungarn, Litauen und die Slowakei, wo sich niedrige Impfraten mit geringer Disziplin der Bevölkerung paarten. Am besten schnitten auch hier Regionen Skandinaviens ab. Österreich schwamm auch in dieser Studie im Mittelfeld mit – auffällig ist jedoch die höhere Sterblichkeit in späteren Phasen sowie unter Männern. Die Ursachen bedürfen noch einer Analyse.
Weitere Studien werden das Bild gewiss ergänzen, doch schon jetzt lässt sich sagen: Die Wissenschaft hat wesentlich mehr Aufarbeitung betrieben als die Politik, die im Hinblick auf Corona freilich teils ganz andere Motive antreibt.
Die Regierung machte Fehler. Eine radikale FPÖ nutzte das aus.
Sommer 2021: Wenige Stunden, bevor Herbert Kickl nach der Spitze der FPÖ greift, muss er seinen allerersten Corona-Selbsttest machen. In Norbert Hofer reift gerade die Entscheidung, seine Funktion als Obmann entnervt hinzuschmeißen, während Kickl auf einer Berghütte an der Rax etwas trinken will. Es gilt Testpflicht in der Gastronomie. Kickl schiebt sich das Wattestäbchen in die Nase. Er hat längst den radikalen Protest gegen die Corona-Maßnahmen zum zentralen Thema seiner Politik gemacht. Als Hofer wenig später abtritt, ist Kickls Weg an die FPÖ-Spitze frei. Schon in den Monaten zuvor hat Kickl die Hauptrolle im FPÖ-Kampf gegen die Anti-Corona-Maßnahmen übernommen.
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WANDERUNG DER FPÖ STADTGRUPPE NEUNKIRCHEN MIT KLUBOBMANN KICKL: KICKL
Herbert Kickl
bei einer Wanderung auf der Rax im Sommer 2021. Kurz bevor Norbert Hofer seinen Rücktritt bekanntgab, machte Kickl seinen ersten Corona-Nasen-Selbsttest.
Offenbar hat sich das ausgezahlt. Wen die Pandemie heute noch beschäftigt, der oder die wählte bei der Nationalratswahl mit hoher Wahrscheinlichkeit FPÖ. Laut Meinungsforscher Peter Hajek war Corona für immerhin ein Sechstel der Blau-Wähler ein zentrales Wahlmotiv, nach Migration und Teuerung. Das Forschungsinstitut Foresight fragte für den ORF ab, ob das Thema Corona im Wahlkampf diskutiert wurde. Unter jenen Personen, bei denen das „sehr häufig“ der Fall war, hatte die FPÖ 52 Prozent. „Bei Wählern der anderen Parteien bewegt sich das Thema Corona unter ferner liefen“, sagt Christian Glantschnigg von Foresight. In der gesamten Wählerschaft schafften es die Pandemie und die Corona-Maßnahmen nur auf den 15. Platz der zentralen Wahlmotive.
Nur bei freiheitlichen Wählerinnen und Wählern spielte das Thema eine entscheidendere Rolle. Foresight teilte Österreichs Gemeinden in zwei Gruppen ein – mit hoher und niedriger Durchimpfungsrate. Die FPÖ schnitt bei niedrigeren Impfraten bei der Wahl besser ab – unabhängig davon, ob es sich um ländlichen oder urbanen Raum handelt. „Der Zusammenhang ist deutlich zu sehen“, sagt Glantschnigg.
Die Freiheitlichen setzten nicht nur aus Überzeugung, sondern auch aus taktischen Gründen auf das Pandemie-Thema. Einblicke in die strategischen Überlegungen bieten Ermittlungsakten aus der steirischen Finanzaffäre, die profil vorliegen. In Sitzungen des steirischen FPÖ-Vorstands im Jänner 2022 besprach man laut Protokollen das Potenzial der Corona-Demos: „75 Prozent sind über 38 Jahre, 60 Prozent sind weiblich, über 60 Prozent haben eine Matura oder eine höhere Ausbildung und nur 8 Prozent sind arbeitslos“, wurde über die Protestierenden notiert. „Deshalb wollen wir uns von den Demonstrationen nicht abwenden, denn sonst kommen andere Gruppierungen und nehmen uns ein etwaiges Wahlpotential weg.“ Und weiter: „Wir werden das vorhandene Potential unterwandern und mitmachen und uns einklinken.“
Die Pandemie verdrängte die Erinnerung an Ibiza und Spesen-Affäre. Jakob-Moritz Eberl, der an der Universität Wien die Einstellung der Bevölkerung während der Pandemie erforschte, verweist auf die blaue Taktik. Bis heute sei die Partei daran interessiert, das Corona-Thema am Leben zu erhalten. „Rechtspopulistischen Parteien geht es darum, die Unzufriedenheit und die Kritik an politischen Institutionen bei unterschiedlichen Themen zu nutzen. Beim Thema Corona konnte die FPÖ die Unzufriedenheit am besten kanalisieren.“ Der FPÖ-Erfolg liegt nicht nur an Corona, betont Eberl, die ÖVP habe mit dem Rücktritt von Sebastian Kurz Ende 2021 Glaubwürdigkeit beim Thema Migration und damit massiv an Zuspruch verloren. Ein halbes Jahr später startete der Wiederaufstieg der FPÖ.
„Rallying-around-the-flag“
Dabei hatte es so gut für die Regierungsparteien begonnen. In jenen denkwürdigen Märztagen 2020, als Corona die neue Realität wurde, begab sich ein „Rallying-around-the-flag“ wie aus den Lehrbüchern für Politikwissenschaft. In der Gesundheitskrise sammelte sich das Gros der Bevölkerung hinter der türkis-grünen Koalition. Und dankte ihr das energische Krisenmanagement mit großer Zustimmung: Die ÖVP kratzte in der profil-Umfrage von April 2020 an der absoluten Mehrheit und kletterte auf 48 Prozent – die FPÖ war mit 13 Prozent kaum vorhanden. Sebastian Kurz segelte mit einem Kanzlerbonus von 55 Prozent überhaupt in lichte Höhen.
Doch dann ging es bergab. Es rächte sich, dass Regierungspolitiker die Kommunikation an sich rissen: Das „virologische Quartett“ aus Kurz, Innenminister Karl Nehammer, Vizekanzler Werner Kogler und Gesundheitsminister Rudolf Anschober verkündete streng und detailreich, was verboten und was erlaubt war, wer wo wie viele Menschen sehen und auf wie lange Parkbänken sitzen durfte. Das führte nicht nur zu heillosem Regelungs-Kuddelmuddel, sondern auch dazu, dass die „Corona-Maßnahmen parteipolitisch gedeutet wurden“, wie die Akademie der Wissenschaften schreibt. Andere EU-Staaten überließen die Pandemie-Kommunikation Experten und ernteten weniger Polarisierung. In Österreich hingegen sank die Zustimmung zur Corona-Politik. Sogar die Impfbereitschaft war parteipolitisch geprägt: Unter der Wählerschaft von ÖVP und Grünen war sie deutlich höher.
Virologisches Quartett
Zu Beginn der Pandemie sah man Innenminister Karl Nehammer, Vizekanzler Werner Kogler, Kanzler Sebastian Kurz und Gesundheitsminister Rudolf Anschober öfters in dieser Konstellation.
Türkis-Grün reagierte auf diese Spaltung mit Hektik und immer deutlicheren Fehltritten: Sebastian Kurz wetterte gegen den EU-„Impfbazar“ und Gesundheitsminister Rudolf Anschober und wollte den russischen Impfstoff „Sputnik“ nach Österreich holen – und Anschober gab krank auf und überließ dem heillos überforderten Nachfolger Wolfgang Mückstein das Corona-Feld. Verschlimmert wurde die gereizte Grundstimmung dadurch, dass in diversen Lockdowns neue Bevölkerungsgruppen Social Media entdeckten – und dort wüteten. „Um die Jahreswende 2021/2022 war eine Verschiebung der weltanschaulichen Orientierung nach rechts zu beobachten“, summiert die Akademie der Wissenschaften aus Facebook-Analysen.
Die „Rückkehr zur Normalität“ kam nicht
Die Performance der Regierung wurde nachgerade desaströs bewertet. Als ein Wendepunkt galt der 28. August 2020: Damals verkündete Kurz in einer groß angelegten Rede „Licht am Ende des Tunnels“ und die „Rückkehr zur Normalität“. Ein großes Versprechen, das die Regierung nicht halten konnte: Zwei Monate später gab es neue Regelungen („maximal sechs Personen dürfen in geschlossenen Räumen zusammenkommen“), es folgte ein „Lockdown light“ (Ausgangssperre ab 20 Uhr) und ab 17. November 2020 der zweite Lockdown. Am 26. Dezember 2020 dann der dritte Lockdown. Normal war gar nichts – außer der Zorn auf immer erratischere Corona-Maßnahmen.
Die Regierung lernte wenig daraus, sondern wiederholte ihre Fehler: Im Juni 2021 versprach Kanzler Kurz, dass die Pandemie für die Geimpften jetzt aber wirklich vorbei sei. Ein halbes Jahr später war Österreich wieder im Lockdown – und eine allgemeine Impfpflicht verhängt, der wohl schwerste Fehler (auch wenn die Impfpflicht nie in Kraft trat). Nirgendwo sonst in Europa galt eine derartige Impfpflicht, die Regierung unter Übergangskanzler Alexander Schallenberg war da hineingeschlittert. Bald tobten Demonstrationen dagegen. Der Zorn saß tief.
Keine breite Aufarbeitung
Der erste politische Warnruf erfolgte Anfang 2023, und er war sehr laut: Bei den Landtagswahlen in Niederösterreich, Kärnten und Salzburg wurden die Landeshauptleute von ÖVP und SPÖ abgestraft, die FPÖ feierte starke Zugewinne. Im Frühjahr 2023 kündigte die Regierung einen Corona-Aufarbeitungsprozess an – der passierte aber maximal halbherzig. Die Akademie der Wissenschaften verfasste zwar einen Bericht, aber die geplanten großen Diskussionen schrumpften auf knappe Dialogveranstaltungen für nicht mehr als 319 Österreicherinnen und Österreicher zusammen. Breite Aufarbeitung schaut anders aus.
Dazu kommt: Laut Statistik Austria hat Österreich seit dem Vor-Coronajahr 2019 „spürbar an Wohlstand verloren“ und befindet sich in der Rezession. Das Motto „Koste es, was es wolle“ galt nicht für alle: „Gerade die unteren Berufsklassen haben kaum materielle Entschädigungen für ihre Leistungen während der Pandemie bekommen“, fasst die Soziologin Carina Altreiter zusammen. „Systemrelevante“ Berufe wie Handelsangestellte bekamen 300 Euro als Bonus, der 500-Euro-Bonus für Gesundheitspersonal ließ lange auf sich warten. So vermischte sich das Wahlmotiv „Teuerung“ mit dem Wahlmotiv Corona.
Die Freiheitlichen könnten das Thema weiterhin am Köcheln halten: Sie haben genügend Abgeordnete, um im Parlament allein einen Corona-Untersuchungsausschuss ins Leben zu rufen. Und dort etwa die Schulschließungen und andere Maßnahmen zu behandeln, die sich tief ins Langzeitgedächtnis der Gesellschaft eingegraben haben.
Fatale Spätfolgen: Isolation, Verunsicherung und Abstiegsängste hinterließen Spuren.
„Dass die Auswirkungen der Pandemie ein kollektives Trauma hinterlassen haben“, stehe „außer Zweifel“, so der auf Traumatherapie spezialisierte Wiener Psychotherapeut Philipp Lioznov. Erschwerend kommt für alle hinzu, dass kaum Zeit und Raum blieben, „das Erlebte aufzuarbeiten“: „Denn schon bald nach dem Ende der Pandemie kamen Kriege, Klimakatastrophen und natürlich auch existenzbedrohende Krisen. Und wenn sich ein neues Trauma über ein altes legt, wirkt das unvergleichlich schwerer. Der Spruch „Was uns nicht umbringt, macht uns härter“ stimmt einfach nicht.“
Retraumatisierungen brechen alte Wunden wieder auf.
Lioznovs Definition von Trauma, einem Begriff, der gegenwärtig in der Post-Pandemie-Populärpsychologie intensiv zum Einsatz kommt, lautet: „Ein Ereignis, das das psychische System überfordert und mit dem es nicht umgehen kann. In der Regel wird es nicht konkret im Gedächtnis abgespeichert, sondern bleibt als Bild oder Gefühl archiviert.“
Philipp Lioznov
Als studierter Psychologe mit dem Schwerpunkt „Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie“ auf der Universität Wien und Psychotherapeut der Verhaltenstherapie (VT) arbeitet Philipp nach den aktuellsten wissenschaftlich-fundierten Methoden.
Vulnerabelste Gruppe waren sicher Kinder und Jugendliche, wo sich Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen bis zu vervierfacht haben, „wie ich selbst festgestellt habe, aber mir auch viele Kollegen bestätigten“, so Lioznov. Der gebürtige Russe, der im Alter von zehn Jahren nach Österreich kam und auch zum Themenschwerpunkt Einsamkeit forscht, konstatiert: „Die Gruppe, die von Einsamkeit und Isolation am schwersten getroffen ist, sind nicht die Älteren, sondern die 15- bis 25-Jährigen.“ Dass Schulen und Universitäten so viele Schließtage hatten, hält er für eine überzogene Reaktion: „In Deutschland hat sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach dafür entschuldigt und zugegeben, dass diesbezüglich Fehler gemacht wurden. In Österreich hat man so etwas von niemandem gehört.“
Was die Schließtage von Schulen in den Jahren 2020 und 2021 betrifft, liegt Österreich laut einer OECD-Erhebung im Mittelfeld. Lettland führt innerhalb der EU-Staaten mit insgesamt 221 Schulschließtagen, danach kommt Polen (insgesamt 195 Tage). Mit insgesamt 74 Tagen ohne analogen Unterricht hat sich Österreich zwischen Deutschland (85 Tagen) und Italien (65 ) eingependelt.
Katrin Skala, langjährige Kinder-und Jugendpsychiaterin am Wiener AKH, hält die Tatsache, dass Schulen überhaupt dichtgemacht wurden, für „grob fahrlässig“: „Das führte dazu, dass die Bildungsschere so weit auseinanderklafft wie nie zuvor. 20 Prozent der Kinder gingen durch das Homeschooling verloren, weil sie einfach nicht mehr mitgekommen sind. Die blieben dann oft im Bett und standen einfach nicht mehr auf.“
Resilienzfähigkeit wichtig
Besonders bei kleinen Kindern, die auf keine Erfahrungen im Umgang mit solchen Krisen zurückgreifen können, verbreiteten sich Angststörungen: „Angst war ja auch ein gezieltes Instrument, das sowohl von der Regierung als auch von den Eltern eingesetzt wurde. Nach dem Motto: ‚Wenn du die Oma nicht besuchst, dann wirst du sie noch ganz lange haben.‘ Angstmache und die Tendenz, Kinder unter einen Glassturz zu stellen, sollten Eltern tunlichst vermeiden. Denn die Kleinen nehmen alle Schreckensszenarien für bare Münze.“
Generell hängt es von der Psyche des Einzelnen und seiner Resilienzfähigkeit ab, wie sich der Umgang mit einem solchen Trauma gestaltet. Die Fähigkeit, mit Krisen umzugehen und dabei kreative Wege zu finden, zeigt sich in der Resilienzfähigkeit eines Menschen.
Der Begriff Resilienz ist ursprünglich ein physikalischer Begriff, der die Widerstandsfähigkeit eines Stoffes auf die Einwirkung äußerer Störfaktoren bezeichnet. Es geht also um die Flexibilität oder Elastizität eines Menschen unter Druck oder Stress.
Resilienz ist nichts, was man im Selbsterfahrungsseminar trainieren kann, sondern hängt ab von Komponenten wie frühen Bindungsmustern, dem Glauben an die eigene „Selbstwirksamkeit unter hoher Belastung“ und der Einbettung „in soziale Systeme wie Familie und Freunde“, so der deutsche Resilienzforscher Raffael Kalisch.
Der Belastungsgrad der österreichischen Bevölkerung ist nach wie vor hoch, dementsprechend steigend sind die Krankenstandsfälle aufgrund psychischer Erkrankungen, die sich laut Statistik Austria (Stand 2023) auf 155.072 gesteigert haben, zum Vergleich wurden 2019 123.632 solcher Diagnosen erfasst.
Schätzungen, was den Konsum von Psychopharmaka betrifft, sprechen von Steigerungsraten von 60 Prozent seit Beginn der Pandemie. Genaue Zahlen existieren nicht, da viele dieser Verschreibungen auf Privatrezepten erfolgen. Besonders der Absatz von Schlafmitteln in Form von Benzodiazepinen, die auch sedieren und entspannen, steigerte sich massiv.
Stress kaum abgenommen
Eine kürzliche Umfrage im Auftrag des Sozialministeriums mit dem Titel „So geht’s uns heute“ (Untersuchungszeitraum 2023) bestätigt, dass der Stress in Existenz- und Finanzfragen kaum abgenommen hat: 31 Prozent der Befragten gaben an, dass sie im vergangenen Jahr Einkommensverluste erlitten haben; rund eine Million Menschen (in etwa 16 Prozent) erklärten, dass sie Schwierigkeiten haben, mit ihrem laufenden Einkommen auszukommen.
Dass Armut und Abstiegsängste sich einschneidend negativ auf die Psyche auswirken, ist ein in vielen Studien belegtes Faktum.
Lioznov, der auch auf posttraumatische Belastungsstörungen spezialisiert ist, unterteilt die unterschiedlichen Schutzmechanismen und Reaktionen nach einem Trauma, wie es eben auch die Pandemie darstellt, in die drei Kategorien: „flee, fight, freeze“. Die Flucht bedeutet auch Vermeidung und Verdrängung. Diese Reaktion erklärt, warum für viele die Jahre der Pandemie viel weiter weg scheinen, als sie tatsächlich sind, und die Erinnerungen daran immer schemenhafter werden. Die Kämpfer üben zum Beispiel starke Kontrolle über ihre Gesundheit und ihren Körper. Oder sie kämpften unter Protest gegen die Zwänge und Bevormundung, die ihnen im Zuge der Pandemie seitens der Regierung auferlegt wurden. Die „Freezer“ stellen sich tot oder unterwerfen sich.
Katharina Nocun
ist Publizistin. Sie hat Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Münster und Hamburg studiert. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit dem Spannungsfeld Digitalisierung und Demokratie sowie den Folgen von Desinformation. Ihr erstes Buch "Die Daten, die ich rief" (2018) behandelt das Thema Datenschutz und Digitalisierung.
Die Kategorie der Kämpfer, beflügelt durch den Treibstoff Zorn und eine allgemeine Wut gegen jede Form von Eliten und Systemparteien, ist die vulnerabelste Gruppe für Verschwörungstheorien. Die deutsche Rechtsextremismus-Forscherin Katharina Nocun, Autorin des Buches „Fake Facts“, sieht in der Schaffung gemeinsamer, einfacher Feindbilder eine psychologische Entlastung: „Die Idee, Teil einer kleinen, auserwählten Truppe zu sein, die die großen Spiele durchschaut und vom Glauben getragen ist, die Wahrheit gefunden zu haben, verleiht auch ein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Menschen. Da sind dann Verschwörungsfantasien sehr verlockende Lichtblicke.“
Doch es gab auch Anlass von Optimismus, so Philipp Lioznov. Ältere Klientinnen hatten durchwegs auch die Tendenz, der Pandemie-Phase Positives abzugewinnen: „Paarbeziehungen haben sich auch zum Guten intensiviert, einige haben zu reisen begonnen oder sich Verjüngungskuren unterzogen.“ Aber auch bei den Jüngeren zeichnete sich Erfreuliches ab: Väter lebten verstärkt ihre Rolle für ihre Kinder, das Gemeinschaftsgefühl wurde größer, der Wille zum politischen Engagement wuchs.“ Was man auch unter dem Terminus „posttraumatische Reifungsprozesse“ zusammenfassen kann: „Durch solche Erfahrungen erhöht sich die Resilienz, und man kann in Zukunft besser mit solchen Situationen umgehen.“
Detail am Rande: Nach der Anzahl der FPÖ-Sympathisanten oder auch Wähler unter seiner Klientel befragt, sagt Lioznov: „Ich betreue mehr als 100 Menschen, und darunter findet sich kein einziger, der mit dieser Partei auch nur sympathisiert.“
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.
Angelika Hager
leitet das Gesellschafts-Ressort
Eva Linsinger
Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin
Alwin Schönberger
Ressortleitung Wissenschaft