Auschwitz: Jahrelang präsentierte sich Österreich als "Erstes Opfer der Nazis"
Der offizielle Umgang Österreichs mit Auschwitz, dem Symbol der Vernichtung des europäischen Judentums, bildet eine Kette von Peinlichkeiten. Jede Nation, deren Angehörige dort ins Gas geschickt oder zu Tode geschunden wurden, positioniert sich in einer der früheren Häftlingsbaracken auf dem Gelände des einstigen Stammlagers mit einer nationalen Ausstellung. Es gibt in der Gedenkstätte bislang keinen Pavillon der Täternation Deutschland, doch einen österreichischen. Obwohl rund 700.000 Österreicher Mitglieder der NSDAP, viele kleine und große Massenmörder aus Österreich ganz vorne mit dabei gewesen waren, präsentierte sich Österreich in Block 17 jahrzehntelang als Erstes Opfer des Nationalsozialismus. Vergangene Woche wurden die Schautafeln abmontiert, ein neues Konzept wurde vom Nationalfonds ausgeschrieben.
Noch ganz im verlogenen Nachkriegsgeist (ÖVP-Kanzler Leopold Figl 1945: Die Österreicher haben sieben Jahre lang unter Hitler geschmachtet) war das Entree der Ausstellung aus dem Jahr 1978 gestaltet: ein riesengroßes Transparent, auf dem Wehrmachtsstiefel über eine Österreichkarte in Rot-Weiß-Rot marschieren. Es war in den beiden Räumen viel vom Widerstand gegen die Nazis die Rede, doch nicht von den Tätern. Kein Wort über jenen österreichischen Ingenieur, dessen Paraphe auf den Bauplänen der Auschwitzer Krematoriumsöfen zu finden ist, nichts von österreichischen SS-Schar- und Unterscharführern, KZ-Wächtern und Gestapo-Chefs, die hier Dienst taten. Eine Vitrine, die ein halb verbranntes Gebetsbuch in ungarischer und hebräischer Sprache enthielt, war der einzige Hinweis auf 11.000 ermordete österreichische Juden.
Selbst der Widerstandskämpfer Hermann Langbein, ehemaliger Auschwitz-Häftling, kritisierte kurz vor seinem Tod im Jahr 1995, dass wir hier Fehler gemacht haben: Da ist nur der Widerstand, Widerstand, Widerstand. Dass es Österreicher gab, die in entscheidenen Funktionen in Auschwitz in der SS tätig waren, kommt nicht vor.
Die Idee zur Ausstellung stammte aus dem Jahr 1958. Ehemalige Auschwitz-Häftlinge hatten sich darum bemüht, hatten bei Politikern geklagt, wie uninformiert die Öffentlichkeit ist, wie der Antisemitismus als Problem simplifiziert wird. Die Idee einer Ausstellung sahen sie bitter als utopisch an. Es dauerte dann auch 20 Jahre, bis sie verwirklicht wurde.
Tabu Auschwitz
Auschwitz ist heute weltweit die Metapher für den Zivilisationsbruch, für das Böse schlechthin. In Österreich war Auschwitz lange Zeit ein Tabu. Selbst der große Auschwitz-Prozess im Frankfurt der 1960er-Jahre wurde hierzulande kaum wahrgenommen, noch weniger wurden es die österreichischen Verfahren, die skandalös endeten (siehe Kasten am Ende).
Es ist schaurig, aber wahr. Als Wirtschaft und Konsum wieder brummten, wollten die Österreicher von Auschwitz nichts hören. Nur linke und jüdische Zeitungen, Bulletins der Opferverbände, ab 1971 auch das profil, berichteten, wenn wieder ein Tagebuch eines ermordeteten Häftlings auf dem Gelände von Auschwitz-Birkenau gefunden wurde, in dem protokolliert worden war, wie man die Menschen in die Gaskammern geschoben hatte; wenn in Gerichtssälen die Funktionsweise der Mordfabrik verhandelte wurde; oder als US-Lichtbilder von Auschwitz aus dem Jahr 1943 auftauchten und sich die Frage aufdrängte, warum die Alliierten Auschwitz nicht bombardiert hatten. Symptomatisch für die vorherrschende Geisteshaltung war die Rechtfertigung eines österreichischen SS-Mannes aus Auschwitz, der in Wien vor Gericht stand: Adolf
Kasubeck gab an, dass nur deutsche SSler an Misshandlungen der Gefangenen in Auschwitz beteiligt gewesen seien. Er selbst habe nie jemanden geschlagen, nur zugesehen. Die Brutalen, die Schläger, das seien nie die Österreicher gewesen. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt.
Mehr als die Opfer machten Burschenschafter und Holocaust-Leugner Auschwitz zum Thema: Hoch Auschwitz stand auf den Transparenten, als rechte Studenten 1965 für den antisemitischen Welthandelsprofessor Taras Borodajkewycz auf die Straße gingen. Die Leugnung von Gaskammern reichte bis in die Gegenwart hinein in die Kreise der Freiheitlichen Partei.
Ein kleine Auschwitz-Debatte gab es Ende der 1970er-Jahre, als die US-Serie Holocaust im österreichischen Fernsehen lief. 1000 Anrufer beim ORF noch in derselben Nacht. Empört. Nicht betroffen, wie die Deutschen.
Der erste österreichische Politiker, der Ausschwitz besuchte, war der sozialdemokratische Vizekanzler Bruno Pittermann im Jahr 1962. Es folgte der spätere SPÖ-Justizminister Christian Broda, der konservative Unterrichtsminister Theodor Piffl-Perčević. SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky war 1973 dort. In den Medien wurde darüber kaum berichtet.
Österreich habe keine Mitverantwortung zu tragen
Erst der Besuch von SPÖ-Kanzler Franz Vranitzky 1987 schlug Wellen. Er wurde damals von der internationalen Presse nach den Pflichterfüllern gefragt. Kurt Waldheim war eben zum Bundespräsidenten gewählt worden. Zur offiziellen Revision der Opferthese, dem Schuldeinbekenntnis, dass auch Österreicher unter den Tätern waren, kam es erst vier Jahre später.
Die Opferthese war einfach zu bequem. Sie hatte dem Stolz der wenigen österreichischen Widerstandskämpfer entsprochen, aber nicht der historischen Wahrheit. Sie flackert immer wieder auf. Als sich der Historiker Andreas Maislinger Anfang der 1980er-Jahre mit seinem Anliegen, Dienst in einer Gedenkstätte als Zivilersatzdienst zu etablieren, direkt an den Bundespräsidenten wandte, soll Rudolf Kirchschläger gesagt haben, ein junger Österreicher habe in Auschwitz nichts zu sühnen.
Als zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, am 27. Jänner 2005, im Europaparlament eine Resolution zu Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit beschlossen wurde, machte ein Österreicher weltweit Schlagzeilen. Andreas Mölzer hatte bei der Abstimmung den Saal verlassen. Österreich habe keine Mitverantwortung zu tragen, hatte der freiheitliche Europaabgeordnete erklärt.
Damals rechnete man in der Gedenkstätte in Auschwitz mit dutzenden europäischen Staatsgästen. Wohl aus diesem Grund wurde, auf dringende Empfehlung der Historiker Heidemarie Uhl, Bertrand Perz und Brigitte Bailer, im Österreich-Pavillon eine Zusatztafel montiert, dass die Opferthese nicht mehr in Einklang stehe mit dem heutigen Geschichtsbild.
1,5 Millionen Menschen besuchen jedes Jahr die Gedenkstätte in Auschwitz. Eine halbe Million Polen, 150.000 Briten, 96.000 Amerikaner, 85.000 Italiener, 75.000 Deutsche, 68.000 Israelis, 62.000 Franzosen, 54.000 Spanier etwa waren es im vergangenen Jahr. Nur 3500 Österreicher. Im Ranking der Nationen, die noch gezählt werden, liegt Österreich nach Südkorea, China und Brasilien an letzter Stelle.
Infobox
Schandurteile
Nur wenige Österreicher, die für die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz tätig waren, wurden vor Gericht gestellt.
Gegen mehr als 60 Angehörige der SS-Wachmannschaft, SS-Ärzte und Gestapo-Leute, die aus Österreich stammten, waren in den 1960er- und 1970er-Jahren Ermittlungen aufgenommen worden.
In fünf Fällen kam es zur Anklage. Kein einziger Österreicher wurde hierzulande für seine Teilnahme am Massenmord in Auschwitz verurteilt. Franz Novak, der als Mitarbeiter von Adolf Eichmann die Deportationen in die Vernichtungslager organisiert hatte, verteidigte sich vor Gericht, Auschwitz sei für ihn ein Bahnhof wie jeder andere gewesen. Novak wurde 1972 in Wien, nachdem ein Freispruch aufgehoben worden war, wegen der unmenschlichen Art der Durchführung der Transporte zu acht Jahren Haft verurteilt, in der Hauptsache jedoch freigesprochen.
Frei von Schuld waren nach Ansicht der Geschworenen im Jahr 1972 auch die österreichischen Planer und Bauleiter der Krematorien und Gaskammern in Auschwitz: Walter Dejaco und Fritz Karl Ertl. Sie hatten auch die Baracken der Häftlinge konzipiert, ohne Fenster, während sie in den Unterkünften für die Wachhunde der SS für ordentliche Belüftung sorgten. Sie verteidigten sich, sie hätten nur geplant und gezeichnet.
Zwei weitere Auschwitz-Täter aus der SS-Wachmannschaft des Lagers, Otto Graf und Franz Wunsch, wollten ebenfalls nicht gewusst haben, was in Auschwitz vor sich ging. Sie wurden im selben Jahr freigesprochen. Von weiteren Anklagen gegen mutmaßliche Mörder sah der Wiener Staatsanwalt ab. Sämtliche Verfahren wurden eingestellt. Auch Zeugen weigerten sich nach den skandalösen Freisprüchen, sich einem traumatisierenden Kreuzverhör vor Gericht auszusetzen.
Maximilian Grabner, Chef der Lager-Gestapo, vormals Kriminalbeamter in Wien, war in Krakau 1947 zum Tode verurteilt worden, ebenso die Österreicherin Maria Mandl, Oberaufseherin im Frauenlager.