Außenminister Kurz: "Die Bilder waren auch für mich furchtbar."
profil: Sie kommen gerade von einer Reise nach Serbien und Mazedonien. Hatte dieser Besuch etwas mit dem Jahrestag der Maßnahmen an der Balkanroute zu tun? Ist wieder etwas geplant? Sebastian Kurz: Ich bin mehrmals im Jahr am Westbalkan unterwegs, das ist unsere außenpolitische Schwerpunktregion. Migration war selbstverständlich auch ein Thema. Es ist gut, dass es uns durch die Schließung der Balkanroute gelungen ist, das Weiterwinken zu beenden und von bis zu 15.000 Migranten pro Tag schlagartig auf unter 1000 und später noch deutlich darunter zu kommen. Aber es gilt nach wie vor, gegen die Schlepper anzukämpfen. Wir haben zum Beispiel österreichische Polizisten an der serbisch-bulgarischen und an der mazedonisch-griechischen Grenze im Einsatz. Auch diesen habe ich einen Besuch abgestattet.
Wir hatten natürlich die Hoffnung, dass alles so funktioniert, wie es geplant war
profil: Angeblich rechnete vor einem Jahr niemand damit, dass die Grenzsperren so gut funktionieren würden. Der „Standard“ schrieb vor Kurzem, es sei eigentlich erwartet worden, dass die meisten Flüchtlinge letztlich doch an der österreichischen Grenze stranden würden. Waren Sie selbst überrascht, als das nicht passierte? Kurz: Wir hatten natürlich die Hoffnung, dass alles so funktioniert, wie es geplant war. Aber so etwas wurde noch nicht oft gemacht, deshalb gab es keine Garantie. Es war auch nicht klar, ob die Mazedonier dem politischen Druck standhalten würden. Sowohl europäische als auch amerikanische Politiker haben massiv interveniert, die Grenzen wieder aufzumachen. Und es gab über 10.000 Menschen, die im Schlamm von Idomeni protestiert haben.
profil: Idomeni wurde zu einem Symbol für das Flüchtlingselend. Wie gut schläft man, wenn man federführend so eine Situation mitverursacht hat? Kurz: Die Bilder waren auch für mich furchtbar anzusehen. Viele haben damals vorgeschlagen, einfach diese 10.000 Menschen nach Österreich oder Deutschland zu holen, um ihr Leid zu beenden. Aber uns war klar: Wenn wir die Grenze für diese Menschen öffnen, dann werden am nächsten Tag nicht null Menschen in Idomeni stehen, sondern 30.000.
profil: Was hätten Sie gemacht, wenn es dort zu einem Blutbad gekommen wäre? Wären Sie dann zurückgetreten? Kurz: Es war vereinbart, dass die Sicherheitsbehörden alles tun, um eine Eskalation zu verhindern. Das heißt, sie haben die Grenze geschützt, aber möglichst passiv auf Steinwürfe und andere Attacken reagiert. Wenn man Migranten irgendwo stoppt, kann es immer zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kommen. Es ist aber nicht moralisch hochwertiger, wenn man das in der Türkei oder anderswo macht. Dort findet es nur abseits der europäischen Fernsehkameras statt.
Es funktioniert meines Wissens nach noch immer nicht, Flüchtlinge in die Türkei zurückzustellen
profil: Welche Bilanz ziehen Sie nach ebenfalls knapp einem Jahr Türkei-Deal? Kurz: Das Abkommen mit der Türkei hat sicherlich noch einmal dazu beigetragen, die Zahlen zu reduzieren. Obwohl einige Zusagen ja nicht halten. Es funktioniert meines Wissens nach noch immer nicht, Flüchtlinge in die Türkei zurückzustellen. Aber weil die Grenze zu Mazedonien geschlossen ist und die Griechen die Menschen auch nicht mehr sofort von den Inseln aufs Festland bringen, ist der Anreiz, sich nach Europa auf den Weg zu machen, massiv gesunken. Meine These und die unserer Experten war einfach richtig: Die Menschen sind nicht nur auf der Suche nach Sicherheit, sondern vor allem auf der Suche nach einem besseren Leben in Mitteleuropa. Das ist menschlich absolut nachvollziehbar, aber das können wir nicht leisten.
Niemand kann ein Recht darauf haben, sich das Land auszusuchen, in dem er seinen Asylantrag stellt
profil: Einige Zehntausend sitzen allerdings noch immer in Griechenland fest, Tausende sind in Serbien. Akzeptieren Sie das als Kollateralschaden? Haben diese Menschen schlicht Pech gehabt? Kurz: Sie haben Schutz vor Krieg und Verfolgung in Griechenland gefunden. Andere haben noch schlimmere Schicksale. Niemand kann ein Recht darauf haben, sich das Land auszusuchen, in dem er seinen Asylantrag stellt. In Griechenland sind mit Abstand weniger Menschen einquartiert als hier in Österreich. Es kann nicht jeder nach Deutschland, Österreich oder Schweden durchkommen.
profil: In Italien wird die Situation aber schlimmer. Wie soll das weitergehen? Kurz: Italien muss seine Politik ändern. Die Politik der offenen Grenzen und des Weiterwinkens ist falsch. Wenn es jemand illegal nach Italien geschafft hat, wird er aufs Festland gebracht und man wartet, bis er sich weiter in Richtung Norden auf den Weg gemacht hat. Entlang der Balkanroute hat sich der Zustrom um 98 Prozent reduziert, über Italien kommen dagegen 20 Prozent mehr.
profil: Ist es vorstellbar, dass Österreich den Brenner in Eigenregie dichtmacht? Kurz: Die ideale Lösung wäre eine andere: Italien muss die Flüchtlinge an der Außengrenze, noch auf den Inseln, stoppen, mit europäischer Hilfe versorgen und zurückbringen beziehungsweise zur freiwilligen Rückkehr bewegen.
profil: Und wenn Italien das nicht tut? Kurz: Wenn die Flüchtlingszahlen steigen, wird es mehr nationale Maßnahmen geben. Das ist nicht nur in Österreich so, sondern in allen mitteleuropäischen Staaten.
profil: Sogar Vertreter der deutschen Sozialdemokratie fordern mittlerweile, Flüchtlinge nach Afrika zurückzuschicken. Warum passiert es nicht? Kurz: Wir haben sehr viel Zeit verloren. Als ich das erste Mal gesagt habe, dass wir von Australien lernen müssen, bin ich von allen Seiten massiv kritisiert worden. Der Vorschlag wurde als rechts und unmenschlich bezeichnet. Mittlerweile ist die Idee in der EU mehrheitsfähig und kann verwirklicht werden. Aber das ist auch eine Frage der Entschlossenheit in der Umsetzung. Viele sind leider der Meinung, das Problem sei ohnehin nicht mehr so groß. Sie geben sich damit zufrieden, dass die Flüchtlingszahlen 2016 niedriger waren als 2015 und lehnen sich zurück. Das halte ich für gefährlich.
profil: Angefeindet wurden Sie vor allem, weil Sie Australien als Vorbild nannten. Das wirkt wie eine gezielte Provokation. Gefällt es Ihnen, wenn alle sich aufregen? Kurz: Überhaupt nicht, so angenehm ist das nicht. Aber ich halte es noch weniger aus, Dinge anders darzustellen als sie sind.
profil: Australien wird doch zu Recht für seinen Umgang mit Flüchtlingen kritisiert. Kurz: Ich habe immer gesagt, dass die Behandlung menschenwürdig sein muss. Aber es ist absurd, Menschen mit derselben Strategie wie Australien davon abhalten zu wollen, dass sie nach Europa durchkommen und sich gleichzeitig moralisch überlegen zu fühlen. Genauso passt es nicht zusammen, für die Einladungspolitik und offene Grenzen zu stehen und gleichzeitig einen Deal mit der Türkei zu schließen, damit die Flüchtlinge dort gestoppt werden.
profil: Glauben Sie noch an eine europäische Lösung in dieser Frage? Kurz: Davon bin ich zu 100 Prozent überzeugt. Ich glaube nur, dass es noch dauern wird und bis dahin die nationalen Maßnahmen mehr werden.
Wenn Menschen verteilt werden sollten, dann eher weg aus Österreich
profil: Die Aufteilung von 160.000 Flüchtlingen in Europa kommt nicht vom Fleck. Woran liegt das? Warum hat Österreich noch keinen einzigen übernommen? Kurz: Wir haben pro Kopf mehr Flüchtlinge als alle anderen europäischen Länder mit Ausnahme Schwedens. Wenn Menschen verteilt werden sollten, dann eher weg aus Österreich. Zweitens funktioniert das System nicht. Einige Länder sind nicht bereit, Flüchtlinge zu nehmen, und die Flüchtlinge sind nicht bereit, sich in die meisten Länder verteilen zu lassen. In Rumänien wurden Tausende Quartiere geschaffen, der Großteil steht noch immer leer, weil wir keine Flüchtlinge finden, die nach Rumänien wollen. Und drittens ist das Modell der Relocation grundsätzlich ein falsches. Wenn wir Menschen nach Europa bringen, dann sollten wir sie mittels Resettlement-Programmen direkt aus den Krisengebieten holen und ihnen auf legalem Weg die Möglichkeit geben, ein neues Leben in Europa zu beginnen. Bei der Relocation werden Menschen aus Italien und Griechenland verteilt, die zuvor eine von Schleppern organisierte, illegale, lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer absolviert haben. Das Signal ist: „Nehmt euch einen Schlepper, riskiert euer Leben, dann kommt ihr nach Europa.“
profil: Wie in der Asylkrise setzen Sie auch beim Streit um die Familienbeihilfe für EU-Ausländer auf einen Alleingang Österreichs. Offenbar sind Sie auf den Geschmack gekommen. Funktionieren die Dinge besser gegen als mit Brüssel? Kurz: Die Schließung der Westbalkanroute war kein nationaler Alleingang, sondern eine regionale Lösung für ein Problem, das vor allem unsere Region betraf. Wie ich die EU bis jetzt erlebt habe, hatten viele Schritte ihren Ursprung in der Intiative von Mitgliedsstaaten. Meistens waren das Deutschland oder Frankreich. Vielleicht ist es ungewohnt, wenn es einmal von einem kleineren Staat ausgeht. Was die Familienbeihilfe betrifft, würde ich jede Kritik verstehen, wenn wir gegen europäisches Recht verstoßen würden. Aber wir nutzen nur unseren nationalen Handlungsspielraum.
profil: Das sagt Ihr Gutachten, es gibt auch andere Rechtsmeinungen. Das wird man vor Gericht klären müssen. Kurz: Dann werden wir das Ergebnis zur Kenntnis nehmen. Ich habe mich jetzt 18 Monate lang für Änderungen bei der Familienbeihilfe eingesetzt. Aber es gibt seitens der Kommission zu wenig Bewusstsein dafür, dass wir hier ein Problem haben. Ich bin ziemlich sicher, dass die Veränderung, die wir setzen, in einigen Jahren die europäische Linie sein wird.
profil: Es geht um 250 Millionen Euro pro Jahr. Lohnt sich da der Aufwand? Kurz: Ich habe schon für wesentlich kleinere Summen wesentlich mehr kämpfen müssen.