Außenminister Schallenberg soll Kurz nachfolgen: "Ich bin Bürgerlicher seit Geburt"
Dieses Interview erschien erstmals in profil Nr. 40 / 2020 vom 27.09.2020. Aus aktuellem Anlass stellen wir es Ihnen vollständig zur Verfügung.
Außenminister Alexander Schallenberg sieht sich als liberalen Politiker, will Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nicht öffentlich kritisieren und lehnt auch nach dem neuen Vorschlag der EU-Kommission die Aufnahme von Flüchtlingen aus Lesbos ab.
Alexander Schallenberg, 51, wuchs als Diplomatenkind an den Einsatzorten seines Vaters auf - in Indien, Spanien, Frankreich, ist Jurist und war lange Pressesprecher, ehe er selbst als Politiker in die erste Reihe vorrückte. Nach dem Ibiza-Skandal trat Schallenberg im Juni 2019 als Außenminister in die Übergangsregierung von Brigitte Bierlein ein und behielt das Amt im Kabinett Kurz II. Das Gespräch über die umstrittenen Positionen des Außenministers beginnt anlässlich des 50-Jahre-Jubiläums von profil mit der Frage nach Schallenbergs Erinnerungen an seine Begegnung mit dem Nachrichtenmagazin.
Schallenberg: Ich habe das profil erst wirklich kennengelernt, als ich Pressesprecher von Außenministerin Ursula Plassnik war. Wenn die Vorausmeldungen des profil kamen, wusste ich, welche Art von Wochenende mir bevorstehen würde. War eine unangenehme Geschichte für uns dabei, war das Wochenende wohl gelaufen.
profil: Waren wir einmal unfair?
Schallenberg: Ich war viele Jahre Pressesprecher, und die Antwort lautet ganz klar: Nein. Ich halte die Aufgabe von Medien in einer Demokratie für essenziell und habe dafür natürlich auch immer Verständnis gehabt. Ohne Qualitätsmedien bricht unsere offene, freie Gesellschaft zusammen wie ein Kartenhaus. Es ist für mich ein Dreigestirn: Politik-Medien-Bürger. In einer Demokratie sind Entscheidungen erklärungs-und kommunikationsbedürftig, und das Vehikel dafür sind im breitesten Sinne die Medien.
profil: Können Sie uns dann erklären, weshalb der allergrößte Anteil der Medienförderung der Bundesregierung nicht an Qualitätsmedien geht?
Schallenberg: Man braucht objektive Standards. Qualität ist schwer objektivierbar, Auflagenstärke ist es. Aber ich habe den Eindruck, dass sich die Bürger, immer, wenn eine außergewöhnliche Situation eintritt, seriösen Medien zuwenden. Etwa zuletzt in der Causa Ibiza oder jetzt während der Corona-Pandemie. Da zeigt sich ein starker Wunsch nach verlässlichen Quellen, die Fakten überprüfen.
profil: Das können wir bestätigen, es ist aber leider noch kein Geschäftsmodell. Aber wir wollen gleich ein Faktum prüfen: Sind Sie ÖVP-Mitglied geworden?
Schallenberg: Ja, bereits vor einiger Zeit.
profil: Als Sie als Minister angelobt wurden, waren Sie es noch nicht. Haben Sie das geheim gehalten?
Schallenberg: Nein, aber Sie sind-wenn ich mich nicht irre-der Erste, der mich danach fragt. Es gab ohnehin nie den geringsten Zweifel, wo ich politisch stehe.
profil: Sie sind latentes ÖVP-Mitglied von Kindesbeinen an?
Schallenberg: Bürgerlicher seit Geburt.
profil: Ist aus dem liberal gesinnten Bürgerlichen Alexander Schallenberg mittlerweile ein türkiser Hardliner geworden? So, wie Sie den Nichtbeitritt Österreichs zum UN-Migrationspakt argumentiert haben, wie Sie die Aufnahme von Bootsflüchtlingen ebenso kategorisch ablehnen wie zuletzt die Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen aus dem niedergebrannten griechischen Flüchtlingslager Moria, vermitteln Sie diesen Eindruck sehr stark.
Schallenberg: Das ist eine falsche Wahrnehmung. Ich habe seit 2015 bei der Gestaltung der Migrationspolitik mitgearbeitet und bin in dieser Frage ein Überzeugungstäter. Beim Migrationspakt bleibe ich dabei, dass es richtig war, ihm nicht beizutreten. Man wollte ihn als eine politische Ordnungsgröße für weitere politische Schritte etablieren, das war der springende Punkt. Dabei bleibe ich und sehe auch keinen Grund, von dieser Politik abzugehen. Dass ich deshalb kein offener, liberaler Politiker wäre, ist nicht richtig. Das an einem Thema festzumachen, lehne ich ganz klar ab.
profil: Wir wollen versuchen, Ihrer Überzeugung in dieser Frage auf den Grund zu gehen. Immer wenn ein Schiff mit aus dem Mittelmeer geretteten Migranten in einem Hafen vor Malta oder Lampedusa auftauchte, haben Sie es als Außenminister abgelehnt, Menschen aufzunehmen. Ihr Argument war jeweils, dass eine Verteilung der Migranten in Europa verstärkte Flüchtlingsströme nach sich ziehen würde. Tatsächlich wurden aber all diese Migranten immer auf EU-Staaten verteilt, ohne dass es zu einem Anstieg der Flüchtlingszahlen kam. Kann es sein, dass Sie falschliegen?
Schallenberg: Nein, es hat zu einem Anstieg geführt. Wenn Sie mit meinen Kollegen aus Malta und Italien reden, werden die genau diese Wahrnehmung bestätigen.
profil: Die Zahl der Mittelmeerflüchtlinge ist bisher in jedem Jahr seit 2015 gesunken.
Schallenberg: Der Fehler liegt daran, dass wir auf diese Weise weiterhin eine Politik verfolgen, die das Geschäftsmodell der Schlepper fördert. EU-Vizekommissionspräsident Margaritis Schinas hat gesagt, das Haus der europäischen Asylpolitik besteht aus drei Stockwerken. Das erste ist die Zusammenarbeit mit den Herkunfts-und Transitländern der Migranten. Das zweite ist der Außengrenzschutz. Und das dritte ist die Frage der internen Verteilung von Flüchtlingen. Ohne stabile Stockwerke eins und zwei wird es aber nie ein Stockwerk Nummer drei geben können. Das Herauspicken von einem einzelnen Thema wie etwa den Schiffsflüchtlingen oder den Kindern in Griechenland ist ein Fehler.
profil: Was meinen Sie mit herauspicken? Was soll man denn mit Schiffsflüchtlingen oder den Minderjährigen aus dem abgebrannten griechischen Lager Moria machen?
Schallenberg: Zu dieser Situation sollte es erst gar nicht kommen, da muss angesetzt werden. Die Diskussion in Europa dreht sich immer noch viel zu sehr um einzelne Schiffe und die Verteilung von Flüchtlingen. Politik muss bei der Frage ansetzen, wie man das verhindern kann. An der nordafrikanischen Küste in ein Boot zu steigen, darf nicht automatisch dazu führen, dass man in Zentral-oder Nordeuropa Aufnahme findet. Etwas überspitzt formuliert könnte man sagen: Wir müssen nicht über die Öffnung der Eingangstür sprechen, solange es jeder zum Fenster reinschafft. Bringen wir mal das Fenster unter Kontrolle, dann reden wir über die Eingangstür, also über legale Migrationswege nach Europa, Resettlement und all das. Das intellektuell Frustrierende daran ist, dass sich vor allem die öffentliche Debatte seit Jahren im Kreis dreht.
profil: Falls Sie die Debatte des Jahres 2015 meinen, die zwischen den Positionen "Grenzen schließen" versus "Willkommenskultur" ausgetragen wurde, so ist die im Großen und Ganzen beendet; und zwar mit dem Ergebnis, dass die Grenzen für Migranten geschlossen wurden.
Schallenberg: Auch sozialdemokratisch geführte Regierungen haben da ja einen Kurswechsel vollzogen.
profil: Richtig, in dieser Frage haben in Europa die Konservativen eindeutig die Oberhand behalten. Die aktuelle Debatte über die Situation der Leute von Moria hat damit jedoch nichts zu tun. Deutschlands Innenminister Horst Seehofer, Ihr Parteifreund von der CSU, oder Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Ihr Parteifreund von der CDU, sind keine Vertreter der Willkommenskultur und plädieren nicht für eine Öffnung der Grenzen. Sie vertreten die Auffassung, dass Menschen, die zum Teil seit Monaten oder gar Jahren in einem völlig überfüllten Lager hausen, in dem jegliche Versorgung unzureichend ist, von dort weggebracht werden sollen. Vor allem unbegleitete Minderjährige. Warum können Sie das nicht verstehen?
Schallenberg: Ich glaube nicht, dass das der richtige Zugang ist. Es wird nie enden. Wenn wir die Migranten in Moria jetzt verteilen, ist das Lager in drei Monaten wieder voll. Dann beginnt die Diskussion von vorne. Das kann nicht die Lösung sein. Die Situation in Moria nach dem Brand ist zweifelsohne katastrophal, auch mich bewegen diese Bilder sehr. Österreich hat daher rasche Soforthilfe geleistet: Zwei Millionen via UNHCR für die Versorgung von Flüchtlingen und Migranten in Griechenland und darüber hinaus 400 vollausgestattete Familienzelte für 2000 Personen mit Heizungen, Matratzen, Decken, Bettwäsche und Hygienepaketen. Während andere Länder noch diskutieren, haben wir bereits geholfen.
profil: Einige Staaten, darunter Deutschland und Frankreich, haben nun rund 400 unbegleitete Minderjährige aus Moria aufgenommen. Sie prognostizieren, dass dies zu einer neuerlichen Flüchtlingswelle führen werde, und erinnern dabei an 2015. Bis wann rechnen Sie mit einer solchen Entwicklung?
Schallenberg: Wir haben doch während der Migrationskrise 2015/2016 alle gesehen, wie schnell insbesondere die Schleppernetzwerke auf Signale und Entwicklungen reagieren. Das würde genauso wieder passieren. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Im Übrigen sind wir mit unserer Herangehensweise im EU-Mainstream, denn eine Mehrheit der EU-Staaten-darunter auch Dänemark und Schweden-agiert wie wir.
profil: Sind die Christdemokraten, Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen, die eine menschliche Lösung für die paar Hundert Migranten fordern, in Ihren Augen allesamt realitätsferne Weicheier?
Schallenberg: Nein. Aber unser Ansatz ist: Wir brauchen eine stabile, sinnvolle, europaweite Lösung. Wenn man die Diskussion damit beginnt, über die Verteilung der Menschen in Moria zu sprechen, zäumt man das Pferd von hinten auf. Wenn wir jetzt Flüchtlinge aufnehmen, machen sich noch viel mehr Menschen auf den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer, und am Ende leiden noch viel mehr Menschen als diejenigen, die jetzt bereits in Moria sind. Außerdem dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass Österreich seit 2015 EU-weit pro Kopf nach Deutschland und Schweden den meisten Flüchtlingen Schutz gewährt hat. Wir liegen darüber hinaus bei der Pro-Kopf-Belastung von Asylanträgen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge im Zeitraum von 2015 bis 2019 an zweiter Stelle innerhalb der EU-noch vor Griechenland, Deutschland oder Frankreich.
profil: Dafür nehmen Sie in Kauf, als hartherziger Außenminister zu gelten, und als Politiker, der Horst Seehofer rechts überholt hat?
Schallenberg: Ich habe auch in anderen Themen fundierte Positionen. Ich bin einer Diskussion nicht verschlossen. Aber meine Linie ist begründet und durchdacht. Im Übrigen haben wir weiterhin höhere Asylwerberzahlen als die Staaten, die sie aufgrund ihrer geografischen Lage eigentlich haben müssten.
profil: Griechenland hatte im Jahr 2019 77.275 Asylanträge, Österreich 12.886.
Schallenberg: Österreich hatte in der ersten Jahreshälfte über 5400 Asylanträge, Italien im selben Zeitraum10.300. Italien hat aber fast sieben Mal so viele Einwohner wie Österreich. Dieser Vergleich spricht für sich.
profil: Wann hatte Österreich je so wenige Asylanträge?
Schallenberg: Darum geht es nicht. Das kann sich relativ schnell wieder ändern. Das ist immer eine Momentaufnahme, das weiß jeder. Der Unterschied zwischen unserem Erfahrungsschatz von 2014 und dem von 2020 ist das Jahr 2015.
profil: Wenn der jetzt vorliegende Vorschlag der EU-Kommission beschlossen wird, werden Sie dann dafür plädieren, dass auch Österreich bei einer Verteilung von Flüchtlingen mitmacht? Und auch Flüchtlinge aufnimmt, die sich bereits auf dem Territorium der EU befinden, etwa auf einer griechischen Insel?
Schallenberg: Die Vorschläge der Europäischen Kommission gehen in einigen zentralen Bereichen in die richtige Richtung. Ich denke etwa an gemeinsame europäische Anstrengungen beim Schutz der EU-Außengrenzen und an die Bekämpfung der Fluchtund Migrationsursachen. Ich begrüße auch, dass die Kommission einen breiten Ansatz gewählt hat, denn Migration, Handel und Entwicklungszusammenarbeit sollten nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Die Mechanismen zur Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU sind jedoch ganz klar gescheitert. Auch die Aufnahme von Flüchtlingen aus Lesbos wäre reine Symptombekämpfung. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Österreich einen enormen solidarischen Anteil an der Migrationspolitik der EU trägt: Österreich hat in den vergangen fünf Jahren pro Kopf mehr als doppelt so viele Flüchtlinge aufgenommen wie der EU-Schnitt.
profil: Sie scheuen in der Debatte um Migration nicht vor pointierten oder auch provokanten Formulierungen zurück, etwa als Sie in der Diskussion um die Flüchtlinge von Moria von einem "Geschrei nach Verteilung" sprachen. Gleichzeitig wirken Sie bei anderen Themen auffallend verhalten. Man hört von Ihnen kaum ein kritisches Wort über die Politik von US-Präsident Donald Trump oder auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Müssen Sie da immer diplomatisch bleiben?
Schallenberg: Ich bin kein großer Freund von Megafonpolitik, die bloß dazu da ist, die Öffentlichkeit zu befriedigen. Es gibt einen gewichtigen Unterschied zwischen dem, was man einander von Angesicht zu Angesicht sagt, und dem, was man öffentlich sagt. Wir verstehen es, mit vielen verschiedenen Partnern-China, Russland, USA-Dialogkanäle zu bewahren, die es uns ermöglichen, gehört zu werden, weil wir nicht jedes gesprochene Wort gleich nach außen tragen. Aber das darf nicht damit verwechselt werden, dass man keine klare Linie hat. Ich habe durchaus auch Kanten.
profil: Sie interpretieren Ihre Rolle als Außenminister mehr als Diplomat und weniger als aktiver Politikgestalter?
Schallenberg: So sehen Sie das? Gerade wurde mir vorgeworfen, in der Migrationsdebatte zu polarisierend zu sein. Kürzlich habe ich als erster Außenminister in der Zweiten Republik einen russischen Diplomaten zur Persona non grata erklärt-mir wird auch vorgeworfen, ich hätte zu viele Kanten.
profil: Wie halten Sie es nun mit Orbán? Manfred Weber, der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, äußerte sich im profil-Interview weit schärfer zu den Entgleisungen des ungarischen Ministerpräsidenten, als Sie das je getan haben. Er sagte sehr klar, dass Orbáns Fidesz-Partei nicht in der EVP bleiben könne, wenn sie sich in manchen Punkten nicht ändert.
Schallenberg: Ich sage nicht, dass ich mit jeder Äußerung und jeder Positionierung Orbáns einverstanden bin.
profil: Das ist alles?
Schallenberg: Die Mitgliedschaft der Fidesz in der EVP ist suspendiert. Dennoch müssen wir uns mit Ungarn sehr eng abstimmen, schon alleine, weil es unser Nachbarland ist. Das heißt nicht, dass wir bei allem und jedem einer Meinung sind. Aber ich sage ganz offen: Das, was in der europäischen Öffentlichkeit über Ungarn gesagt wird, ist zu einem Teil übertrieben. Denken wir nur an die Notstandsgesetzgebung, die Orbán eingeführt hat. Halb Europa hat aufgeschrien! Wir haben uns das genau angesehen. Meine Völkerrechtsexperten waren der Meinung, da sei in der Substanz nichts auszusetzen, es komme darauf an, wie man es anwendet. Schließlich kam auch die EU-Kommission zu dem Schluss, es bestünde kein Anlass für ein Vertragsverletzungsverfahren. Gerade wir Österreicher sollten in der Lage sein, ein Nachbarland wie Ungarn differenzierter und tiefer zu betrachten, als dies andere tun.
profil: Vor Kurzem ist wieder ein Chefredakteur einer regierungskritischen Zeitung abgesetzt worden, weil er in seinem Blatt ein altes Foto von Orbáns Familie mit einem seiner Kinder abgedruckt hatte. Im Juli war bereits Szabolcs Dull, der Chefredakteur des größten ungarischen Nachrichtenportals index.hu, entlassen worden. Was Sie über Orbán und seine Politik der Ausschaltung freier Medien sagen, klingt nach absoluter Verniedlichung.
Schallenberg: Das sehe ich nicht so. Die EU führt ein Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn, das muss fortgesetzt werden. Einer der wesentlichen Punkte, der große Sorgen bereitet, ist in der Tat der Medienbereich. Ich finde es schade, dass die österreichische Medienlandschaft oftmals-etwas überspitzt formuliert-die Angriffe deutscher Medien verstärkt. Wie viele Journalisten haben sich die Notstandsgesetzgebung wirklich angesehen? Wir müssen sehr genau aufpassen, dass wir nicht eine Entwicklung verstärken, die ich als größte Gefahr in der EU sehe: die Zweiklassengesellschaft. Dasselbe Gesetz mit denselben Formulierungen wäre in einem anderen Staat als Ungarn kein Problem.
profil: Selbstverständlich hat sich etwa unser Korrespondent in Ungarn das Notstandsgesetz sehr genau angesehen. Die Kritik daran war berechtigt. Und es gibt auch einen guten Grund, warum der Beirat des "M100 Sanssouci Colloquiums",dem auch der profil-Herausgeber angehört, den diesjährigen "Preis der europäischen Presse" vor wenigen Tagen eben diesem entlassenen Chefredakteur Szabolcs Dull verliehen hat. Und Sie sagen, die Vorgangsweise der ungarischen Regierung verstoße nicht gegen den westlichdemokratischen Wertekanon?
Schallenberg: Wenn wir jedes Mal "Wolf" schreien, dann glaubt man uns nicht, wenn tatsächlich mal ein Wolf kommt.
profil: Sie haben im Falle Ungarns noch nie "Wolf" gerufen.
Schallenberg: Selbstverständlich habe ich das. Aber ich mache es nicht öffentlich. Außerdem verwehre ich mich dagegen, dass sich etwa die EU-Kommission in Bezug auf die Einhaltung der Grundwerte nur Ungarn ansehen soll. Wir müssen dieselbe Messlatte an alle anlegen, sei es in Malta, der Slowakei oder Rumänien. Ja, es gibt Punkte, wo Ungarn wirklich Probleme hat. Aber man sollte deshalb nicht alles über einen Kamm scheren.
profil: Sie haben zu Beginn des Gesprächs gesagt, es brauche in einer Demokratie ein Dreigestirn: das Volk, die Politik, die freien Medien. Teilen Sie die Ansicht, dass Viktor Orbán seit Jahren alles tut, um freie Medien auszuschalten?
Schallenberg: Ich teile die Ansicht, dass es richtig ist, dass es im Fall Ungarns ein Artikel-7-Verfahren gibt. profil: Das ist keine inhaltliche Antwort.
profil: Können Sie nicht weiter gehen, weil Sie Außenminister sind?
Schallenberg: Natürlich. Verzeihen Sie, das ist vielleicht nicht befriedigend, aber so mache ich Politik.
Schallenberg: Ich habe mich für diese Art der Politik entschieden. Es gibt auch Kollegen, die das anders handhaben.
profil: Muss nicht die EVP, wenn sie eine politische Wertegemeinschaft sein möchte, auch irgendwann eine Entscheidung treffen, ob die Fidesz Teil dieser Gemeinschaft sein kann, anstatt immer nur zu signalisieren, wir trauen uns nicht?
Schallenberg: Die EVP hat eine große Bandbreite, das ist eine Eigenheit bürgerlicher Parteien. Es finden die verschiedensten Parteien und Zugänge Platz. Ich glaube auch, der Vorwurf, die türkise ÖVP sei nicht mehr christlich-sozial
profil: den etwa der ehemalige Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad erhob
Schallenberg: trifft nicht zu. Politik entwickelt sich weiter. Manche finden sich vielleicht in der Politik von 2020 nicht mehr ganz so zurecht wie 1990. Soll sein.
profil: Einen wesentlichen Schwenk in der österreichischen Außenpolitik haben Sie in der Nahost-Politik vollzogen. Österreich hat sich deutlich Israel angenähert-zu Ungunsten der Palästinenser. Die rote Linie, die Sie schließlich doch erkennen ließen, war die drohende Annexion von Teilen des Westjordanlandes durch Israel, aber auch das schien anfangs nicht ganz klar. Oder täuscht der Eindruck?
Schallenberg: Wenige Tage vor der Angelobung der neuen israelischen Regierung fand in Brüssel eine Diskussion unter den Außenministern mit der Absicht statt, prophylaktisch eine Warnung gegen eine mögliche Annexion auszusprechen. Ich hingegen habe die Position vertreten, dass wir uns zunächst freuen sollten, dass es in Israel nach monatelangen Verhandlungen endlich eine Regierung und somit für uns einen Ansprechpartner gibt. Ich habe vorgeschlagen, den israelischen Außenminister Gabi Aschkenasi einzuladen, damit er uns seine Absichten erläutert. Ich lehne es ab, von vornherein mit dem Stellwagen hineinzufahren. Und ich habe Recht behalten. Die Annexion ist mittlerweile vom Tisch. Manche Leute haben offenbar geglaubt, sie könnten die Zukunft im Nahen Osten vorhersehen.
profil: Wenn etwas im Regierungsprogramm steht-wie die Annexion-,dann ist die Vermutung nicht allzu weit hergeholt, anzunehmen, es könnte auch realisiert werden.
Schallenberg: Es stand im Nahen Osten schon vieles in allen möglichen Deklarationen, die alle nicht eingetroffen sind. Mein Punkt ist: Ich äußere meinen Standpunkt dann, wenn das Ereignis unmittelbar bevorsteht, und das habe ich Gabi Aschkenasi auch beim allerersten Telefonat gesagt.
profil: Was genau?
Schallenberg: Falls es zu einer Annexion kommen sollte, steht das für uns im Widerspruch zu den UN-Sicherheitsratsresolutionen. Das ist für uns nicht vereinbar mit unserer Politik, wir stehen auf dem Fundament des Völkerrechts, von der Krim bis zum Westjordanland. Wir brauchen ein multilateral basiertes Regelsystem, und da werde ich sehr deutlich reagieren. Multilateralismus steckt für uns als kleines Exportland in unserer DNA, da muss man niemanden überzeugen. Mir ist mein Widerspruch damals zum Vorwurf gemacht worden, genau wie in der Orbán-Frage. Aber ich entscheide souverän, was ich wann und wie sage. Das nennt sich Politik. Ich hüpfe nicht dann, wenn man danach ruft-sei es Ungarn, Israel, oder Russland, aber ich behalte meine Linie bei.