Außenminister Kurz: „Eine Riesenherausforderung für Europa“
profil: Der Weltbank-Ökonom Branko Milanovic kam kürzlich zu dem Befund, Migration sei für Europa ein Problem ohne Lösung. Teilen Sie diesen Pessimismus? Sebastian Kurz: Es handelt sich um eine Riesenherausforderung. Entscheidend ist, dass man bei den Ursachen ansetzt. Zwei Drittel der Flüchtlinge, die derzeit von außerhalb Europas nach Österreich kommen, flüchten vor Terror wie dem IS. Das heißt, es braucht einen wesentlich aktiveren Kampf gegen die IS-Terroristen in Irak, Syrien und Libyen.
profil: Wie soll Österreich sich daran beteiligen? Kurz: Was den IS-Terror betrifft, kann es keine Neutralität geben. Wir sollten Schutzausrüstungen liefern, etwa kugelsichere Westen für diejenigen, die sich vor Ort gegen die IS-Terroristen verteidigen. Zweitens brauchen wir ein aktiveres Vorgehen gegen die Schlepper und drittens eine Neuordnung des Systems mit Schutzzonen und Auffangzentren in den Herkunfts- und Transitländern, etwa in Nordsyrien und in der Türkei, sowie Resettlement-Programme.
profil: Resettlementprogramme gibt es. Sollten Europa und Österreich großzügiger sein und mehr Flüchtlinge aufnehmen? Kurz: Österreich hat sich in der Vergangenheit schon stark engagiert, und das ist auch ein guter Weg, weil es den Ärmsten hilft und den Schleppern die Geschäftsgrundlage entzieht. Derzeit ist es so, dass mehrheitlich die jungen und fitten Männer nach Europa durchkommen, aber die Kinder, die Frauen, die Alten, die Kranken und Verwundeten werden in der Region zurückgelassen. Wir brauchen darüber hinaus nicht nur eine GSVP-Mission (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Anm.) im Mittelmeer, sondern einen stärkeren Fokus der EU auf die Ägäis und die Westbalkan-Route.
Das Schengensystem lebt davon, dass es eine ordentliche Grenzsicherheit an den EU-Außengrenzen gibt.
profil: Hohe Zäune könnten den gegenteiligen Effekt haben und nur die Preise für die Schlepper in die Höhe treiben. Kurz: Ich bin der Meinung, dass es wichtig ist, eine ordentliche Grenzsicherheit zu haben. Dass Griechenland die größten Pro-Kopf-Ausgaben für das Militär innerhalb der europäischen Union hat, gleichzeitig aber nicht imstande ist, die EU-Außengrenze abzusichern, kann ich nicht nachvollziehen. profil: Länder, die es nicht erwarten konnten, dass die Grenzen fallen, wollen jetzt neue errichten. Wird der Schengenraum bald Geschichte sein? Kurz: Das Schengensystem lebt davon, dass es eine ordentliche Grenzsicherheit an den EU-Außengrenzen gibt. Ich glaube auch, dass es seitens der EU Druck auf Griechenland braucht, um dieser Aufgabe nachzukommen.
profil: Passt der Grenzzaun, der zwischen Ungarn und Serbien errichtet wird, in dieses Konzept? Kurz: Solche Entwicklungen sind ein Ergebnis der Versäumnisse an den EU-Außengrenzen und der mangelnden Initiative entlang der Westbalkan-Route. Hier braucht es mehr europäisches Engagement, sonst werden noch mehr Staaten solche Einzelmaßnahmen setzen. profil: Das ist das Problem: Jedes Land versucht, Gesetze zu verschärfen, Asylwerber abzuschieben oder Grenzen dichtzumachen. Wo bleibt die Solidarität? Kurz: Es gibt definitiv zu wenig. Während wir in Österreich in diesem Jahr 70.000 Flüchtlinge erwarten, gibt es viele Länder in der EU, die nur einige Hundert oder Tausend pro Jahr haben. Es braucht eine bessere Verteilung innerhalb der EU und natürlich ein Aktivwerden, was die Ursachen der Flucht betrifft.
profil: Wie kommt die EU zu mehr militärischer Entschlossenheit? Kurz: Es gibt ja eine Koalition gegen den IS-Terror. Aber es gibt nur wenige Länder, die auch Luftangriffe fliegen. Es wäre wünschenwert, dass mehr Länder, die dafür die militärischen Kapazitäten haben, aktiv gegen diese Barbaren vor Ort vorgehen. profil: Wie viele Einwanderer verträgt Europa? Wie viele verträgt Österreich? Kurz: Man muss hier zwischen Zuwanderung, Asyl und Integration unterscheiden. Österreich ist ein Land mit einer sehr hohen Zuwanderung. Zwei Drittel unserer Zuwanderer kommen aus der EU, sind sehr gut ausgebildet und leisten einen wesentlichen Beitrag auf dem österreichischen Arbeitsmarkt. Im Bereich Asyl rechnet das Innenressort heuer mit 70.000 Menschen. Von diesen erwarten wir knapp 30.000 Menschen, die einen positiven Asylbescheid bekommen. Ab dann beginnt Integration. Das sind drei Mal so viele wie im Vorjahr, eine Riesenherausforderung. Aber ich sage gleichzeitig, das ist bewältigbar.
Eine Verbesserung der Lebensbedingungen führt dazu, dass es weniger Migrationsdruck gibt.
profil: 30.000 anerkannte Flüchtlinge: Was heißt das für den heimischen Arbeitsmarkt? Kurz: Minister Hundstorfer ist hier schon sehr aktiv geworden und hat mit uns gemeinsam zusätzliche Deutschkurse auf die Beine gestellt, weil das sicherlich der erste Schritt Richtung einer erfolgreichen Integration auf dem Arbeitsmarkt ist. Dass das AMS die Idee hat, anerkannte Flüchtlinge, die nicht ordentlich Deutsch können, nicht mehr in der Statistik zu erfassen und ihnen keine Leistungen zukommen zu lassen, halte ich für eine schlechte Idee. Da hoffe ich, dass diese Idee nicht verwirklicht wird. Was wir brauchen, ist eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt und nicht ein Heraushalten aus der Statistik. profil: Sollen Asylwerber auch arbeiten dürfen? Kurz: Sobald jemand einen positiven Asylbescheid hat, ist er berechtigt, in Österreich zu arbeiten. Ansonsten unterstütze ich die Position des Sozialministers, ich glaube auch, dass das ein weiterer Pullfaktor wäre und Österreich noch mehr Flüchtlinge anziehen würde.
profil: Der Migrationsdruck aus Afrika wird in den nächsten Jahrzehnten weiter hoch bleiben. Was halten sie von Kontingenten an Arbeitsgenehmigungen für aufstrebende afrikanische Länder? Kurz: Derzeit haben wir eine sehr hohe Zahl an Menschen, die nach Österreich strömen, sowohl durch die Zuwanderung aus der EU als auch durch die massiv steigenden Flüchtlingszahlen. Insofern muss es derzeit unser Ziel sein, die hohen Asylzahlen in den Griff zu bekommen, statt neue Menschen nach Österreich zu holen. profil: Das heißt, Afrika ist auf der Agenda der EU derzeit weiter unten? Kurz: Nein, aber ich bin der Meinung, dass es zielführendere Maßnahmen gibt. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, die Mittel im Auslandskatastrophenhilfefonds zu vervierfachen. Das ist ein wesentlicher Schritt, um insbesondere in Krisen- und Notsituationen helfen zu können. Wir leisten dadurch natürlich einen Beitrag, dass die Menschen in der Region Krisen überstehen können, ohne nach Europa flüchten zu müssen.
profil: Hilft Entwicklungszusammenarbeit gegen steigende Flüchtlingszahlen? Kurz: Eine Verbesserung der Lebensbedingungen führt dazu, dass es weniger Migrationsdruck gibt. Wir sind gerade dabei, mehr und mehr Wirtschaftspartnerschaften in der Entwicklungszusammenarbeit zu forcieren. Aber wie gesagt: Unsere Flüchtlinge kommen zu zwei Dritteln aus Terrorgebieten wie Syrien, da geht es also weniger um Entwicklungszusammenarbeit als vielmehr um den Kampf gegen den IS.