Alte Freunde auf Abwegen
Emir und Schamil kennen sich schon seit Jahren. Sie verbrachten in ihrer Jugend viel Zeit miteinander in der Gegend rund um die Jägerstraße in Wien-Brigittenau. Doch spätestens im Erwachsenenalter schlugen sie unterschiedliche Wege ein – bis zum 5. Juli 2024 zumindest. Schamil, 29, geboren in Grosny, der Hauptstadt von Tschetschenien, ist nie wirklich in Österreich angekommen. Er hat keine Ausbildung absolviert, war arbeitslos, hatte Tausende Euro Schulden und war bereits mehrfach vorbestraft. Aus der tschetschenischen Community heißt es, Schamil hätte „viel Scheiße gebaut“, er wäre in der kriminellen Drogen- und Sittenwächter-Szene unterwegs.
Bei seinem Freund Emir, 30, war das anders. Er war einer, der es „geschafft hatte“, heißt es in der Diaspora. Er wurde auch in Grosny geboren, hatte allerdings weder Vorstrafen noch Schulden. Zum Tatzeitpunkt arbeitete er als Projektmanager und fuhr einen teuren BMW-SUV.
An diesem 5. Juli fuhr Emir laut der profil vorliegenden Anklage mit diesem BMW Schamil und einen weiteren Bekannten zum Anton-Kummerer-Park im 20. Bezirk. Wenige Minuten zuvor hatte eine Gruppe junger Syrer mit von T-Shirts verhüllten Gesichtern und gezückten Messern ein Lokal am Leipziger Platz gestürmt. Einer der jungen Syrer rief: „Bei Allah, ich steche deinen Kopf.“ (sic!)
Das wollten die jungen Männer offenbar nicht auf sich sitzen lassen. Sie fuhren wenige Minuten später zum nahe gelegenen Park. Im Kofferraum des Wagens: mehrere Waffen, darunter eine Pistole. Mit einer dieser Waffen soll Emir sechs Mal auf fünf Syrer geschossen haben. Er verfehlte sie, verletzte einen leicht, weil ein Projektil abgeprallt sei. Auch Schamil hatte eine Waffe bei sich, mit der er die fünf Syrer attackiert, aber nicht verletzt haben soll, steht in der Anklage. Spezialeinheiten der Wiener Polizei rückten aus und nahmen die jungen Männer fest.
Seit dieser Nacht sitzen beide Freunde in Untersuchungshaft. Wenn am Montag ihr Prozess beginnt, werden auf der Zeugenbank auch jene Syrer Platz nehmen, die an diesem 5. Juli das Lokal gestürmt hatten. Ihr Urteil fiel bereits im Dezember. Ein 34-jähriger Syrer erhielt neun Monate unbedingt, seine zwei 19 Jahre alten Landsmänner fassten neun und sieben Monate unbedingt aus. Sie waren ursprünglich auch wegen versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung angeklagt, aber das Opfer, ein Tschetschene, konnte nicht ausgeforscht werden.
Kurz nach dem 5. Juli kam es zu einem weiteren blutigen Vorfall in der Nähe des Bahnhofs Meidling. Eine Gruppe junger Afghanen wurde von mehreren maskierten tschetschenischen Jugendlichen brutal angegriffen. Der Grund? Offenbar dachten die Angreifer, bei den Afghanen würde es sich um 505-Syrer handeln, die sich in der Nähe des Bahnhofs Meidling trafen.
Diese 48 Stunden Gewalt schlugen hohe Wellen, zierten Titelseiten von Zeitungen und wurden als „Beginn der Wiener Bandenkriege“ bezeichnet. Waren sie das auch? Die jungen Syrer sammelten sich unter der Nummer 505, die Nummer eines beduinischen Stamms in Ostsyrien. Dabei handelte es sich weniger um eine fixe Bande als um eine über Social Media aufgeladene Gruppenidentität. Die Staatsanwaltschaft Wien formuliert es gegenüber profil so: „Wir verwehren uns gegen das Wort Bande, es waren Einzelfälle, deshalb sind die Verfahren auch aufgeteilt in unterschiedliche Stränge.“
Die Friedensverhandlungen
In der tschetschenischen Community gibt es seit Jahren einen klaren Kontaktmann. „Ruf Schaikhi“, heißt es bei Konflikten. Doch im vergangenen Sommer dauerte es, bis Schaikhi Musaitov vom Verein „Rat der Tschetschenen“ ein Gegenüber auf syrischer Seite fand.
Die syrische Community ist sozial durchmischt. Akademiker aus Großstädten, die schon bald zehn Jahre in Österreich sind, Jugendliche mit vom Krieg bestimmten Lebensläufen, die erst später kamen, und konservativere Großfamilien vom Land. Im Sommer trommelte ein syrischer Theologe zuerst gewichtige Vertreter zusammen, dann wirkten die Vertreter der Beduinenstämme Al-Aqidat – auf die sich die ominöse 505 bezieht – auf die Jugendlichen ein. Gemeinsam mit Schaikhi verfassten sie einen Friedensvertrag.
Ende Jänner gründeten die Vertreter der Stämme gemeinsam mit unterschiedlichen syrischen Vereinen den „Nationalen syrischen Verein in Österreich“. Er soll in Konflikten vermitteln, junge Syrer unterstützen, aber auch Meinungsverschiedenheiten in der Familie schlichten, heißt es vom Obmann Sami Al-Aboud.
Doch wie steht es um den Konflikt der Syrer und Tschetschenen? Spaziert man durch Wien, fallen wieder vermehrt „505“- oder „515“-Graffitis auf. Ist der Konflikt zwischen den Diasporas wirklich beendet und aufgearbeitet worden? Bis jetzt scheint der Frieden zu halten, in der syrischen Community gibt es jedenfalls mehr Versuche, auffällige Jugendliche zu unterstützen und auch zu kontrollieren. Der Prozesstag am Montag könnte mehr Klarheit bringen. Emir und Schamil droht für den Angriff im Sommer jedenfalls bis zu lebenslang Haft.
Zurück in Wien-Donaustadt. Es ist kurz nach 18 Uhr, sowohl der Chihuahua-Zubehörladen als auch das Kosmetikstudio haben bereits geschlossen. Die Lichter in den Wohnungen gehen langsam an, ihre Bewohner kommen nach der Arbeit nach Hause. In einer Wohnung brennt jedoch kein Licht. Und daran wird sich wahrscheinlich in nächster Zeit auch nichts ändern.