Barrierefreies Wählen

„Niemand informiert mich!“

In Österreich darf wählen, wer die Staatsbürgerschaft besitzt und 16 Jahre alt ist. Aber: Wie barrierefrei ist die Nationalratswahl? Und wer informiert Menschen, die sich selbst nicht informieren können?

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Daniel geht seit 20 Jahren wählen. In der Wahlkabine zweifelte er dann oft an seiner Wahlentscheidung und wählte aus Unsicherheit dann das, was ihm seine Begleitperson riet. Denn: Bisher hatte er nur Halbwissen über Wahlen und Wahlprogramme.

Daniel bräuchte aufgrund seiner kognitiven Beeinträchtigung Unterstützung, um selbstbestimmte Wahlentscheidungen zu treffen. Bisher hatte er keine Möglichkeit an Informationen und politische Bildung in leichter Sprache zu kommen. „Es ist anstrengend für mich, Politik zu verstehen”, erzählt Daniel, der beim Wiener Verein GiN in Teilbetreuung ist, ”niemand informiert mich”.

Heute soll sich das ändern. Daniel sitzt mit zehn Personen mit mittel- bis schwergradigen kognitiven Beeinträchtigungen im GiN-Freizeitraum in der Schönbrunner Straße. Die Menschen sind zwischen zwanzig und fünfzig Jahre alt und hören der Sozialarbeiterin Karla Kames gespannt zu. „Welche Partei setzt sich vor allem für leistbares Wohnen ein?“, fragt sie in die Runde. „SPÖ!“, schreit Eva, die beim Verein in Teilbetreuung ist, mit voller Aufregung über ihr neu erlerntes Wissen heraus. Gleichzeitig ruft Daniel: „KPÖ!“ Ein nonverbaler Zuhörer zeigt auf Daniel und nickt zustimmend.

89.000 Personen auf Unterstützung angewiesen

In Österreich leben 89.000 Personen mit einer kognitiven Beeinträchtigung, die es wie Daniel und Eva schwerer haben, an Informationen zu Wahlprogrammen zu gelangen. Sie sind auf politische Bildung in leichter Sprache angewiesen. 

Das Wahlrecht ist in Österreich für alle ein Freiheitsrecht, daher darf niemand mit österreichischer Staatsbürgerschaft von Wahlen ausgeschlossen werden – mit Ausnahme von Häftlingen und auch hier wird im individuellen Falle richterlich entschieden. Unterstützung beim Wählen muss bei Bedarf im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention gewährleistet werden. Sozialarbeiterin Karla Kames und ihr Kollege Florian Konopitzky fordern, dass diese Hilfestellung über die Begleitung zum Wahllokal hinausgehen sollte.

„Seit Jahren gehen wir mit den Klient:innen wählen. Mir ist dabei aufgefallen, dass sie gar nicht genau wussten, was sie eigentlich wählen. Deswegen sind Florian und ich auf die Idee gekommen, das selbst in die Hand zu nehmen und ein Info-Event zu den Nationalratswahlen zu veranstalten“, erzählt Karla Kames, die als Sozialarbeiterin auch eine Wohngemeinschaft leitet.

Empfehlung in der Wahlkabine 

Für Daniel und Eva ist Vieles neu beim Info-Event „Deine Stimme, dein Recht“. Zum ersten Mal erfahren sie in leichter Sprache, wie die Nationalratswahl funktioniert, welche Parteien kandidieren und was die Forderungen der Parteien sind. Partei- und Wahlprogramme in einfacher Sprache sind nicht von jeder Partei bereitgestellt - ÖVP und FPÖ etwa haben keine. Ohne diese Informationen ist selbstbestimmtes Wählen für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung kaum möglich. “Ich habe von Kolleg:innen mitbekommen, dass in der Wahlkabine Empfehlungen ausgesprochen wurden, die auf die Bedürfnisse der Personen abgestimmt waren", so Karla Kames.

Selbstbestimmt wählen

Diese wohl meist wohlwollenden Empfehlungen sind problematisch. “Wenn eine Begleitperson sagt, wen sie wählen sollen, dann ist das nicht eine Unterstützung, sondern eine Vorgabe und das darf nicht sein,” ordnet Oswald Föllerer vom Verein Selbstvertretungs-Zentrum die Situation ein. Sein Vorschlag: Eine Person der Kommission sollte in der Wahlkabine Fragen über Parteien neutral beantworten. Darüber hinaus müsse es auch mehr Angebote zur politischen Bildung in leichter Sprache geben: “Es ist sehr schade, dass nur, weil Menschen mit Lernschwierigkeiten eine unsichtbare Beeinträchtigung haben, in die Politik nicht einbezogen werden. Da ist auf vielen Ebenen nichts passiert.”

Damit selbstbestimmtes Wählen und auch das Mitspracherecht gestärkt werden, sollte es laut Karla Kames und Florian Konopitzky Unterstützung auf staatlicher Ebene geben - von staatlichen Institutionen, die parteiunabhängig politische Bildung in leichter Sprache anbieten und fördern. Solange barrierefreie politische Bildung nicht angeboten wird, wollen Konopitzky und Kames Info-Events bei Wahlen zum Fixpunkt machen.

Vom Bundesministerium für Inneres und Behindertenrat gibt es zwar Informationen in leichter Sprache zu den Nationalratswahlen, die Menschen am Wahltag helfen soll, jedoch gibt es hier keine Informationen zu den Parteien und Wahlprogrammen. Aktivitäten in diesem Bereich werden großteils von Vereinen organisiert - “Leicht Lesen - Texte besser verstehen” bietet beispielsweise Workshops in leichter Sprache zu den Nationalratswahlen kostenlos an. Die sind bereits ausgebucht. Auch das Selbstvertretungs-Zentrum berät und unterstützt Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. 

„Ich weiß, was mir wichtig ist“

Nach dem interaktiven Vortrag im Freizeitraum in der Schönbrunner Straße machen die Klient:innen mit Hilfe der Betreuer:innen den Wahlkabinen-Test, um herauszufinden, welche Partei am besten zu ihnen passt. Vor dem Test schwärmt Daniel noch von der Bier-Partei: “Ich mag die Musik von Marco Pogo”, erzählt er. Eva ist Ende dreißig und hat heute das erste Mal von der Bier-Partei gehört. Sie versteht nicht, warum sich eine Partei “Bier” nennen würde, aber sie findet es lustig. “Du magst wahrscheinlich einfach nur Bier”, kichert sie. 

Eva und Daniel wirken stolz auf ihr Ergebnis, lassen es sich ausdrucken und laminieren wie ein Zertifikat. Sie verlassen den Raum mit kindlicher Aufregung. “Ist bei dir die Bier-Partei rausgekommen?”, fragt Eva Daniel. Daniel schüttelt enttäuscht den Kopf und ruft aus: “Na, aber… aber ich mag seine Musik trotzdem.” Wählen will Daniel aber die Partei auf seinem laminierten Papier. Den Wahlkabinen-Test zu machen, fiel Eva und Daniel nach dem Vortrag nicht schwer. Sie verstehen nun die Begriffe. Was ihnen wichtig ist, wussten sie schon davor.

„Der Vortrag hat mir sehr geholfen, zu verstehen, wie Politik funktioniert. Ich wollte immer schon mehr Informationen über die Wahlen haben, aber wusste nicht wie“, erzählt  Daniel. Eva kannte vor dem Vortrag nicht alle Parteien: „Vieles habe ich heute zum ersten Mal gehört“, sagt sie. Sie weiß aber - wie Daniel -  ganz genau, was sie will: leistbares Wohnen, besseres Gehalt und die Senkung von Lebensmittelpreisen. 

Misstrauen gegenüber der Politik

Nicht zuletzt durch fehlende Informationen haben Daniel und Eva ein Misstrauen Politiker:innen gegenüber entwickelt. „Sie streiten sich ständig im Fernseher und es passiert nie das, was sie versprechen.“, sagt Daniel.

Dieses Misstrauen haben nicht nur Daniel und Eva. Beim Austausch nach dem Vortrag kommt das Thema unter den Klient:innen immer wieder auf. Sie beziehen ihre Informationen über Politik vor allem über das Fernsehen oder aus dem Radio. Besonders bei einem Thema ist es ihnen wichtig, dass das Versprechen gehalten wird: Lohn statt Taschengeld für die Arbeit von behinderten Menschen. Menschen mit Behinderung leisten in Werkstätten eine wichtige Arbeit: Sie verpacken zum Beispiel das Mutter-Kind-Geschenk oder während der Pandemie Corona-Tests. Dafür bekommen sie ein monatliches Taschengeld von 35 bis 100 Euro,  obwohl sie mitunter bis zu 38 Stunden in der Woche arbeiten. 

 „Diese Forderung steht in jedem Wahlprogramm. Also sollte das – egal welche Partei gewinnt – umgesetzt werden. Wenn das nicht umgesetzt wird, dann werden die Klient:innen noch weniger Vertrauen in die Politik haben“, beobachtet Konopitzky, der sechs Jahre lang in einer Tageswerkstatt als Betreuer gearbeitet hat.

Am 29. September gehen Eva und Daniel wählen – zum ersten Mal sind sie sich mit ihrer Wahlentscheidung sicher. „Jetzt weiß ich ja, welche Partei am besten zu mir passt.“, sagt Eva zufrieden und schaut auf ihr laminiertes Ergebnis des Wahlkabinen-Tests. Auch Daniel hinterfragt seine Entscheidung diesmal nicht. Er ist fest entschlossen, wo sein Kreuz auf der Wahlkarte hingehört.

 

* Die Namen von Daniel und Eva sind zu ihrem Schutz verändert.

Celeste Ilkanaev