Betteln: Die sanfte Frau S.
Vor dem Verlagsgebäude der profil-Redaktion sitzt seit Jahren eine Frau und bettelt. Jeder hier hat sie oft gesehen. Ich habe mich gelegentlich mit ihr kurz unterhalten, manchmal gebe ich ihr etwas Geld. Sie möchte nicht, dass ihr Name genannt wird. Nennen wir sie S.
S. wird vorgeworfen, drei Mal eine Verwaltungsübertretung begangen zu haben. Am 12. November, am 19. November und am 21. November des vergangenen Jahres soll sie laut Strafverfügung "in aufdringlicher Weise um Geld oder geldwerte Sachen gebettelt“ haben. Dabei habe sie "den vorbeigehenden Passanten mit ihren Füßen den Weg verstellt“, diese mit den Worten "Hunger, Kinder, Krankenhaus usw.“ angebettelt und sie auch in rumänischer Sprache "beschimpft“, wenn ihr Betteln erfolglos gewesen sei. Die Geldstrafe beträgt jeweils 140 Euro.
Ich weiß ein wenig über S. Sie ist 30 Jahre alt und kommt aus Rumänien. Sie hat drei Buben, sechs, zehn und 16 Jahre alt. Die Älteren gehen in Wien zur Schule, der Kleine in den Kindergarten. S. hat ein weiches, rundes Gesicht. Sie lächelt, wenn sie spricht, und sie spricht leise. Ihr Deutsch ist schlecht. Ich habe S. unzählige Male betteln gesehen. Sie sitzt dabei meist auf einer Stufe und hält einen Pappbecher in der Hand. Sie nickt den Leuten freundlich zu und sagt nichts.
Fünf profil-Mitarbeiter, ich bin einer von ihnen, haben sich gegenüber der Landespolizeidirektion Wien als Zeugen gemeldet, um zu bestätigen, dass S. nie aufdringlich oder aggressiv bettelt und sich niemals Leuten in den Weg stellt. Unsere Darstellung widerspricht den Beobachtungen des "Meldungslegers“, eines Polizeibeamten, der laut der "Aufforderung zur Rechtfertigung“, die an S. ergangen ist, "seine Angaben vollinhaltlich aufrecht erhält“. Ein Irrtum seinerseits sei "ausgeschlossen“, da S. "schon des Öfteren vom Meldungsleger beanstandet“ wurde. Die angeblich beschimpften Passanten haben sich offenbar zu keiner Zeugenaussage gemeldet.
Als Journalist kann ich für diese Geschichte nicht in Anspruch nehmen, objektiv zu sein, da ich mich als Zeuge zur Partei gemacht habe. Ich gestehe zu, es wäre denkbar, dass ich mich wider besseres Wissen listig für eine aggressive Bettlerin einsetze, weil ich nichts dabei finde, regelmäßig angepöbelt zu werden.
Tatsächlich neige ich angesichts dieses Falles selbst zu einer - beherrschbaren - Aggressivität. S. hat bestimmt niemanden angeschnauzt. Würde sie aber dazu neigen, müsste sie sich bloß als cholerischer Autofahrer tarnen, dem ein Parkplatz weggeschnappt wurde. Es gäbe keinen Meldungsleger und keine Anzeige, und ich könnte mir eine Zeugenaussage sparen.