Beweisfotos: Ist ein „zivilisierter“ Krieg überhaupt denkbar?
Kriege seien sinnlos, „voll von Absurdität“, doch nicht, wenn man sie „als die Fortsetzung der politischen Bestrebungen mit veränderten Mitteln begreift“, so der viel zitierte Militärhistoriker Carl von Clausewitz. Das war die Debatte des 19. Jahrhunderts – und sie scheint anzuhalten. UN-Generalsekretär António Guterres sagt angesichts der Kriegsverbrechen im ukrainischen Butscha: „Das schlimmste Verbrechen ist der Krieg selbst.“
Tatsächlich gab es noch nie einen Krieg ohne Gräuel, Zerstörung von Lebensgrundlagen, sexueller Gewalt an Frauen. Über Jahrhunderte war Frauenraub eine anerkannte Kriegstat. Frauen wurden auf Sklavenmärkten versteigert oder an verdiente Kämpfer verschenkt. Plünderungen waren Teil des Söldnerlohns, Kriegsgefangene wurden ausgetauscht oder getötet.
Gleichzeitig gab es immer schon Regeln und „Kriegsbräuche“, auf die sich die Kontrahenten verständigten und die dann doch nicht eingehalten wurden. Entgrenzte Gewalt liegt im Wesen eines Krieges. Es gibt Bedingungen, die das fördern: Wenn ein Schwacher einem Starken gegenübersteht; Söldnerheere das Geschehen dominieren; ein Rachefeldzug geführt wird; rassistisches Denken, eine mächtige Ideologie oder Religion den Kampf befeuert. Zu diesem Schluss kommen die Historiker Sönke Neitzel und Daniel Hohrath in einer Analyse von Kriegen des Mittelalters bis heute.
Waffensysteme mit immer größerer Zerstörungskraft verlangten nach Kontrolle. 1907 wurde die Haager Landkriegsordnung aufgesetzt. Sie verbot Artilleriebeschuss von Großstädten, Tötung von Kriegsgefangenen, Plünderung, Brandschatzen und Verwüsten ganzer Landstriche.
Im Ersten Weltkrieg kam es dennoch zu Gewaltexzessen. Tausende Ukrainer in Galizien und Serben am Balkan wurden von der vorrückenden Habsburgerarmee standgerichtlich aufgeknüpft. Wegen des Verdachts, sie würden den Russen Militärstandorte verraten. Es reichte, dass ein Bauer nachts mit einer Lampe unterwegs war. Diese Kriegsverbrechen wurden nie geahndet, auch nicht der Einsatz von Giftgas oder der Völkermord an den Armeniern.
Erst nach dem Zivilisationsbruch des Holocaust und den Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht wurde ein internationaler Strafgerichtshof eingesetzt. Das Nürnberger Tribunal fällte 1946 wegen Durchführung eines Angriffskrieges, Verbrechen an der Zivilbevölkerung und an Kriegsgefangenen und des Massenmords in den Vernichtungslagern zwölf Todesurteile gegen die Spitzen des NS-Staats, drei lebenslange und vier langjährige Haftstrafen. Die alliierten Flächenbombardements von Hamburg und Dresden, der Abwurf von Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki wurden nicht geahndet. Angesichts der Monstrosität der NS-Verbrechen galten diese Handlungen als Notwehr, um Adolf Hitler zu stoppen und das Deutsche Reich zur Kapitulation zu zwingen.
Die Befreiung 1945 war eine Zeitenwende. In weiteren Kriegsverbrecherprozessen wurden Befehlsketten analysiert, Massaker namentlich zugeordnet.
Die Vergewaltigung von Frauen im Krieg war lange Zeit unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung. Anwältinnen machten im Bosnienkrieg darauf aufmerksam. Seit 2008 gilt die systematische, kriegstaktisch eingesetzte Gewalt an Frauen als Kriegsverbrechen. Berichte der ukrainischen Ombudsfrau Ljudmila Denisova, Amnesty International und Human Rights Watch legen nahe, dass dies gerade ukrainischen Frauen von russischen Soldaten angetan wird. Gesammelte Zeugenaussagen öffnen ein Panorama des Grauens. Dabei verweigern viele die Aussage. Was ihnen angetan wurde, sehen sie als Schande.
Beweise für Kriegsverbrechen sind vor Gericht schwer zu erbringen, selbst im Fall des Holocaust. Die NS-Führung verwischte ihre Mordspuren. Gaskammern wurden gesprengt, Massengräber wieder geöffnet, um die Leichen zu verbrennen. Zeugen konnten erst nach Kriegsende befragt werden. Simon Wiesenthal war einer der Ersten, der im April des Jahres 1945, nach der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, die Aussagen von Mithäftlingen protokollierte und Namen von Tätern sowie Tatorten sammelte.
Auch Bilder geben Hinweise auf Kriegsverbrechen: Fotos von zerbombten Städten, ausgebrannten Gerippen einstiger Wohnblocks, Krankenhäuser, Schulen und Theater. Doch wer gab den Befehl? Welche Einheit war vor Ort? Wer war der Kommandant? Satellitenbilder von Massengräbern in Butscha und anderen Städten deuten auf Kriegsverbrechen hin. Doch wer sind die Toten? Zivilisten? Soldaten? Wie kamen sie zu Tode?
Luftbilder amerikanischer Aufklärungsflugzeuge haben schon im Zweiten Weltkrieg auf Massaker aufmerksam gemacht.
Bei seiner Recherche über Lynchmorde an alliierten Fliegerpiloten, die sich mit Fallschirmen aus abgeschossenen Flugzeugen retteten und am Boden von einer aufgehetzten Meute erschlagen wurden, stieß der Militärhistoriker Georg Hoffmann in amerikanischen Archiven auf Luftaufnahmen aus den letzten Kriegswochen des Jahres 1945. Tiefflieger hatten damals Kameras auf die Flügel montiert, die aus einer Höhe von 200 Metern Bilder schossen, die in Serie, zeitversetzt, einander überlappend einen plastischen Effekt ergeben.
Man brauchte solche Fotos, um die Lage und Stärke der deutschen Verbände zu analysieren – aber auch, um zu wissen, wie die Rote Armee aufgestellt war und in welcher Stärke sie den Osten Österreichs besetzte. Graz lag damals im Ausläufer einer Frontlinie. Hoffmann und seine Kollegin Nicole Goll stießen auf Luftaufnahmen von der Belgier-Kaserne in Graz, einer SS-Sammel- und Ausbildungsstätte. Durch Zufall hatten sie damit einen Hinweis für den Massenmord an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern gefunden: Er liegt in gestochen scharfen Bildern eines Tieffliegers aus den ersten Apriltagen 1945, der die Belgier-Kaserne überflog.
Hoffmann fiel auf, dass auf den Fotos vom 2. April 1945 mehrere große Bombenkrater auf dem Kasernengelände zu sehen sind. Sie sind tief und deshalb auf dem Foto von dunkler Farbe. Auf Bildern der darauffolgenden Tage befindet sich dort, wo die Krater waren, ein heller Fleck. Die Krater waren offenbar zugeschüttet worden. Warum? Nach Recherchen stellte sich heraus, dass die erste Aufnahme zwei Stunden vor einem Massaker gemacht worden war, die anderen Fotos danach. Auf dem Platz innerhalb der Grazer Kaserne steht heute ein Gedenkstein, der an die Ermordeten erinnert.
Solche Luftaufnahmen müsse es auch von Rechnitz geben, sagte sich Hoffmann vor zwei Jahren. Denn auch Rechnitz lag in der Schneise der Aufklärungsflüge.
In Rechnitz waren in der Nacht vom 24. auf 25. März 1945 mehr als 200 jüdisch-ungarische Zwangsarbeiter ermordet worden. Im Schloss der Gräfin Margit Batthyány-Thyssen wurde ein Fest gefeiert, in dessen Verlauf ein Teil der Gäste, SS-Männer und lokale NSDAP-Funktionäre, zur Mordaktion aufbrachen. Ein Massengrab mit 18 Toten wurde zehn Tage später von Soldaten der Roten Armee, die Rechnitz einnahmen, entdeckt. Doch wo waren die 180 anderen? Ein Volksgerichtsverfahren 1948 lief ins Leere.
Der örtliche Gestapo-Mann hatte sich durch Flucht entzogen. Zwei Hauptzeugen fielen während des Verfahrens vermutlich einem Feme-Mord zum Opfer. Und die Dorfgemeinschaft umgab eine Mauer des Schweigens. Jahrzehntelang. Die Schriftstellerin Eva Menasse machte dies zum Thema in ihrem jüngsten Roman „Dunkelblum“. Das riesige Massengrab wurde bis heute nicht gefunden. Trotz zahlreicher Grabungen und Probebohrungen. Ein Großteil der Luftbilder der Alliierten von damals ist unter Verschluss.
Heute werden täglich Satellitenbilder, Drohnenvideos und Augenzeugenberichte aus der Ukraine ins Netz gestellt. Für sich allein beweisen sie noch kein Kriegsverbrechen, aber sie machen den Anfang.
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