Big Brother und wir: Covid-19(84)
Dass China bei der autoritären Nutzung neuer Technologien dem Rest der Welt auch in Zusammenhang mit der Corona-Krise einen Schritt voraus ist, mag nicht überraschen. Unbehagen bereitet es dennoch, wenn die Polizei mittlerweile Flugdrohnen einsetzt, um Personen, die sich im Freien aufhalten, abzufangen, abzumahnen und zurück ins Haus zu eskortieren. Anderswo ist man noch nicht ganz so weit – aber fast. In Spanien etwa bedient sich die Exekutive unbemannter, mit Lautsprechern ausgestatteter Fluggeräte, um etwa Parks zu räumen. Österreich hingegen setzt immer noch auf alte Funkstreifen-Schule: Da beschallen Uniformierte aus Fleisch und Blut von ihrem Dienstfahrzeug aus den Wiener Rathausplatz und fordern die Bürger mit dem tiefgründigen Satz, „Das Verweilen im Park gilt nicht als Spaziergang“, zum Verlassen der Grünanlage auf. Dass die Ordnungshüter hier eine deutliche Überinterpretation der ohnehin schon höchst weitreichenden Corona-Gesetze vornehmen, darf durchaus als Symptom einer problematischen Entwicklung gesehen werden.
Therapie mit Ansteckungsgefahr
Grundrechtseingriffe und Freiheitsbeschränken mögen im Moment bis zu einem gewissen Grad unausweichlich sein, um einer tödlichen Ausbreitung des Coronavirus, Herr zu werden. Doch diese Therapie birgt Risiken und Nebenwirken – und auch selbst eine gewisse Ansteckungsgefahr. Die Liste jener Entwicklungen, die – ganz abgesehen von den Ausgangsbeschränkungen – noch vor zwei Wochen zu einem Aufschrei geführt hätten und nun mehr oder minder widerspruchslos hingenommen werden, wird immer länger:
• Da gibt etwa ein Telekombetreiber Bewegungsdaten von Handynutzern an die Behörden weiter. Angeblich geschieht das so, dass keine Rückschlüsse auf Einzelpersonen gezogen werden können. Andere Länder setzen mittlerweile allerdings sehr wohl auf Mobilfunkdaten zur Quarantäneüberwachung.
• Die Bundesregierung ließ bei ihren Pressekonferenzen zunächst nur noch jeweils zwei Journalisten zu: einen von der Austria Presseagentur und einen vom ORF. Die anderen konnten der Agentur Fragen schicken. Begründet wurde das mit der Ansteckungsgefahr. Ein echtes Nachbohren, das gerade jetzt notwendig wäre, war dadurch freilich nicht möglich. Im Laufe der Woche wurde die Regelung wieder gelockert.
• Das Bundeskanzleramt bildet gemeinsam mit Polizeischülern einen „digitalen Krisenstab“. Leiter ist ausgerechnet der – bisher als Inbegriff für türkise Message-Control geltende – Medienbeauftragte des Bundeskanzlers. Die Mission: Man will „Falschinformationen“ aufspüren und bekämpfen. In einem „Aufdeckernetzwerk“ sollen sich auch Journalisten mit dieser Regierungsstelle austauschen. Das mag im ersten Moment nach einem berechtigten Anliegen klingen. Journalisten sind aber nicht dazu da, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, sondern um diese zu kontrollieren.
Grat zur Propaganda ist schmal
Wie notwendig unabhängige Berichterstattung ist, zeigt sich zum Beispiel angesichts des desaströsen Krisenmanagements in Tirol. Auch hat die Regierung, die nun Falschinformationen bekämpfen möchte, selbst vor kurzem noch verkündet, dass Berichte über bevorstehende Ausgangssperren „Fake-News“ wären. Ein paar Tage später traten dann die weitreichenden Ausgangsbeschränkungen in Kraft. Einiges spricht dafür, dass die Regierung Maßnahmen absichtlich nicht sofort und umfassend kommuniziert hat. Das mag mit dem Bestreben, einer möglichen Panik vorzubeugen, im Einzelfall gut begründbar sein. Der Grat zur Propaganda ist jedoch denkbar schmal. Das sind keine guten Voraussetzungen für jemanden, der nun hochoffiziell über Fakt oder Fake urteilen möchte.
Umfassende Transparenz
Einige der Maßnahmen der vergangenen Tage mögen mit der Bekämpfung des Coronavirus gut begründbar sein. Die Gefahr dieser Schocktherapie liegt jedoch darin, dass eine Grenze, die einmal überschritten wird, bis zu einem gewissen Grad auch für die Zukunft ihre Hemmwirkung verliert. Die Entscheidungsträger, aber auch die Bevölkerung sollten sich dieses Risikos ständig bewusst sein. Das einzige Gegenmittel ist umfassende Transparenz. Ansonsten gilt auch hier: Man gewöhnt sich leider an alles. Und bevor man es sich versieht, ist George Orwells beklemmende Überwachungsstaatsfiktion „1984“ ein Stück mehr Realität geworden.