Bilanz: Sechs Lehren aus dem Superwahljahr 2015
Von wegen Politikverdrossenheit: Bei der Landtagswahl in Wien stieg die Wahlbeteiligung um 7,1 Punkte auf 74,8 Prozent – ein Wert wie vor 40 Jahren. In Oberösterreich gingen Ende September sogar 81,6 Prozent zur Wahl. Auch die „Sommergespräche“ des ORF brachen alle Rekorde; insgesamt 2,9 Millionen Seher verfolgten die Interviews mit den Parteichefs.
Rekordarbeitslosigkeit, Flüchtlingskrise und der Streit um die Steuerreform haben das Land in den vergangenen Monaten repolitisiert. Noch nie schlug die Bundespolitik so direkt auf Wahlen in den Ländern durch. 3,8 Millionen Wahlberechtigte stimmten bei den vier Landtagswahlen in Wien, Oberösterreich, der Steiermark und im Burgenland nicht nur über ihre Landeshauptmänner, sondern vor allem auch über die rot-schwarze Koalition ab. Aus dem Superwahljahr 2015 lassen sich sechs Lehren destillieren.
Tiefe Gräben spalten das Land
Gleich und gleich gesellt sich gern. Diese Plattitüde scheint ihre Berechtigung zu haben, wenn man einer Befragung der Online-Partneragentur Parship glaubt. Demnach ist nur acht Prozent die politische Einstellung des Partners oder der Partnerin herzlich egal, zwei Drittel aller Singles hingegen wünschen sich jemanden mit ähnlicher politischer Einstellung.
Das wird kniffelig, zumindest bei Heteros – denn Männer und Frauen ticken politisch fundamental anders. Die Kluft, im Fachsprech „Gender-Gap“ genannt, zeigte sich deutlich im Wahljahr, besonders bei FPÖ und Grünen. In Oberösterreich etwa wurde die FPÖ unter Männern mit 38 Prozent stärkste Partei; bei Frauen punktete Blau mit 24 Prozent deutlich schwächer. Dafür sind die Grünen bei Wählerinnen mit 13 Prozent doppelt so stark wie bei Wählern. In der Steiermark hingegen wäre Franz Voves noch Landeshauptmann, hätten nur Frauen gewählt. Und nach den Männerstimmen wäre die FPÖ am Ruder.
Männer und Frauen sind anders – und nicht nur sie: Die Feinanalyse der vier Wahlergebnisse ergibt einen bemerkenswerten Befund: Durch Österreich zieht sich eine tiefe Kluft entlang der Spaltkriterien Ausbildung, Einkommen, Geschlecht, Alter, Zukunftseinstellung. Am deutlichsten, weil am stärksten verdichtet, ist dieses Phänomen in Wien zu beobachten. In den urbanen Bezirken innerhalb des Gürtels, wo Einkommen, Empathie gegenüber Flüchtlingen und Zufriedenheit mit der Lebensqualität in Wien höher sind, sind die Wahlsprengel rot eingefärbt, und die Grünen kommen auf 20-Prozent-plus-Ergebnisse, teils vor der FPÖ. Entlang der Peripherie dominieren die Wahlfarbe Blau und der Frust, ÖVP, NEOS und Grüne existieren dort praktisch nicht, die SPÖ führt ein Rückzugsgefecht. In den Flächenbezirken außerhalb des Gürtels legten die Freiheitlichen binnen eines Jahrzehnts um 20 Prozentpunkte zu. Fritz Plasser, der Altmeister der heimischen Politologenzunft, der schon viele Wahlen seziert hat, formuliert für seine Verhältnisse drastisch: „Es ist eine außergewöhnliche, erhebliche Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft zu konstatieren.“ Und, beinahe noch dramatischer und in den Worten von Wahlforscher Franz Sommer: „Wien ist eine soziokulturell zweigeteilte Stadt. Kommunikation und Integration zwischen diesen Polen funktionieren immer schlechter.“
Früher gelang es den großen Volksparteien SPÖ und ÖVP, den Graben zwischen den Milieus zu überbrücken. Das ist Geschichte.
Die FPÖ kommt an die Macht
In der Woche vor der Wien-Wahl mutierte Manfred Haimbuchner zum Pendler zwischen Linz und Wien. Der FPÖ- Landesparteiobmann von Oberösterreich beehrte sowohl die Wahlkampf-Abschlussveranstaltung der FPÖ am Stephansplatz als auch die Feier im Zelt am Wahlsonntag beim Rathaus. Dabei ist Haimbuchner derzeit ein viel beschäftigter Mann. In Linz verhandelt er mit Landeshauptmann Josef Pühringer über die Bildung einer schwarz-blauen Koalition. Erfolgswahrscheinlichkeit: sehr hoch. Die bisherige schwarz-grüne Allianz verlor im September ihre Mehrheit. Die ÖVP büßte sogar zehn Prozentpunkte ein. Großer Sieger war Haimbuchner, der dank seines Wahlerfolgs von 30,4 Prozent zum Landeshauptmann-Stellvertreter aufsteigen wird.
Johann Tschürtz hat dies bereits geschafft. Als Stellvertreter von SPÖ-Landeshauptmann Hans Niessl bastelte sich der burgenländische FPÖ-Chef ein Sicherheitsressort nach seinem Gusto. Seit Juli ist Tschürtz für geistige und zivile Landesverteidigung, Feuerwehrwesen, örtliche Sicherheitspolizei und das Landes-Polizeistrafgesetz zuständig. In der Steiermark blieb der FPÖ trotz Rekordzugewinn die Regierungsbeteiligung verwehrt. Sie reichte der ÖVP aber als Drohkulisse, um der SPÖ den Landeshauptmannposten abzutrotzen. In Wien steht der FPÖ aufgrund ihres Wahlergebnisses der Posten des Vizebürgermeisters zu.
2015 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die FPÖ von ÖVP und SPÖ in den Ländern endgültig aus der politischen Quarantäne geholt wurde. Das kommt den Vorstellungen der freiheitlichen Wähler entgegen, die ihre Partei keinesfalls nur als stichelnde Oppositionskraft sehen: 39 Prozent der FPÖ-Wähler bei der Wiener Wahl gaben an, der Wunsch, „die FPÖ soll zeigen, was sie kann“, sei ihr Wahlmotiv gewesen. Knapp stärkstes Wahlmotiv (40 Prozent) für Blau-Wähler war „die richtige Position der FPÖ in Asyl- und Ausländerfragen“. Das bedeutet aber auch: Hinter den Zugewinnen der Blauen steckt mehr, sie sind nicht monokausal mit der Flüchtlingsthematik zu erklären.
Wähler wechseln wie wild
Taktische Wähler, Spontan-Wähler, Wahlverweigerer, Leihstimmen: Der p. t. Wähler wird für Parteien und Wahlforscher zum Rätselwesen. Vor allem die Großparteien, die bisher auf feste Wählerstöcke aufbauten, verlieren ihre Stammwählerschaften. Einige derer, die diesmal in Wien SPÖ wählten, gaben vor fünf Jahren Grün ihre Stimme – und bei den Nationalratswahlen 2013 vielleicht den NEOS.
Eine Analyse nach der EU-Wahl 2014 ergab, dass nur noch 44 Prozent der Wähler sich mit einer Partei identifizieren. In den 1970er-Jahren hielten noch 65 Prozent ihrer bevorzugten Gesinnungsgemeinschaft die Treue. Die schwindende Loyalität der Bürger mag negativ für die Parteien sein, belebt aber die Demokratie. Ohne Wechselwähler gäbe es weder die NEOS noch das Team Stronach, das 2015 nur in der Steiermark antrat. Da Wechselwähler nicht berechenbar sind, setzte etwa die Wiener SPÖ in ihrer Kampagne auf die Nichtwähler. Mit Erfolg: Laut Wählerstromanalyse des Sora-Instituts holte Michael Häupl 27.000 Stimmen von früheren Wahlverweigerern.
Die Zahl der unfreiwilligen Nichtwähler steigt, was ein virulentes demokratiepolitisches Problem nach sich zieht: Ein Viertel der Wiener Wohnbevölkerung – knapp 400.000 Personen im wahlfähigen Alter – war mangels Staatsbürgerschaft gar nicht zur Landtagswahl zugelassen.
Der Kanzler und sein Malus
Bundeskanzler Werner Faymann war vergangene Woche verschnupft. Neben einer Grippe laborierte der SPÖ-Vorsitzende am 18. Minus, das unter ihm als Parteichef bei Wahlen eingefahren wurde. Zum Vergleich: Bei Vorgänger Alfred Gusenbauer war nach vier Wahlniederlagen das „übliche Gesudere“ unter den Genossen derart angeschwollen, dass er abtreten musste. Faymanns Bilanz: zwei Landeshauptleute verloren, in sechs Bundesländern auf historischen Tiefstständen angelangt, in Westösterreich aus den Landesregierungen geflogen und zur Kleinpartei degradiert.
Besonders bitter lesen sich die Detailanalysen des abgelaufenen Superwahljahres: In Oberösterreich, der Steiermark und Wien wurde die SPÖ von der FPÖ düpiert, die bei Arbeitern auf 60-plus-Ergebnisse kam. Bei den Angestellten lief es mit 17 Prozent Wähleranteil, etwa in Oberösterreich, auch nicht viel besser. Für Erwerbstätige ist die ehemalige Arbeiterpartei Sozialdemokratie nur mehr bedingt attraktiv, nur bei Pensionisten kann sie noch punkten. Folgerichtig erreichte die SPÖ in Wien ihr stadtweit bestes Ergebnis im Seniorenheim Atzgersdorf.
Über einen Kanzlerbonus, der Strukturschwächen seiner Partei überstrahlen könnte, verfügt Faymann nicht – im Gegenteil: Der Kanzlermalus zieht die SPÖ nach unten. Quer durch alle Bundesländer erklärt sich eine Zwei-Drittel-Mehrheit mit der Arbeit der Bundesregierung „eher oder gar nicht zufrieden“. Die hartgesottenen Regierungsfans hingegen kann man fast an einer Hand abzählen: Drei Prozent sind in Oberösterreich „sehr“ zufrieden, vier in Wien.
Bürgermeister Michael Häupl hat in Wien vorexerziert, dass die SPÖ mit beherzter Haltung punkten kann. Genau daran hapert es in der Bundespartei. Wofür Faymann eigentlich brennt, was er als Kanzler unbedingt erreichen will, das lässt sich auch nach knapp sieben Jahren Amtszeit nur erahnen. Reicht das? Manchen Genossen nicht, mit „wirwollenmehr“ und „Kompass“ existieren bereits zwei SPÖ-interne Kontra-Plattformen. Bisher hat der gewiefte Taktiker Faymann alle Rebelliönchen überstanden. Allerdings: Dass die SPÖ mit ihm als Spitzenkandidat in die Nationalratswahl zieht, die planmäßig im Jahr 2018 stattfinden soll, wollen nicht einmal mehr extrem loyale Parteigranden wie Wiens Vizebürgermeisterin Renate Brauner mit „Ja“ beantworten.
Djangos Pulver ist verschossen
Reinhold Mitterlehner wird zum Opfer seines eigenen Schmähs. Der Django-Effekt – von Medien erfunden, vom Vizekanzler geschmeichelt gepflegt – ist verpufft. Vor einem Jahr lag die ÖVP in der profil-Umfrage mit SPÖ und FPÖ gleichauf bei jeweils 25 Prozent. In der fiktiven Kanzlerfrage sprachen sich gleich viele Befragte für ÖVP-Obmann Reinhold Mitterlehner und den SPÖ-Vorsitzenden Werner Faymann aus. Ein Jahr später ist der Revolverheld entwaffnet: In der Sonntagsfrage liegt die ÖVP mit 21 Prozent hinter FPÖ (33 Prozent) und SPÖ (23 Prozent) auf Rang drei. Heinz-Christian Strache wäre der bevorzugte Regierungschef, Mitterlehner wurde durchgereicht und findet sich in der Kanzlerfrage hinter Faymann nur noch auf dem dritten Platz.
Die vier Landtagswahlen verliefen durchwachsen. Zwar eroberte der steirische ÖVP-Chef Hermann Schützenhöfer trotz Verlusten in Höhe von 8,7 Prozentpunkten den Landeshauptmann-Posten zurück, im Burgenland (minus 5,5 Punkte) und in Oberösterreich (minus 10,4 Punkte) setzte es allerdings deutliche Niederlagen. In Wien wurden die Schwarzen pulverisiert und landeten bei erbarmungswürdigen 9,2 Prozent.
Noch in der Wahlnacht hatte Mitterlehner die wichtigsten ÖVP-Vertreter zusammengetrommelt. Speed kills – wichtige Entscheidungen trifft der Chef gern möglichst schnell, ohne lange Einbindung der Gremien. Nachdem sich die programmierten Nachfolger des scheidenden Manfred Juraczka, Außenminister Sebastian Kurz und Staatssekretär Harald Mahrer, selbst aus dem Rennen genommen hatten, wurde Generalsekretär Gernot Blümel zum neuen Landesparteiobmann der Wiener ÖVP bestimmt. Mitterlehner musste Blümel nicht schubsen, der 34-jährige Niederösterreicher meldete sich freiwillig. Neuer Generalsekretär wird Mitterlehners oberösterreichischer Landsmann Peter McDonald, bisher Vorsitzender des Hauptverbands der Sozialversicherungsträger. Blümel galt als Organisator und guter Parteimanager, McDonald soll die Funktion – wie Mitterlehner sagt – wieder „politischer“ anlegen. Mit zugespitzten Attacken gegen den Koalitionspartner ist deshalb vermehrt zu rechnen. Das entspricht auch dem Naturell des neuen Generalsekretärs: Blümel, studierter Philosoph, ist ein analytischer, asketischer Typ, McDonald mehr oberösterreichische Frohnatur mit Provokationsqualitäten, die er zuletzt bei Angriffen gegen den „bezahlten Zusatzurlaub Kur“ unter Beweis stellte.
Die Grünen sind schlechte Verlierer
Es ist eine typische Reaktion von Altparteien: Am Wahlabend gibt es enttäuschte Gesichter, gar ein Minus vor dem Ergebnis, und trotzdem wird die gesunkene Zustimmung als klarer Auftrag zum Weiterregieren interpretiert. Frei nach dem Motto: Schuld am mangelnden Zuspruch sind alle anderen. In Oberösterreich, wo Schwarz-Grün die Mehrheit verlor und die Grünen stagnierten, waren es „widrige Rahmenbedingungen“ (Grünen-Chef Rudolf Anschober), in Wien böse „Leihstimmen“ (ganz so, als ob man Wähler gepachtet hätte).
Nach Abzug der Beleidigtheit bleibt als bittere Erkenntnis für die Grünen übrig: Sie führen eine Randexistenz als Minderheitenpartei für wohlsituierte Akademiker und haben für Wirtschaftskrisengeplagte keine Antworten. 22 Prozent der Uni-Absolventen im Burgenland wählten Grün – gegenüber lediglich zwei Prozent aus dem Spektrum der Wähler, die über einen Lehrabschluss nicht hinauskamen. Entsprechend karg fielen die Zugewinne in der Steiermark und in Oberösterreich aus; mehr als ein Plus von einem Prozentpunkt war in der schmalen Zielgruppe nicht zu holen. Oder: In den Wiener Gemeindebauten, in denen immerhin 500.000 Menschen leben, schafften die Grünen dürftige 2,87 Prozent. „Viele haben den Eindruck, dass wir uns zu wenig mit Themen wie Arbeitslosigkeit oder sinkenden Realeinkommen auseinandersetzen, das müssen wir ändern“, meint der Wiener Grüne Christoph Chorherr selbstkritisch.
Bei den jungen Hippen kiefeln die Grünen an der ernsthaften Konkurrenz durch die frischeren, unverbrauchteren NEOS – und für sozial Schwächere sind sie keine Andockstation, getreu dem ehemaligen grünen Slogan „Wir sind nicht für alle da“.
Das zeigte sich auch auf der elitistischen Wahlparty der Wiener Grünen, wo Jungspund Cengiz Kulaç ätzte: „Das Grüne Wahlergebnis in den sogenannten Arbeiterbezirken korreliert mit den Getränkepreisen auf der Wahlparty fast 100 Prozent. Ein Seidl Bier kostet dort 4,80 Euro.“