Mercan Sümbültepe
Bildung

Bildungsexpertin Erdost: Was sich nach der PISA-Studie ändern muss

In Österreich bestimmt Herkunft und Geld über die Bildungschancen von Jugendlichen, sagt die neueste PISA-Studie. Bildungsexpertin Ilkim Erdost über soziale Barrieren, Nachhilfe als Regel - und warum sich Geschlechterstereotype auf den Schulerfolg auswirken.

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In Österreich haben Migrationshintergrund, Bildung und Einkommen der Eltern einen stärkeren Einfluss auf die Schulleistungen als in anderen Ländern. Warum ist das so?

Ilkim Erdost

Österreich hat ein Bildungswesen, das auf die Halbtagsschule setzt. Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass zu Hause geübt, gelernt und die Hausübungen gemacht werden und dass die Schüler:innen von ihren Eltern angeleitet werden. Ohne das haben die Kinder und Jugendlichen de facto keine guten Chancen für einen ausreichenden Schulerfolg. 

Wird Bildung in Österreich vererbt?

Erdost

Die soziale Position entscheidet darüber, ob ein Kind gefördert, unterstützt oder auch kostenpflichtige Nachhilfe in Anspruch genommen werden kann. Wir haben ein Schulwesen, in dem die Eltern jährlich 120 Millionen Euro für Nachhilfe ausgeben - Tendenz steigend.

Nachhilfe ist keine Ausnahme …

Erdost

… Nachhilfe ist die Regel, zu Hause lernen ist die Regel. Schüler:innen, die die Ressourcen, Geld und Können zu Hause nicht haben, haben einen erheblichen Nachteil. Neu ist dieser Befund nicht, wir wissen das seit vielen Jahren. 

Leistung muss an den Schulen stattfinden und nicht an die Küchentische der Eltern delegiert werden.

Bildungsexpertin Ilkim Erdost

Auch die Kluft zwischen Schüler:innen mit ausländischen und einheimischen Eltern ist hier größer als im OECD-Schnitt. Wie kann das in einem Einwanderungsland wie Österreich passieren?

Erdost

Migration gibt es in der Zweiten Republik seit ungefähr 60 Jahren. Nichtsdestotrotz hat man es im Bildungswesen nicht geschafft, das als Normalität anzunehmen, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die in unterschiedlichen Stufen in die Schule einsteigen, nicht ausreichend Deutsch können oder unterschiedliche Bildungserfahrungen mitbringen. Das ist ein Versäumnis. Hier fehlt der politische Wille, die Erfahrungen von Expertinnen und Praktikern auch umzusetzen und zu sagen, dass zum Beispiel Deutschklassen eher stigmatisieren und den Kindern viel Zeit kosten, als dass sie Deutschförderung in der Regelschule bekommen.  

Bildungsminister Martin Polaschek hat in einer ersten Reaktion auf die PISA-Studie den Ausbau der Ganztagsschule gefordert. Würde das was bringen?

Erdost

Österreich hat lange zugewartet. Dennoch ist der Ausbau der Ganztagsschulen wichtig. Es wird noch viele Jahre brauchen, dass qualitätsvolle Ganztagsschulen die Regel sind. Was man nicht vergessen darf: Die Ganztagsschule wird die Probleme alleine nicht lösen. Wir brauchen zusätzliche Lehrer:innen-Stunden, die zum Üben zur Verfügung stehen und multiprofessionelle Teams, die aus Sozialarbeitern, Schulpsychologen, Erstprachen-Lehrer:innen und Elternberatung bestehen. Im Moment gibt es solche Angebote nur punktuell. 

OECD-Bildungskoordinator Andreas Schleicher, der für die PISA-Studie verantwortlich ist, meint, dass das gute PISA-Abschneiden von einigen asiatischen Ländern wie Südkorea, Japan oder Singapur daran liege, dass hier von den Schüler:innen viel gefordert werde und dass es wenig Toleranz für Fehlleistungen gebe. Wie sehen Sie das?

Erdost

Leistung muss an den Schulen stattfinden und nicht an die Küchentische der Eltern delegiert werden. Was klar ist, ist, dass Bildung in einer Zukunft, die durch Künstliche Intelligenz und Digitalisierung geprägt sein wird, nicht nur ein stumpfes Wiederkäuen auswendig gelernter, standardisierter Informationen sein kann. Neben den Grundkompetenzen und Kulturtechniken als Basis, wird es vor allem darum gehen, wie man Interessen, Spezialisierungen und Persönlichkeiten fördern kann. Heißt: Wie können sie sich kritisch in die Gesellschaft einbringen, wie können sie sich mit anderen zusammentun und komplexe Fragestellungen aus verschiedenen Perspektiven angehen?

Sie kritisieren die Zentralmatura. Ist ein gewisser Druck nicht auch sinnvoll?

Erdost

Ganz wichtig ist, dass das letzte Schuljahr einen gebührenden Abschluss bekommt und die Schüler:innen stolz zeigen können, was sie gelernt haben. Denn geleistet haben sie auf ihrem Schulweg schon viel. Heißt: weg vom standardisierten Lernen mit viel Druck, hin zu vertiefender kompetenzorientierter Projektarbeit, wo Schülerinnen und Schüler etwas in die Tiefe untersuchen können. Dazu kommt, dass sich 80 Prozent der Maturant:innen nicht ausreichend informiert fühlen, was sie nach der Schule machen können. Das letzte Schuljahr sollte Zeit bieten, sich zu orientieren, was danach kommt. 

Welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf die anhaltenden Probleme?

Erdost

Corona hat Spuren hinterlassen - nicht nur in den schulischen Leistungen, die wir jetzt im internationalen Vergleich sehen, sondern auch in der Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Suizidgedanken haben zugenommen, dazu depressive Verstimmungen und Essstörungen. Die Schüler:innen sind noch mitten in der Aufarbeitung der Pandemie.

Im Fokus standen bei der aktuellen PISA-Studie 15- bis 16-jährige Schüler:innen. Wird Bildung für diese Generation, Stichwort Social Media, heute überhaupt noch richtig vermittelt?

Erdost

Ich denke, die Lehrerinnen und Lehrer gehen durchaus individuell auf die Bedürfnisse der Schüler:innen ein. Die Frage ist aber, ob sie die Ressourcen und die Zeit haben, sich um die Jugendlichen zu kümmern, ob es die technischen Voraussetzungen und Infrastruktur an den Schulen und die richtige Medienvermittlung gibt. Allein Fake News sind ein großes Thema.  

Eine weitere Erkenntnis der PISA-Studie: Burschen sind noch immer besser in Mathematik, Mädchen beim Lesen. Lässt sich die geschlechtsspezifische Leistungsverteilung in Österreich durch anhaltende Rollenbilder erklären?

Erdost

Es gibt sicher Stereotype, die sich auf die Schulleistungen auswirken. Letztlich beginnt das Bewusstsein über das eigene Geschlecht und auch die soziale Position, die damit einhergeht, sehr früh. Bereits in der Elementarpädagogik gibt es einen Schwerpunkt, die Kinder im frühen Alter zu sensibilisieren, Geschlechterstereotype, die in der Gesellschaft verankert sind, aufzubrechen, dagegenzuhalten und Alternativen aufzeigen. Man darf nicht vergessen: Kinder und Jugendliche sind ein Spiegelbild der Erwachsenenwelt. 

"Junge Menschen brauchen Raum und Zeit, sie selbst zu sein und sich entfalten zu können, sei es in den Klassenzimmern, bei Konflikten, Streitigkeiten oder Liebesdramen am Schulhof."

Sie selbst haben den Verein der Wiener Jugendzentren geleitet. Was brauchen die Jugendlichen heute?

Erdost

Junge Menschen brauchen Raum und Zeit, sie selbst zu sein und sich entfalten zu können, sei es in den Klassenzimmern, bei Konflikten, Streitigkeiten oder Liebesdramen am Schulhof. Das tun sie aber nicht alleine, denn wir alle sind soziale Wesen. Das tun sie immer im Dialog mit anderen, entweder mit ihren Freunden, mit Altersgenossen oder mit Erwachsenen. Das heißt, Erwachsene müssen mit den Kindern in Beziehung bleiben und auch wenn sie Blödsinn machen, nicht abschreiben, sondern durch Krisen begleiten. 

Sie selbst haben türkische Wurzeln. Was hat Ihnen geholfen, Ihren Bildungsweg zu gehen?

Ich habe Menschen gehabt, die an mich geglaubt haben. Sei es im Privaten, in der Schule und im Beruf. Außerdem haben meine Eltern, als ich circa zehn Jahre alt war, einen sozialen Sprung durch bessere Beschäftigung geschafft. Damit konnten wir eine gute Wohnung beziehen und die Staatsbürgerschaft beantragen. Das hat viel Druck genommen und viele Türen geöffnet.

Interview: Philip Dulle

Zur Person

Ilkim Erdost ist als Bereichsleiterin für Bildung in der Arbeiterkammer Wien tätig. Die Wienerin mit türkischen Wurzeln kommt aus dem Bildungs- und Integrationsbereich. Zuvor war sie Geschäftsführerin des Vereins Wiener Jugendzentren und als Direktorin der Volkshochschulen in Ottakring und Hernals tätig.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Von 2009 bis 2024 Redakteur bei profil.