Bildungsforscherin: "Die Halbtagsschule ist nicht vernünftig"
"Bildung darf nicht flüchten!": Barbara Herzog-Punzenberger ist eine jener WissenschafterInnen, die diese Woche mit einem offenen Brief an die Verantwortung von Wissenschaft und Bildungspolitik für geflüchtete Menschen appellieren.
profil: Unser Bildungssystem kennt Verlierer und Gewinner. Ist es ein Zwei-Klassen-System?
Herzog-Punzenberger: Wir wissen, dass 20 bis 25 Prozent große Schwierigkeiten mit dem sinnerfassenden Lesen haben und dass es eine Gruppe von zehn bis 15 Prozent an frühen Bildungsabbrechern gibt. Das sind die echten Verlierer. So verlockend es ist, in zwei Polen zu denken, kann man diese Gruppe nicht allen anderen gegenüberstellen. Tatsächlich sehen wir eine Treppe. Die mittleren Leistungsdifferenzen springen nach den Bildungsabschlüssen der Eltern: Schülerinnen und Schüler mit Eltern, die Matura haben, schneiden deutlich schlechter ab als Akademikerkinder und deutlich besser als Kinder von Eltern mit einem Lehrabschluss.
profil: Das ist gemeint, wenn man davon spricht, dass Bildung vererbt wird.
Herzog-Punzenberger: Ja, wobei das nicht deterministisch betrachtet werden darf. Natürlich gibt es besonders resiliente Kinder, die trotz vieler Risikofaktoren herausragende Abschlüsse schaffen. Die Frage ist jedoch, wie es den Zehntausenden im statistischen Mittel geht, wie hoch etwa die Wahrscheinlichkeit für Kinder von Eltern mit Lehrabschluss ist, an die Uni zu kommen. Entscheidend ist, dass sie je nach Bildungsabschluss der Eltern niedrigere oder höhere Hürden bewältigen müssen, wie es etwa die Journalistin Melisa Erkurt in ihrem Buch über die Bildungsverlierer beschrieben hat. Ich weise darauf seit 20 Jahren hin, aber es hat ein besonderes Gewicht, wenn es jemand auch persönlich erlebt hat.
profil: Was ist Ihre wichtigste Botschaft als Predigerin in der Wüste?
Herzog-Punzenberger: Wir müssen zwei Dimensionen unterscheiden: Das eine ist die Leistung, das andere sind die Bildungsabschlüsse. Wir sehen, dass Kinder, die zum Beispiel in Mathematik genau gleich abschneiden, unterschiedliche schulische und berufliche Wege einschlagen, und zwar abhängig von den Bildungsabschlüssen ihrer Eltern.
profil: Wie kann das Bildungssystems hier gegensteuern?
Herzog-Punzenberger: Die Bildungs-und Berufsberatung in der Schule, aber auch außerhalb, ist ein ganz wichtiges Element, sonst starten Kinder mit unterschiedlichen Vorstellungen, was überhaupt möglich ist. Auch Eltern brauchen Beratung. Wer die Gesellschaft aus einer Perspektive von unten erlebt, ist oft unsicher, was der Sohn oder die Tochter schaffen kann und ob die Anstrengung sich später lohnt. Auch der Milieuwechsel ist oft ein Problem. Wie stellen Kinder, die plötzlich anders reden, sich anders geben, die Loyalität zu ihrer Herkunftsfamilie sicher?
profil: Von einer solchen Entfremdung handelt der autobiografische Bestseller "Rückkehr nach Reims" des Soziologen Didier Eribon. Wo zeigt sich das Problem für Sie in der Praxis?
Herzog-Punzenberger: Es gibt Vorbehalte gegen Berufsberatung, weil sie dazu führt, dass die Kinder für eine Ausbildung weggehen und Täler und Ortschaften entvölkert werden. Das Argument lautet: Wir brauchen auch noch Leute, die Bauern oder Metallarbeiter sein wollen. Als Forscherin ist man hin-und hergerissen. Wir sind in der Bildungsdebatte auf städtische Ballungsräume fixiert, wo die Situation mit jener in ländlichen Abwanderungsregionen nicht vergleichbar ist.
profil: Die Eltern müssen also mitspielen, sonst funktioniert es nicht?
Herzog-Punzenberger: Seit 20 Jahren zeigt sich in allen Programmen, dass sie einbezogen werden müssen, und zwar nicht mit Vorwürfen und Strafandrohungen, sondern mit Interesse für ihre Lebensrealität. Es reicht nicht, einen Elternabend zu machen und danach enttäuscht zu sein, dass manche nicht gekommen sind.
profil: Ist an der Ungleichheit in der Bildung die Einwanderung schuld?
Herzog-Punzenberger: Dafür gibt es keinerlei Belege. Es geht aus der Statistik ganz klar hervor, dass nicht der Migrationshintergrund, sondern die soziale Schicht eine übergroße Rolle spielt und in Österreich sogar deutlich mehr als in anderen Ländern. Einer der Gründe dafür ist, dass wir mit der Halbtagsschule sehr viel an die Eltern delegieren.
profil: Ein nur leicht zugespitztes Szenario: Am Nachmittag sitzen die Kinder aus der Bildungsschicht im Geigenunterricht oder im Mathematik-Labor. Andere fahren währenddessen die Rolltreppen im Einkaufszentrum auf und ab. Ist die Halbtagsschule ein Treiber der Ungleichheit?
Herzog-Punzenberger: Natürlich ist sie zu diskutieren, auch im Vergleich mit anderen Ländern. Die Halbtagsschule ist nicht vernünftig, aber sie ist nicht der einzige Treiber. Es zeigt sich auch, dass je schwieriger die soziale Ausgangslage an einem Standort ist, desto höher ist der Anteil an Schulleiterinnen und Lehrkräften, die sich von vornherein sagen: Die Kinder haben keine Chance, egal, was wir machen.
profil: Ist es Zeit für eine neue Gerechtigkeitsdebatte?
Herzog-Punzenberger: Auf jeden Fall. Der Unterricht muss aus meiner Sicht im Zentrum stehen. Unsere Lehrkräfte haben keinerlei soziologische Grundbildung und wissen nicht, wie Gesellschaft jenseits ihres eigenen Milieus oder über den "Tatort"-Krimi hinaus aussieht. Den Studierenden muss klargemacht werden, dass es auch Systemerhalter gibt, die keinen akademischen Abschluss haben. Wir müssen ihnen sagen: Das sind eure Kinder, für die die Schule gut genug sein muss. Es geht nicht nur um die bürgerliche Mitte, das sind 16 Prozent der Bevölkerung. Es geht um 100 Prozent.
profil: Was würde ein Unterricht, der näher an den Lebenswelten der Kinder dran ist, ändern?
Herzog-Punzenberger: Aus lerntheoretischer Sicht ist völlig klar, dass die Ergebnisse besser sind, wenn die Inhalte mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun haben. Sie sind dann auch motivierter, am Nachmittag noch die Hausübungen zu machen.
profil: Warum haben wir bis jetzt noch gar nicht über die gemeinsame Schule der 10-bis 14-Jährigen geredet?
Herzog-Punzenberger: Weil sie schon so gut ausgeleuchtet ist, sich aber politisch nichts bewegt. Es ist Teil des Problems, dass es-abgesehen von Vorarlberg, wo der schulpolitische Diskurs seit jeher mehr an Fakten orientiert ist-,in fast allen Bundesländern an Leadership fehlt. Bis heute gibt es im ganzen Land weder eine Universitätsprofessur für Bildungssoziologie noch für Bildungspolitik. Das ist ein Skandal.
profil: Allerspätestens seit den 1990er-Jahren müsste klar sein, dass Österreich ein Einwanderungsland ist. Wie kann es sein, dass Lehrer und Lehrerinnen immer noch für eine Gesellschaft ausgebildet werden, die es schon lange nicht mehr gibt?
Herzog-Punzenberger: Der Diskurs hält hartnäckig daran fest, dass Maßnahmen wie verpflichtende Kindergartenjahre oder Strafen für Eltern, die daheim nicht Deutsch sprechen, sicherstellen, dass alle SchülerInnen gleich starten. Aber schon die Kindergärten funktionieren nicht, wie sie sollten-und zweitens wandern Kinder natürlich auch noch in jedem anderen Alter zu.
profil: Woran fehlt es in den Kindergärten?
Herzog-Punzenberger: Studien zeigen, dass Kinder aus den eher bildungsfernen Milieus davon weniger profitieren als jene aus höheren Schichten. Unser Kindergarten gleicht sprachliche, inhaltliche und soziale Unterschiede zu wenig aus. Damit meine ich nicht Lesen, Schreiben, Rechnen, sondern inhaltliche Konzepte. Manche Kinder sind jeden Sommer am Meer, kennen Muscheln, Seesterne, Wellen und Sand, andere waren noch nie dort und haben keine Vorstellung davon. In den USA stellt man ein Planschbecken auf, um das Konzept von Strandurlaub gezielt zu besprechen, weil klar ist, dass Kindergärten diese Aufgabe haben.
profil: Wie reagieren Lehrerinnen und Lehrer, wenn man ihnen vorhält, dass sie Schüler auch deshalb verlieren, weil sie von deren Lebenswelten nichts verstehen?
Herzog-Punzenberger: Diesen Befund präsentiert zu bekommen, tut natürlich weh. Man kann sich darauf ausreden, dass die Ausbildung der vergangenen Jahrzehnte Ungleichheit nicht im Blick hatte, Weiterbildung nicht verpflichtend war. Allerdings ist die Schulpolitik in den vergangenen zehn Jahren dazu übergegangen, dass sich Standorte entwickeln müssen. Sie müssen sich Ziele setzen, Hilfe anfordern. Das passiert oft nicht, aus Angst, dass die Behörde sieht, was alles nicht funktioniert. Für Schulen, die nicht mitmachen, kann man keine Programme entwickeln. In anderen Ländern werden Schulen geschlossen, wenn Zukunftsperspektiven fehlen. Bei uns gibt es hin und wieder Zusammenlegungen, aber Schließungen werden vermieden, auch weil die Lehrergewerkschaft sehr stark ist.
profil: Wie sehr setzt sich in der Bildung eine urbane, kosmopolitische Mittelschicht nach oben ab?
Herzog-Punzenberger: Der Anteil jener, die sich in ihrer eigenen Wahrnehmung nach oben in die Privatschulen absetzt, liegt um die zehn Prozent. Noch einmal: Wesentlich ist die Dynamik der 70 bis 80 Prozent in der Mitte, was eine gemeinsame Schule und qualitativ hochwertige Ganztagsschule betrifft.
profil: Teilen Sie den Befund, dass Lockdown und Homeschooling die Gegensätze verschärfen?
Herzog-Punzenberger: Absolut. Der Landeshauptmann von Kärnten hatte im ersten Lockdown erheben lassen, wie viele Schüler zu Hause keinen Zugang zu Internet hatten. Es waren 6000 allein in Kärnten. In Expertengruppen, die sich mit der Digitalisierung der Schule beschäftigen, gilt das als Nebenschauplatz. Wenn jedoch die Familien, in denen zur sprachlichen Hürde auch noch technologische und finanzielle kommen, nicht sofort in alle Prozesse integriert werden, kann man jede Offensive gegen Bildungsverlierer gleich wieder vergessen.
Zur Person
Barbara Herzog-Punzenberger ist Professorin für Schulpädagogik und allgemeine Didaktik und beschäftigt sich seit 20 Jahren mit sozialen Fragen in der Bildung. Sie ist Mitglied des Forschungszentrums "Migration und Globalisierung" sowie des Doktoratskollegs "Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung" der Universität Innsbruck.