Bildungsforscherin Spiel: "Verzweifeln ist keine Option"
profil: Der aktuelle Schulstart ist der dritte in der Pandemie und der wahrscheinlich schwierigste seit Jahrzehnten. Stichwort: Ukraine-Krise, Teuerung, Corona. Was brauchen Schülerinnen und Schüler jetzt am meisten?
Spiel: Wenn Lehrer:innen und Eltern mit ihnen entsprechend ihrem Alter über alles reden, glaube ich nicht, dass sie sich total bedroht fühlen. Am ehesten noch die älteren Kinder. Unsere Studie zum Lernen unter Covid-19-Bedingungen zeigt, dass sie depressiver sind und mehr Ängste haben. Grundsätzlich sind Kinder neugierig. Bei entsprechender Förderung entsteht daraus Lernmotivation, sodass die Mehrheit trotzdem mit Freude in die Schule kommt.
profil: Ist an der Niedergedrücktheit der Älteren vor allem die Pandemie schuld?
Spiel: In der Pubertät geht es um Identitätsfindung und eine neue Beziehung zu den Eltern. Dazu gehört, dass man sich erprobt, an Grenzen geht, sich mit Gleichaltrigen austauscht. In den Lockdowns war das nicht möglich. Dazu kommt, dass diese Generation sich des Klimawandels und der Beeinträchtigung ihrer Zukunft bewusst geworden ist. Sie sind in Medien und sozialen Plattformen einer Flut an negativen Meldungen ausgesetzt.
Mit Faktenwissen allein bereitet man nicht auf die Zukunft vor. Es braucht auch Mut, Selbstvertrauen, Kreativität."
profil: Wie kann die Schule hier gegensteuern?
Spiel: Sie sollen hier erfahren, dass sie diesen Bedrohungen nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern es einen Weg aus der Ohnmacht gibt, und sei es in kleinen Schritten. Sie sollen von einer passiven in eine aktive Rolle kommen. Dazu gehört, Neues auszuprobieren, und wenn es nicht funktioniert, das nicht als Scheitern zu betrachten. Im Gegenteil: Wenn man erkannt hat, dass eine Strategie nicht funktioniert und man andere entwickeln muss, ist das ein Lernerfolg. Mit Faktenwissen allein bereitet man sie nicht auf eine komplexe Zukunft vor. Es braucht auch Mut, Selbstvertrauen, Kreativität. Oft sucht die Schule noch zu sehr nach Fehlern ...
profil: statt die Kinder zu stärken?
Spiel: Wir wissen aus unseren Studien, dass Lernmotivation und Wohlbefinden von der Erfüllung psychologischer Grundbedürfnisse abhängen: Dazu gehört das Erleben von Kompetenz: Ich habe etwas geschafft. Außerdem das Erfahren von Autonomie, das heißt, es wird nicht alles vorgeschrieben. Und drittens das Gefühl sozialer Eingebundenheit, sprich, ich fühle mich unterstützt. Lehrpersonen und Eltern sollten daher die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse ermöglichen.
profil: Das Gros der jungen Menschen lernt doch eher, dass es für Aufgaben eine einzige richtige Lösung gibt.
Spiel: Davon müssen wir wegkommen. Viele Lehrerinnen und Lehrer wären überrascht, was Kindern und Jugendlichen alles einfällt, wenn man sie mit offenen Problemen konfrontiert, ihnen viel Freiraum lässt und Verantwortung gibt. In der Praxis hängen solche Projekte oft an engagierten einzelnen Lehrpersonen. Besser wäre dafür eine systematische Schulentwicklung und gemeinsame Weiterbildung für alle.
profil: Sind Lehrerinnen und Lehrer für die gesellschaftlichen Verwerfungen und Polarisierungen, die sich in den Klassen widerspiegeln, grundsätzlich ausgebildet?
Spiel: Die neue Pädagog:innenausbildung ist sehr breit angelegt. Allerdings: Wann hatten wir je eine Situation wie heute, mit Pandemie, Krieg, Klimawandel, nicht zu reden von künftigen Flüchtlingen aus Afrika, wo es so heiß wird, dass Menschen dort nicht mehr werden leben können. Man weiß noch gar nicht, was die Lösungen sein werden. Wir erleben eine nie da gewesene Verunsicherung. Man kann nicht von jedem Lehrer, jeder Lehrerin verlangen, Experte für soziale Probleme, die Behandlung von psychischen Erkrankungen und die Bewältigung von Krisen aller Art zu sein und nebenbei ein Fach zu unterrichten. Wir brauchen mehr Schulpsychologen und Sozialarbeiter:innen, um sie zu entlasten. Diese Forderung ist nicht neu. Sinnvoll wäre darüber hinaus, notwendige Expertise auf die Schulebene zu verlagern, das heißt, dass eine Lehrperson speziell ausgebildet wird und diese das Kollegium berät und unterstützt.
profil: In den vergangenen Jahren wurden Schulen auf- und zugesperrt, junge Menschen sollten ihre Großeltern nicht besuchen. Nun startet man ohne Masken und PCR-Tests, selbst eine Infektion soll kein Hindernis sein, in die Klasse zu kommen. Ist das nicht eine verwirrende Botschaft, dass inzwischen fast alles egal ist?
Spiel: Ich würde mit den Schüler:innen, vor allem mit den Älteren, über einen sinnvollen Schutz sprechen. Wahrscheinlich würde ich auch dafür plädieren, Masken zu tragen. Sie sind nicht angenehm, aber auch keine gravierende Einschränkung. Jedenfalls sollte man Kinder auch hier einbeziehen. Es ist grundsätzlich wichtig, sie zu empowern und so auf eine komplexe Zukunft vorzubereiten.
profil: Dass sie einen guten Unterricht brauchen, wird kaum jemand bestreiten. Wie muss der heute aussehen? In welchen Lehrplänen kommen Mut und Selbstvertrauen vor?
Spiel: Ich plädiere dafür, den Lehrstoff in zwei Bereiche zu teilen. Einen Pflichtteil, der alles umfasst, was gekonnt werden muss, damit man darauf aufbauen kann. Die Kür wäre dann, dass jeder und jede sich entsprechend den eigenen Stärken und Interessen vertiefen kann. Man lernt so viel lieber, besser und mehr. Und in der Zukunft werden wir Menschen mit vielen unterschiedlichen Fähigkeiten brauchen, die gemeinsam Probleme bewältigen.
profil: Viele kriegen derzeit zu Hause mit, dass die Eltern sich sorgen, im Winter nicht mehr heizen zu können. Sollten Schulen das auch aufgreifen? Und wie?
Spiel: Ich wäre sehr dafür. Man könnte Videos mit Expert:innen drehen, die in der Klasse gezeigt und gemeinsam besprochen werden. Danach könnte man erarbeiten, wie man Strom und Gas sparen kann, und überlegen, wie das konkret in den jeweiligen Familien geschehen kann. Kinder lieben es, ihre Eltern zu erinnern, wenn sie vergessen haben, die Stand-by-Funktion auszuschalten, oder wenn sie zu lange duschen. Klassen oder Schulen, die besonders gut beim Energiesparen sind, könnten ausgezeichnet werden, Medien könnten darüber berichten.
profil: Bis 2030 bleibt jede fünfte Lehrerstelle unbesetzt. Es gibt Gerüchte, dass angesichts des Lehrkräftemangels die Ausbildung verkürzt werden könnte.
Spiel: Da wäre ich absolut dagegen. Wir haben sehr für eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung gekämpft, sowohl für die Primarstufe als auch für die Mittelstufe, und auch dafür, nicht nach Schultypen, sondern nach Altersstufen auszubilden. Denn auch die Herausforderungen sind größer als vor 20 Jahren und werden sich wohl noch vergrößern. Man würde ja wohl bei einem Ärztemangel auch nicht die Medizinausbildung verkürzen.
profil: Sie sagen, wir brauchen weder Superlehrer noch Superkinder. Wie kann das Bildungssystem vermitteln, dass man nicht alles aus eigener Kraft schaffen muss?
Spiel: Indem man Solidarität stärkt und öfter gemeinsam an Problemen arbeitet. Ich erinnere mich an einen Schüler, der im Rahmen einer Studie angegeben hat, er sei froh, den einzigen Computer in der Familie zwischen ein und zwei Uhr früh für Hausaufgaben zur Verfügung zu haben. Für diese Realitäten sollten wir ein Auge haben, weil der Zusammenhalt verloren geht, wenn zu viele Menschen aufgrund schwacher Bildung nicht am gesellschaftlichen Leben und am Arbeitsmarkt teilnehmen. Die Entwicklung der vergangenen Jahre war in dieser Hinsicht nicht einfach. In Social-Media-Gruppen denken alle ähnlich, man freut sich über Likes. Eine andere Meinung zu vertreten, ist schwierig. Oft ist die einzige Lösung, die Gruppe zu verlassen, wenn der Druck zu groß wird. All das könnte man in der Schule aufnehmen. Und wir sollten auch mehr darüber nachdenken, wie man überforderten Eltern helfen könnte. Eine bereits erprobte Lösung ist der Ausbau von Kindergärten zu Beratungsstellen für Eltern.
profil: In kaum einem anderen Land hängt der Bildungserfolg dermaßen stark am sozioökonomischen Status des Elternhauses wie in Österreich. Welche Folgen wird die Teuerung haben?
Spiel: Natürlich muss man in dieser Situation helfen. Man kann Menschen ja wohl nicht einfach erfrieren oder verhungern lassen. Und auch die Kinder, die durch die Lockdowns aus dem Lernen herausgefallen sind, brauchen Unterstützung und Förderung. Aber wenn man wirklich für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen will, gibt es zwei vordringliche Maßnahmen mit einem hohen Return on Investment: Erstens eine hochwertige, frühe Förderung in der Elementarstufe, wo Bildungsnachteile bereits vor Schuleintritt ausgeglichen, aber auch Begabungen identifiziert werden können. Und zweitens Ganztagsschulen, die nebenbei auch die Eltern entlasten. Darüber hinaus sollten sich Schulen noch viel mehr öffnen.
profil: Auch die Ukraine-Krise muss bewältigt werden. Aktuell sind rund 11.000 ukrainische Kinder im Schulsystem. Welche Fehler der Vergangenheit sollte man sich jetzt sparen?
Spiel: Schulen spielen bei der Integration eine herausragende Rolle. Studien zeigen, dass sich Freundschaften außerhalb sehr auf die eigene Kultur beschränken, in der Schule sind die Freundeskreise weitaus heterogener. Wir haben aus der Migrationsforschung gelernt, dass es nicht nur um die Vermittlung unserer Kultur, unserer Sprache geht, sondern auch um das Hineinschauen in andere Kulturen, um diese besser zu verstehen. Und ganz wichtig ist es, Lehrerinnen, die beispielsweise in der Klasse mit vielen jungen Männern aus anderen Kulturen konfrontiert sind, die sich nicht an Regeln halten wollen, den Rücken zu stärken. Die Schulen wiederum brauchen Unterstützung von der Schulverwaltung.
profil: Welche Position vertreten Sie bei der Deutschförderung?
Spiel: Ich meine, dass man die besondere Lage der Schule beachten muss. Gibt es viele Kinder, die nicht Deutsch können? Wie sind die Räumlichkeiten? Wie viele Lehrpersonen haben eine Ausbildung für Deutsch als Zweitsprache? Wenn eine Schule auf einen Schlag viele ukrainische Kinder bekommt, wird man sie in eine Klasse geben, auch wenn das nicht nur Vorteile hat und die Wahrscheinlichkeit, dass sie untereinander Ukrainisch sprechen, hoch ist.
profil: Gemessen an der aktuellen Gemengelage klingen Sie eigentlich recht optimistisch.
Spiel: Diese Krisen sind problematisch. Aber wir schauen meist nur auf die Verluste. Es gibt jedoch auch Gewinne. Nie haben Schülerinnen und Schüler so viel über Digitalisierung und Selbstorganisation gelernt wie in der Pandemie, und damit auch die Erfahrung gemacht, dass sie Herausforderungen meistern können. Nie war das Bewusstsein für die Klimakrise stärker ausgeprägt und auch die Bereitschaft, etwas zu tun. Verzweifeln ist keine Option, weder für die Kinder noch für das Lehrpersonal.
Christiane Spiel
Christiane Spiel studierte Mathematik, Geschichte und Psychologie. 2000 wurde sie auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Bildungspsychologie und Evaluation an die Universität Wien berufen. Spiel ist Herausgeberin internationaler Fachjournale und Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher und bildungspolitischer Gremien im In- und Ausland. Vergangene Woche wurde ihr der Titel Ehrensenatorin der Universität Wien verliehen.