Bildungsmisere: Warum Lehrer Angst haben, frei zu reden
Von Clemens Neuhold
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Es war der Schulaufreger im Frühjahr. Die Stadt Wien stellte in fünf verschiedenen Bezirken Container-Schulen für insgesamt 45 zusätzliche Klassen auf. Als Grund wurde der starke Zuzug schulpflichtiger Kinder aus der Ukraine und aus Syrien über die Familienzusammenführung genannt. Elternvereine protestierten, Anrainer gingen auf die Barrikaden, Boulevard-Medien überschlugen sich in Spekulationen, was da auf die Schulen zukommt. Ein Teil der Direktorinnen und Direktoren schwieg sich aus. Der andere sprach offen über Sorgen, was es heiße, wenn ein Teil des Sportplatzes durch Container verstellt oder die Kantine plötzlich doppelt besetzt sein wird. Diese Direktoren sparten nicht mit Kritik.
Im Sommer wurden die Container planmäßig errichtet. Jetzt wäre es spannend gewesen, zu bilanzieren, welche Ängste sich bewahrheitet haben und welche nicht.
Doch nun sind auch die auskunftsfreudigen Direktorinnen und Direktoren verstummt. Auf Anrufe oder SMS reagieren sie nicht mehr. Was dahintersteckt, darüber lässt sich nur spekulieren. Hat sich die Aufregung in Luft aufgelöst? Oder gab es einen Rüffel vom Dienstgeber, dem Land Wien in Gestalt der Bildungsdirektion?
Ermahnung, dann Vorladung
profil ist ein Fall einer Wiener Lehrerin bekannt, die im vergangenen Schuljahr über Gewaltexzesse an ihrer Mittelschule berichtete. Sie nannte gegenüber dem Medium weder ihren eigenen Namen noch den Namen ihrer Schule. Nur den Bezirk. „Ich konnte nicht mehr. Und hatte keine Unterstützung. Es war ein Hilfeschrei“, sagt sie zu profil. Er wurde gehört. Aber anders. Sie bekam Besuch vom Fachaufseher der Bildungsdirektion. Er ermahnte sie, öffentliche Äußerungen über die Zustände an ihrer Schule künftig zu unterlassen. Als ihr Bericht dennoch weitere Kreise zog, wurde sie direkt in die Bildungsdirektion zitiert. Dort wurden ihr ernste dienstrechtliche Konsequenzen angedroht, sollte sie weiter über Schulinterna sprechen.
Jetzt ist sie Personalvertreterin bei der Gewerkschaft. Ihren Namen will sie dennoch nicht in der Zeitung lesen. Zum Schutz ihrer Anonymität konnten wir die Bildungsdirektion nicht mit ihrer Version der Geschichte konfrontieren.
Die täglich in den Spiegel schauen
Schulen sind ein Frühindikator für Entwicklungen. Ein Spiegel der Gesellschaft. Lehrerinnen und Lehrer schauen Tag für Tag rein. Was sie sehen, ist höchst relevant für die Gesellschaft. Woher kommt diese Angst, auch der Öffentlichkeit Einblicke in ihre Arbeitswelt zu geben? Welche Grenzen sind ihnen durch das Dienstrecht gesetzt? Tragen sie einen Maulkorb oder haben sie ihn sich selbst verpasst?
Es gab wohl noch nie so viel Redebedarf über das Schulwesen wie heute. In Wien versteht beinahe die Hälfte der Erstklassler kaum Deutsch. In ganz Österreich liegt der Anteil dieser „außerordentlichen Schüler“ bei 21 Prozent. Selbst in Tirol hat sich diese Zahl in fünf Jahren auf 15 Prozent verdreifacht.
Gegensteuern ist schwer. In Wien schmeißen bis zu zwei Lehrerinnen und Lehrer pro Tag hin und kündigen. Das verschärft den Personalmangel. Die Zahl der Suspendierungen von Schülerinnen und Schülern wegen Gewalt hat sich in nur fünf Jahren auf 1300 verdoppelt und in Wien auf über 800 Fälle fast verdreifacht.
„Kein Lehrer soll Angst haben, die Wahrheit zu sagen und frei zu sprechen“, sagte der scheidende Unterrichtsminister Martin Polaschek im profil-Interview im Februar 2024. Es sei wichtig, zu hören, was funktioniert und was nicht. Von seinem Ministerium gebe es deshalb „überhaupt keine Tendenzen, jemandem den Mund zu verbieten“. Zusatz: „Das sehen hoffentlich auch die Bildungsdirektionen so.“
Wie die Realität aussieht
- „Wer unser Gesprächspartner ist, wird vom ,Falter‘ nicht verraten. Warum? Weil die Wiener Bildungsdirektion ungefilterte Berichte aus der Praxis alles andere als gerne sieht, liest und hört.“
- „Alle Personen, mit denen die ,Kleine Zeitung‘ sprach, wollen anonym bleiben.“
- „Die Direktorin einer Mittelschule erzählt im Gespräch mit der ,Krone‘ über den harten Alltag in ihrem Job. Sie möchte anonym bleiben. Zu groß ist die Angst vor Konsequenzen und Repressalien.“
- „Auch sie will anonym bleiben. Alles andere mache, wie sie zur ,Presse‘ sagt, zu viele Probleme.“
Ein kleiner Auszug aus Storys, die heuer über den Schulalltag erschienen.
Als profil Lehrerinnen und Lehrer auf einer Demo vor der Wiener Bildungsdirektion um Einblicke in ihren Arbeitsalltag bat, wollten zunächst alle reden. Nach und nach wurden die Gespräche immer mehr anonymisiert – oder ganz zurückgezogen. Je schwieriger der Schultyp, desto größer war die Angst vor Konsequenzen. Mit Namen und Foto wollten am Ende nur zwei Lehrer von vergleichsweise gut funktionierenden Bundesrealgymnasien, eine Sonderpädagogin nach Rücksprache mit ihrer Chefin sowie ein Personalvertreter vorkommen.
Eine ältere Volksschullehrerin gab an, kurz vor dem Burnout zu stehen. Sie drückte uns ihren offenen Brief in die Hand. Darin hatte sie zahlreiche Forderungen artikuliert, wie einen „Leitfaden Medienkonsum“ gegen das an ihrer Schule verbreitete „TikTok-Mobbing“ oder eine „Arbeitsgruppe Islam“, die Lehrern erklärt, was sie bei Anzeichen religiöser Radikalisierung tun können. Im Gespräch mit profil gab sie weitere höchst relevante Einblicke ins Schulsystem, ohne ihre Schule zu nennen. Doch kurz vor Veröffentlichung wurde ihr alles zu heiß. Und sie zog ihre Aussagen zurück.
Kritik „nicht empfohlen“
Eine Angst, die immer wieder von anonymen Gesprächspartnern artikuliert wird: die Versetzung. Unterrichtsminister Polaschek betonte im Interview: „Lehrerinnen und Lehrer sind dienstrechtlich sehr gut geschützt, eine Versetzung ohne Einbindung der Personalvertretung ist nicht möglich.“ Doch es gibt auch ganz andere Signale.
Einen Leitfaden für den Umgang mit Medien gab vor zwei Monaten die Salzburger Bildungsdirektion heraus. Darin wurde es dezidiert „nicht empfohlen“, gegen die Meinung der Behörde zu argumentieren. Von einigen Direktorinnen und Direktoren wurde das Schreiben eindeutig als „Maulkorb-Erlass“ aufgefasst.
„Vorgesetzte sind zu unterstützen“
Laut Wiener Bildungsdirektion gibt es „so etwas wie ein Redeverbot nicht“. Sowohl Lehrer als auch Direktoren würden häufig von Medien zu verschiedenen Themen interviewt, unter Nennung des Namens und der Schule, sagt eine Sprecherin. Pädagoginnen und Pädagogen müssten Interviews davor mit ihren Schulleitungen absprechen. Die Bildungsdirektion sei wegen Drehgenehmigungen zu informieren, wenn Interviews direkt in den Schulen stattfänden.
Worüber Lehrerinnen und Lehrer mit Medien sprechen dürfen, darauf legt sie sich nicht fest. Aber sie verweist auf mehrere Bestimmungen im Dienstrecht: die Pflicht der Bediensteten, „Vorgesetzte zu unterstützen“, „dienstliche Aufgaben sachlich und unparteiisch wahrzunehmen“ und „das Vertrauen der Allgemeinheit“ in die Arbeit der Behörden nicht zu erschüttern.
Zusatz: „Bei Verstößen kann es zu einem Dienstgebergespräch kommen, in Folge dessen kann eine Ermahnung und Weisung erteilt werden.“ Das klingt dann schon deutlich anders als bei Polaschek.
Wer tut sich das noch an?
Wenn eine Lehrerin über Gewalt an einer Mittelschule berichtet, sind ihre Einblicke geneigt, das Vertrauen der Allgemeinheit ins Schulsystem zu erschüttern. Es kann Nachwuchslehrer abschrecken, den Beruf zu ergreifen. Andererseits können Zustände – auch für künftige Lehrerinnen und Lehrer – nur verbessert werden, wenn man sie kennt.
Wem ist geholfen, wenn strukturelle Missstände im Bildungssystem nicht ans Licht der Öffentlichkeit kommen? Den direkten Einblick in die Klassenzimmer haben nun mal nur Lehrerinnen und Lehrer.
Amtsgeheimnis vs. Meinungsfreiheit
Was deren freie Meinungsäußerung im öffentlichen Dienst zusätzlich erschwert: das Amtsgeheimnis. Darunter fallen nicht nur Informationen über Schüler und deren Familien, sondern auch interne Schulangelegenheiten.
„Natürlich gibt es auch schulische Bereiche wie die Notenvergabe in Konferenzen, die klassisch unter das Amtsgeheimnis fallen. Als Lehrer und Schulleiter haben wir aber das Recht und sogar die Pflicht, auf Missstände im Schulsystem aufmerksam zu machen“, sagt der oberste Pflichtschulvertreter, Paul Kimberger. In ganz Österreich hätten „behördliche Drohungen und Einschüchterungen“, davon abzusehen, zugenommen. „In Wien ist die Tendenz am krassesten.“
Die leeren Container
Ist das die Antwort auf die „dramatische“ Situation an heimischen Schulen, von der nun sogar schon Wiens Bildungsstadtrat und NEOS-Politiker Christoph Wiederkehr spricht? Nach dem Motto: Deckel fester drauf?
An den Container-Standorten scheint das im Frühjahr erwartete Drama bisher jedenfalls ausgeblieben zu sein. Von den insgesamt 45 möglichen Klassen werden laut Büro Wiederkehr erst zehn genutzt. Zum Teil als Freizeitraum. Der Familiennachzug hat sich eingebremst. Neue Klassen wurden in fixen Gebäuden eröffnet. Alles gut gegangen also? Aus Sicht der Stadt: Ja. Andere Sichtweisen könnten dem Amtsgeheimnis unterliegen.
Clemens Neuhold
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.