Bobo-Blues: Die Grünen stecken in der Sinnkrise
Selbst in der bestgeölten Politikmaschinerie kommt es gelegentlich zu Eruptionen, die etwas Echtes ans Tageslicht befördern: So geschah es vergangenen Freitag mit der Arroganz der Macht, verkörpert durch die Wiener SPÖ, die ein für sie günstiges Wahlrecht behielt, indem sie einen Grünen auf ihre Seite lockte und die versammelte Opposition auflaufen ließ.
Ein ähnlich ungerechtes Wahlrecht – nur damals zugunsten der ÖVP – hatte einst der Säulenheilige der SPÖ, Bruno Kreisky, im Jahr nach seinem Nationalratswahlsieg 1970 geändert. Doch das scheinen die Sozialdemokraten verdrängt zu haben.
Die Grüne Rathaus-Truppe schreit „Verrat“ und verdrängt dabei ihrerseits, dass sie sich in den vergangenen fünf Jahren – im übertragenen Sinn – hat kaufen lassen. Mit ihren Stimmen wurde das ohnehin schon hohe Werbebudget der Stadt Wien im Wahljahr 2015 noch einmal um 60 Prozent erhöht, unter Berufung auf den Eurovision Song Contest. Mit ihren Stimmen fließen weiterhin pro Jahr zehn Millionen Euro in Zeitungsinserate, und zwar vor allem in die Boulevard-Blätter „Heute“, „Österreich“ und „Kronen Zeitung“. Mit ihrem Stimmen darf der Presse- und Informationsdienst der Stadt Wien jährlich 50 Millionen ausgeben und ein 130 Millionen schwerer Vertrag mit dem SPÖ-nahen Bohmann-Verlag weiterlaufen. Interne Kritiker dieser Beschlüsse wurden mit Loyalitätsappellen erpresst.
Mini-Reform in letzter Sekunde
Die (notariell) in Aussicht gestellte Wahlrechtsreform ließen die Grünen erst einmal fünf Jahre lang liegen. In allerletzter Sekunde war man über eine Mini-Reform noch handelseins geworden. Diese hätte die SPÖ bei der kommenden Wahl im Oktober 2015 – gemessen am vergangenen Wahlergebnis – ein Mandat und bei späteren Wahlen zwei oder drei Mandate gekostet. Doch wurde der Kompromiss über soziale Netzwerke verbreitet und von Grün-Politikern gefeiert, ehe der SPÖ-Vorstand damit befasst worden war – und damit war er Makulatur. Vergangene Woche war der Poker beendet. Da hatte sich der Integrationssprecher der Grünen, Senol Akkilic, bereits der SPÖ verpflichtet.
Der „Verrat“ des Senol Akkilic hat ihn selbst vermutlich tiefer erschüttert als die ausgetricksten Grünen. Der 50-jährige Österreicher kurdischer Herkunft ahnte nicht, welche Lawine er lostreten würde. In diesem Sinn war er ein naiver Tor. Auf ihn geht derzeit ein Shitstorm nieder, der auch einem robusteren Menschen heftig zusetzen würde. Er sei inkompetent, unfähig, faul und ein niedriger Charakter. Das sagen Parteifreunde über ihn, natürlich unter dem Schutz der Anonymität.
Warum hat Akkilic seinen Ruf aufs Spiel gesetzt? Es heißt, er sei gekränkt gewesen, weil man seine Arbeit nicht gewürdigt und ihn aufs Abstellgleis geschoben habe. Das ist kein guter Grund.
Verengung auf Bobo-Bürger-Themen
Das Versäumnis der Grünen wiegt schwerer, und der Fall Akkilic ist ein Symptom dafür. Bei den Grünen denkt man keine Sekunde darüber nach, warum ausgerechnet ihr Integrationsexperte die Seiten wechselt, ob das vielleicht mit der Verengung ihrer Politik auf Bobo-Bürger-Themen zu tun haben könnte. Akkilic war bei der Landesversammlung der Grünen im Februar nicht mehr für den Gemeinderat aufgestellt worden. Er hatte daraufhin Pläne gewälzt, eine eigene Partei zu gründen. In der Integrationspolitik hatte er sich seit Langem von den Grünen im Stich gelassen gefühlt. Als er mitten im Nationalratswahlkampf die protestierenden Flüchtlinge in der Votivkirche unterstützte, wurde ihm bedeutet, das bleiben zu lassen – es komme in der Öffentlichkeit nicht so gut an. Akkikic hatte auch früh auf Vorgänge in Wiener Moscheen aufmerksam gemacht, vor dem politischen Islam und salafistischen Predigern gewarnt und gemeinsam mit seiner früheren Kollegin aus der Jugendarbeit, Tanja Wehsely, die heute stellvertretende Klubchefin der Wiener SPÖ ist, ein Deradikalisierungsnetzwerk aufgebaut. An den Wiener Grünen gingen diese Debatten ziemlich spurlos vorüber. Akkilic war damit ebenso allein wie sein streitbarer Kollege, der Grünen-Bundesrat Efgani Dönmez.
Beide kommen aus der Jugend- und Sozialarbeit und wissen, womit sich Jugendliche mit Migrationshintergrund herumschlagen. Sie kennen die Lebenswirklichkeit der Abgehängten. Beide sind Kinder von Gastarbeitern, die in den 1970er-Jahren nach Österreich einwanderten. Akkilic’ Vater war 1971 als Schneider aus dem Osten der Türkei nach Wien zum Arbeiten gekommen. Efgani Dönmez landete 1976 mit seiner Familie in Oberösterreich, wurde Heizungstechniker und später auf dem zweiten Bildungsweg Sozialarbeiter und Flüchtlingsbetreuer. Dömnez ist schon mehrmals mit seinen Wortmeldungen bei den Grünen angeeckt. Er ist der Ansicht, die Grünen stellten sich der Realität nicht. Er sagt, man solle offen darüber diskutieren, ob verschleierte Frauen, die sich freiwillig abschotten und deshalb keinen Job finden, ein Anrecht auf Mindestsicherung haben sollen – eine Idee, die man bisher nur der FPÖ zugetraut hätte.
ARTE-Porträt über Akkilic
Im Jahr 2007 hatte der deutsch-französische TV-Kultursender ARTE Porträts über außergewöhnliche Menschen in Europa in Auftrag gegeben. Eines davon handelte von Senol Akkilic. Das weiß kaum einer seiner früheren Parteifreunde (auch nicht, dass er Gedichte schreibt). Die Filmemacherin Natalie Borgers zeigte den damals 42-Jährigen bei seiner Arbeit als Streetworker in einem Wiener Park. „Der redet wie wir. Der versteht uns. Mit dem kann man Spaß haben“, sagen zwei Mädchen in dieser Szene. Man sieht Akkilic mit kurdischen Freunden in einem türkischen Kaffeehaus beim Kartenspiel, in der Wiener Universitätsbibliothek und am 1. Mai auf der Wiener Ringstraße. Mit roten Fahnen und linken Parolen marschierte er neben seinen kurdischen Freunden.
Eher nebenbei erfuhr man, dass er schon einmal für die Grünen kandidiert hatte. Drei Jahre später kam Akkilic in den Wiener Gemeinderat, weil Alexander Van der Bellen sein Mandat nicht antreten wollte und Akkilic auf seinen Platz nachrückte. Damals gab er seine Arbeit als Jugendbetreuer auf und konzentrierte sich ganz auf die Politik.
Dass Akkilic bei den Grünen landete, ist der restriktiven Ausländerpolitik der SPÖ in den 1990er-Jahren geschuldet. „Das Boot ist voll“, hieß es damals, und man erfand allerhand bürokratische Schikanen – auch in der Wiener Stadtverwaltung –, um Ausländern das Leben schwer zu machen.
Grüne Radwege und autofreie Begegnungszonen haben in Zeiten von IS-Terror, Flüchtlingsströmen und dem Zusammenleben mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen und einem babylonischen Sprachengewirr wenig gesamtgesellschaftliche Relevanz. In den schlechteren Wohnvierteln in Wien gibt es andere Probleme als das Rauchen unter 18 Jahren, gegen das die Grünen nun eine Politik-Kampagne ausgerufen haben. Muslimische Väter und Mütter müssen darauf achten, dass ihre Töchter nicht von Rechtsradikalen angefeindet oder von Islamisten angequatscht werden. Vielleicht fühlt sich Akkilic besser aufgehoben bei den Wiener Sozialdemokraten, die für die Marginalisierten stehen, als bei gut verdienenden Bobos, deren Herz für Ausländer schlägt, solange sie nicht allzu eng mit ihnen zusammenleben müssen. Den Zeitpunkt, darauf zu kommen, hätte Akkilic allerdings nicht schlechter wählen können.