Stau und Streit am Brenner und die heikle Transit-Frage der EU
Von Iris Bonavida
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Es beginnt mit einer Reisewarnung. „Kommen Sie eh nicht mit dem Auto?“ Dafür sei gerade ein schlechter Zeitpunkt, immerhin ist es die Woche von Fronleichnam. Die Warnung kommt von einem Tiroler und sollte ernst genommen werden. Denn Tiroler wissen: Ein Feiertag samt Fenstertag bedeutet kilometerlange Staus. Pendler, Urlauber und Lkw-Fahrer wollen alle über den Brennerpass. Dass der italienische Brennerautobahn-Chef Hartmann Reichhalter ausgerechnet in diesen Tagen Google Maps schriftlich dazu auffordern musste, einen technischen Fehler zu beheben, erschwerte die Bedingungen. Der Navigationsdienst hatte Touristinnen und Touristen fälschlicherweise durch die Kleinstadt Sterzing und wieder retour auf die Autobahn geschickt.
Wenn es, aus österreichischer Sicht, zum Worst-Case-Szenario kommt, könnte aber bald jede Woche Fenstertag sein. Das weiß auch der warnende Tiroler, denn Bernhard Knapp ist Vorstand der Abteilung für Verkehrsrecht des Landes. Auf dem Schreibtisch in seinem Besprechungsraum in Innsbruck stehen eine Packung Duplo-Schokoriegel und ein Espresso Macchiato, daneben liegt ein Stapel Dokumente. Ganz oben Informationen über den nötigen Neubau der Luegbrücke am Brenner, aber auch das aktuell wichtigste Papier, die „mit Gründen versehene Stellungnahme“ der Europäischen Kommission zum „zwischenstaatlichen Streit“ Italiens und Österreichs über den Brenner-Transit. Das Schreiben gibt der Regierung in Rom grünes Licht, Österreich vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen. Noch im Juli könnte es so weit sein. Österreich soll alle Maßnahmen zurücknehmen, die den Lkw-Transit und damit den freien Warenverkehr einschränken. Eine ewige Frage soll dann endlich juristisch beantwortet werden: Wie können auf der wichtigsten Verbindungsroute zwischen Österreich, Deutschland und Italien die europäischen Grundfreiheiten mit der lokalen Gesundheit vereinbart werden?
Der Brenner, italienisch Brennero, ist ein historisch und wirtschaftlich aufgeladener Ort. Die Staatsgrenze zwischen Österreich und Italien, Nord- und Südtirol besteht am Papier, vor Ort soll man sie so wenig wie möglich spüren. Dafür war Österreichs Beitritt zur Europäischen Union 1995 und die Unterschrift unter den Schengen-Vertrag so essenziell. Es gelten die vier Grundfreiheiten der EU: der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital.
Billigere Maut
Man liest sie auch aus mehreren Statistiken heraus. 14,3 Millionen Fahrzeuge passierten den Brenner im vergangenen Jahr. 2,4 Millionen davon waren schwere Lkw, um einiges mehr als im Jahr 2013 mit 1,7 Millionen. Viele Fahrer machen sogar einen Umweg, um genau diese Route zu befahren. Denn die Maut ist billiger als zum Beispiel in der Schweiz. Aus einer Studie im Auftrag des Landes Tirol geht hervor, dass fast 30 Prozent der Lkw am Brenner einen mindestens 60 Kilometer langen Umweg fahren, um Geld zu sparen. Dass die Fahrer lange im Stau stehen und während des Fahrverbots im Lastwagen schlafen müssen, nehmen die Unternehmen in Kauf.
Luegbrücke
Das ist die längste Brücke der österreichischen Brenner-Autobahn A13. Sie wurde in den1960er-Jahren erbaut und muss nun de facto neu errichtet werden. Die Gemeinde wehrt sich dagegen, aber so oder so werden massive Verkehrseinschränkungen kommen.
Die vier Grundfreiheiten spürt man auch bei einem Besuch der kleinen Grenzgemeinde Brenner. Wer zu Fuß unterwegs ist, kann problemlos über einen Kreisverkehr aus Österreich nach Italien spazieren. Wer eine gute Zugverbindung hat, muss nicht umsteigen, sondern nur einen zehnminütigen Aufenthalt abwarten. Wer das Auto nutzt, hat die Mautstelle und den Stau als Hindernis.
Salvinis Drohung
Der italienische Infrastrukturminister Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega hätte im Oktober auf der Brennerautobahn also problemlos Richtung Wien weiterfahren können. Er stieg aber bewusst kurz vor der Staatsgrenze bei einer Raststätte aus, wartete, bis sich die Kameras um ihn versammelt hatten, um von dort der österreichischen Regierung lautstark etwas auszurichten. Es war wenig Höfliches dabei. Österreichs Maßnahmen seien „ignoranti e arroganti“, ignorant und arrogant, und müssten ein Ende finden. In gespielter Besorgnis sagte Salvini noch: „Ich möchte nicht, dass wir gezwungen sind, jeden österreichischen Lkw in Italien einer Kontrolle zu unterziehen.“
Matteo Salvini
Der italienische Infrastrukturminister der Lega fuhr vergangenen Oktober zum Brenner, um Österreich als "ignorant und arrogant" zu beschimpfen.
Was Salvini so sauer aufstößt, bei aller Reisefreiheit zu Fuß, im Zug und im Auto: Wer einen Lkw fährt, muss auf österreichischer Seite trotz aller Grundfreiheiten mehrere Einschränkungen hinnehmen. Es gilt unter anderem ein Fahrverbot am Wochenende, in der Nacht und an ausgewählten Tagen. Salvini gehe es nur „um die Profite der Frächterlobby, nicht um die Lebensbedingungen der Menschen in der Region“, antwortet seine österreichische Amtskollegin Leonore Gewessler von den Grünen auf die Proteste aus Rom.
Salvinis Team forderte die EU-Kommission auf, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich einzuleiten. Der freie Warenverkehr sei so nicht möglich. Das Beschwerdeschreiben aus Rom, übersetzt ins Deutsche, liegt auch auf Bernhard Knapps Schreibtisch. Italien beeinsprucht darin sämtliche Maßnahmen gegen den Transitverkehr, die Österreich im Lauf der Zeit eingeführt hat, um die Bevölkerung vor allzu viel Lärm und Schmutz zu bewahren.
Brenner-Proteste
Der Brenner-Transit beschäftigt die EU, die Länder und die Bürgerinnen und Bürger schon lange. Schon im Jahr 2000 blieb die Autobahn wegen einer Antitransitkundgebung gesperrt.
Zum Beispiel die Lkw-Blockabfertigung zwischen dem deutschen Kiefersfelden und dem österreichischen Kufstein. Bernhard Knapp packt den sogenannten Dosierkalender aus. Der Plan wird Monate im Voraus per E-Mail an Behörden, Frächterverbände und Handelskammern geschickt. Darin sind Tage aufgelistet, an denen für einige Zeit nur um die 300 Lkw pro Stunde auf der Autobahn weiterfahren dürfen. Unternehmen sollen so ihre Routen besser planen können, und es wird vermieden, dass sich Transport- und Morgenverkehr in Tirol allzu sehr in die Quere kommen. Auf Knapps Liste lässt sich zum Beispiel nachlesen, dass am 8. Juli oder am 11. Dezember „dosiert“ wird. Es gibt auch Protokolle über vergangene Blockabfertigungen. Knapp packt eine Mappe aus: „Am 28. Mai wurden von 5.00 bis 8.30 Uhr 935 Lkw durchgelassen, verhältnismäßig viel.“
Eklat mit der Kommissarin
Das Dosiersystem ist einer der Gründe, warum auch Deutschland die österreichischen Maßnahmen ein Dorn im Auge sind. Es ist ein verworrenes Netzwerk aus Allianzen: Österreich ist auf einer Linie mit der Südtiroler Volkspartei. Sie regiert aber mit Matteo Salvinis Lega. Bayern polterte zwar gegen die Blockabfertigung, arbeitete aber auch schon an einem Lösungskonzept mit Nord- und Südtirol. Auf europäischer Ebene ist es nicht unkomplizierter, Österreich hat ein schwieriges Verhältnis mit der Kommissarin für Verkehr. Die Rumänin Adina Vălean sorgte 2020 während eines Besuchs am Brenner für einen Eklat: Sollte Tirol beim Transit nicht einlenken, könnte Österreich ja den Binnenmarkt verlassen und eine „Schweiz II“ werden, berichtete die „Tiroler Tageszeitung“ damals aus einer internen Sitzung. Auch Bernhard Knapp ist die Diskussion damals noch gut in Erinnerung. Und noch heute stellt sich die EU-Kommission auf die Seite Italiens, wenn auch nicht so lautstark.
Reiseverkehr
Wenn Urlauber, Pendler und LKW-Fahrer über den Brenner wollen, ist die Autobahn überlastet.
Die Stellungnahme aus Brüssel, die auf Knapps Schreibtisch liegt, fällt in einigen Punkten kritisch aus. Die Kommission hält allerdings nur fest, dass Österreich gegen den freien Warenverkehr verstößt. Dagegen vorgehen will sie nicht, das hängt vermutlich mit der EU-Wahl zusammen. Vor dem Wahlgang soll bloß kein großer Konflikt entstehen. Die Kommission nützt ein Schlupfloch: Sie kann ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, muss das aber nicht. Salvini die Klage zu überlassen, ist aus europäischer Sicht eleganter. Gut möglich, dass sich Deutschland oder Frächternationen wie die Niederlande, Dänemark oder auch Rumänien anschließen. Über die Route verkehren immerhin jährlich Waren im Wert von 214 Milliarden Euro. „Der Brenner ist die wichtigste Lebensader zwischen Italien und Nordeuropa. Wenn sie unterbunden wird, bedeutet das einen Infarkt“, sagt auch Thomas Baumgartner, Sprecher des italienischen Frächterverbands ANITA, zu profil.
Österreich steht also EU-weit relativ allein da. Es ist eine ungewöhnliche Rolle: Mehr Schutz vor Umweltverschmutzung, Lärmbelästigung und Abgasen, auch auf Kosten der Wirtschaft, so argumentiert die regierende ÖVP selten.
Sondersituation der Alpen
Fritz Gurgiser sitzt in einem Café am Brenner, er ist an diesem verregneten Fenstertag mit seiner Frau in das Outletcenter zum Shoppen gekommen. Mit dem Zug, versteht sich. Gurgiser ist einer der bekanntesten Transit-Aktivisten in Tirol. Auch er hat einen Packen Dokumente vor sich liegen, Beschreibungen, wie sich Lärm und Abgase in engen Tälern schneller bemerkbar machen als in der Ebene. Seit den 1990er-Jahren setzt Gurgiser sich für Maßnahmen ein, auch aus persönlicher Betroffenheit. „Damals hatten wir nur ein Drittel des Verkehrs, aber das war uns schon zu viel, es gab ja keinen Lärmschutz.“ Gurgiser kritisiert nicht nur die Wirtschaftsinteressen der anderen Länder, sondern auch die Position Österreichs in der EU. „Während fast 30 Jahren Mitgliedschaft hat man es verabsäumt, um Verständnis für diese Sondersituation zu werben.“ Die betroffenen Regionen, Bayern sowie Nord- und Südtirol, bräuchten eine einheitliche Linie.
Fritz Gurgiser
Der Aktivist kämpft seit den 90er-Jahren für mehr Maßnahmen gegen den Transit.
Einen Lösungsvorschlag auf Fachebene gibt es grundsätzlich, auch er liegt auf Bernhard Knapps Schreibtisch. Die drei Regionen arbeiteten ein Slot-System für den Brenner-Transit aus. Frächter sollen online ein Zeitfenster buchen, in dem Lkw die Autobahn benutzen dürfen. So könnte der Verkehr gut verteilt und Fahrten besser geplant werden. Vorbild dafür ist der Hamburger Hafen, wo Lastwagen die Schiffswaren abholen. Bald will sich eine Tiroler Delegation in der norddeutschen Stadt ein Bild davon machen. Politisch stocken aber auch diese Verhandlungen.
Dazu kommt, dass auf der italienischen Seite der Alpen der Transit lange Zeit nicht so skeptisch beäugt wurde wie im Norden, erzählt Martin Alber, Bürgermeister der italienischen Gemeinde Brenner. „Für die Bevölkerung war die Autobahn wie eine Goldader, die durch unser Land rauscht und die Kassen füllt.“ Jetzt aber würden immer mehr Menschen selbst merken, wie der Verkehr ihre Lebensqualität einschränkt.
Schengen-Feier
Am Brenner fand am 1. April 1998 ein Festakt statt: Schengen trat in Kraft, damit entfielen die Grenzkontrollen zwischen Österreich und Italien.
Bernhard Knapp holt sich immer wieder rechtliche Unterstützung vom Europarechtsexperten Walter Obwexer. „Wenn man die Stellungnahme der Europäischen Kommission genau liest, merkt man, dass nur kleine Punkte beanstandet werden“, sagt er. Das reiche aber prinzipiell, damit Italien formal die Klage gewinnt. Die Kommission stößt sich unter anderem an Bestimmungen, die nur ausländischen Lkw-Verkehr treffen. Wie die Blockabfertigung, die an der deutsch-österreichischen Grenze stattfindet, oder auch der sogenannte Winterfahrkalender. Knapp zeigt die dazugehörige Verordnung: Weil im Winter die Straßenbedingungen schlechter sind und viele Urlauber am Samstag an- und abreisen, gilt das Lkw-Fahrverbot an diesen Wochentagen schon früh, ab sieben Uhr morgens. Allerdings nur für Transporte, deren Ziel Deutschland oder Italien ist oder die durch diese beiden Länder führen. Von Rom nach München zu fahren, ist also verboten, die Route von Rom nach Salzburg aber erlaubt. Dieser Punkt ist unionsrechtlich schwer zu rechtfertigen, sagt Obwexer, alles andere könne man gut argumentieren.
Bleibt nur die Frage nach einer nachhaltigen Lösung. Franz Fischler, ehemaliger EU-Kommissar, gibt eine Antwort, die eigentlich auf der Hand liegt: der Schienenverkehr. Wenn es in Deutschland, Österreich und Italien genügend Infrastruktur geben würde, könnte man die Brennerautobahn entlasten. Dafür bräuchte es aber Verladestellen und einen fertiggestellten Brenner Basistunnel. Er soll frühestens 2032 in Betrieb gehen.
Dann ist die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof wohl schon erledigt. Bernhard Knapp rechnet damit, dass auch dieses Papier bald auf seinem Schreibtisch liegen wird.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.