Es ist nicht der einzige Wandel in der Region, ganz im Gegenteil: Die alte Garnisonsstadt Bruck an der Leitha, schon geschätzt von den Habsburgern, gehört zu den größten Boomregionen Österreichs. Sie liegt exakt in der Mitte zwischen Bratislava und Wien, beide pulsierende Hauptstädte sind je 40 Kilometer entfernt und wachsen rasch und stark. Gegenden wie Bruck mutieren damit zum Speckgürtel der beiden Metropolen. Wem Bratislava zu teuer ist, der zieht über die Grenze und pendelt in die Slowakei zum Arbeiten; wem Wien zu stressig ist, der kommt nach Bruck. Der 23 Kilometer entfernte Flughafen Wien-Schwechat, einer der größten Arbeitgeber Ostösterreichs, zieht zusätzlich Menschen an. Das Resultat: Im Bezirk Bruck an der Leitha steigt die Zahl der Bewohner rasant, zuletzt um über 20 Prozent. Die Stadt Bruck selbst hat mit 10.084 Bewohnern vor Kurzem die fünfstellige Einwohner-Grenze geknackt. 1400 davon sind allerdings Nebenwohnsitzer – etwa um in Wien die Parkgenehmigung „Parkpickerl“ zu bekommen.
Eine rasend begehrte Gegend: Das klingt wie Sorgen auf hohem Niveau und wie ein Luxusproblem, das Regionen gerne hätten, die ihre Zukunft schon hinter sich haben und nur mehr diskutieren, wann der letzte Bewohner das Licht ausdreht. Doch die Attraktivität birgt auch Herausforderungen: Satte 75 Prozent antworteten heuer im März in der Lokalzeitung „Mein Bezirk“ mit einem eindeutigen „Ja“ auf die Frage, ob die Bevölkerung zu rasch wächst. Begründung: „Die Gemeinden kommen mit dem Ausbau von Wohnraum, Kinderbetreuung etc. nicht mehr nach.“ Das kann Jürgen Maschl, SPÖ-Bezirksvorsitzender in Bruck, einer der wenigen roten Inseln im ÖVP-dominierten Niederösterreich, nur bestätigen: „Wir leiden ein bisschen unter Wachstumsschmerzen“, seufzt er.
Die Schulen platzen aus allen Nähten, vor allem die Bundesschulen. Ins Gymnasium in Bruck kam man heuer nur mehr mit lauter Einsern, die Kindergärten können kaum so schnell ausgebaut werden, wie neue Familien zuziehen. Die zwei Kinderärzte mit Kassenvertrag im Bezirk sind mittlerweile zu wenig. Maschl will nicht jammern, ihm sind Aufgaben, wie neue Schulen zu bauen, allemal lieber, als wie in Schrumpfgemeinden Schulen zusperren zu müssen. Außerdem brummt die Wirtschaft. „Arbeitslosigkeit kennen wir hier nicht“, sagt Maschl nicht ohne Stolz.
Von der Wirtschaftsflaute im Rest Österreichs kann sich die Region Bruck deutlich abkoppeln, von den Polit-Trends nur bedingt: Bei der EU-Wahl hielt die SPÖ in der Stadt zwar auf Platz 1 und mit 29,87 Prozent ein Ergebnis, von dem die Bundespartei meilenweit entfernt ist – doch die FPÖ gewann auch in Bruck stark dazu und liegt mit 28 Prozent nur mehr knapp hinter der hier traditionell starken SPÖ auf Platz 2, die ÖVP kam abgeschlagen auf 20 Prozent und Platz 3.
Windrad-Pioniere
Die Hauptthemen in der Bevölkerung haben mit den Schattenseiten des Lebens in einer Boomregion zu tun: Die Preise für Baugrund und Immobilien klettern deutlich in die Höhe, gut verdienende Zuzügler aus den Metropolen Wien und Bratislava treiben die Preise – und sorgen für zusätzlichen Verkehr. Dabei staut sich die Autoschlange ohnehin durch den Ort, wenn eine Fahrspur der nahen Ostautobahn A4 gesperrt ist. Dazu kommen die Pendler, die jeden Tag von oder zur Arbeit pendeln, aus dem nahen Nordburgenland zum Arbeiten kommen oder nach Wien oder Bratislava zum Arbeiten oder Studieren fahren. „Wir sind eine Pendlerstadt“, berichtet Bürgermeister Gerhard Weil. Zwischen die Pendler quetschen sich Eltern, die ihre Kinder in die Schulen bringen oder abholen. Bruck an der Leitha hat zwar Bahnhof und Zugverbindung, viele fahren aber mit dem Auto. Genauer: den Autos. Im statistischen Durchschnitt besitzt jeder Haushalt 2,7 Autos.
„Papa, sind wir arm?“
„Mein Sohn ist einmal von der Volksschule heimgekommen und hat mich ganz geknickt gefragt: Gell Papa, wir haben nicht sehr viel Geld und sind arm, oder? Ich habe ihn gefragt, wie er darauf kommt – und er hat gesagt: Weil wir nur ein einziges Auto haben und du mit dem Fahrrad in die Arbeit fahren musst.“ Michael Hannesschläger muss heute noch grinsen, wenn er diese Geschichte erzählt. Der Geschäftsführer des „Energiepark Bruck“ will die Bevölkerung von der Energiewende überzeugen und dabei auch mit Radfahrbeispiel vorangehen. Bevor in den 1990er- Jahren das erste Windrad errichtet wurde, herrschte gehörige Skepsis: Gibt es überhaupt genug Wind dafür? Sind die Windräder nicht gefährlich oder zumindest grottenhässlich? Aus der Pionierarbeit ist mittlerweile Alltag geworden, die Windräder gehören zum Stadtbild und sind heute 160 Meter statt früher 60 Meter hoch. „Das stört hier niemand mehr“, sagt Hannesschläger.
Er und sein Kollege Philip Loitsch, der Regionsmanager, halten es für wesentlich, die lokalen Bewohner bei der Energiewende mitzunehmen, berichten sie: „Ein Beispiel: Hier in der Gegend gibt es viele Weinbauern. Für den beliebten spritzigen Weißwein brennt die Sonne schon zu oft und zu stark, das ergibt schwere Weißweine, die kaum jemand trinken will. Wir experimentieren daher mit Photovoltaikmodulen über Weingärten: Das beschattet die Weinstöcke, ermöglicht frischere Weißweine – und produziert noch dazu saubere Energie.“
Hauptplatz statt Parkplatz
Der „Energiepark“, ein schmuckes und modernes Gebäude, steht hinter der Bezirkshauptmannschaft Bruck, 700 Meter vom Zentrum und dem Eingang zur Fußgängerzone entfernt. Denkmalgeschützte Barockgebäude, der alte Torturm, stolze historische Bürgerhäuser, Kebab-Standln, Kaiserbilder und viele leere Auslagen, Vermietungsschilder, nicht gerade brandaktuelle Plakate, etwa für den „Adventmarkt“ im Winter. Gewiss, im alten Schloss Prugg findet jährlich das hippe Musikevent „Paradiesgartenfestival“ statt – aber sonst? Wie kann das Zentrum einer Stadt, die rasant wächst, derart brachliegen und ausgestorben sein?
„Bruck leidet an den Fehlern der Raumplanung der vergangenen 50 Jahre“, analysiert Stefan Bindreiter. Der Wissenschafter der Technischen Universität Wien arbeitet seit 1,5 Jahren am Projekt mit, wie man Bruck umgestalten kann, und erzählt: „Wie bei vielen Gemeinden in Österreich steht vor Bruck ein großes Einkaufszentrum an der Autobahn. Da darf sich niemand wundern, dass Innenstädte aussterben.“ Solche Raumplanungssünden ziehen sich quer durch Österreich, in Bruck an der Leitha kommt erschwerend dazu: Das riesige Designer-Outlet Parndorf mit seinen 160 Shops, der Mall und Restaurants ist nur zwölf Autominuten vom Hauptplatz in Bruck entfernt. Viel übermächtige Konkurrenz, vor allem für eine Pendlerstadt, in der die Menschen ohnehin viel im Auto sitzen. Auch deshalb haben einige zentrumsnahe Wirtshäuser zugesperrt.
Bindreiter und seine Kolleginnen und Kollegen haben der Stadt eine Umgestaltung des Hauptplatzes vor der schönen Barockkirche im historischen Ortskern vorgeschlagen: „Der Hauptplatz ist derzeit vor allem ein Parkplatz.“ Eine Ausstellung mit neun kühnen Entwürfen der TU-Studierenden für einen neuen, grüneren, autofreieren Hauptplatz und damit eine belebtere Innenstadt war im Stadtamt zu besichtigen.
Umgesetzt werden sie vorerst nicht. Derart viel Wandel so rasch geht selbst in Bruck nicht, wo sich manches schnell ändert.