Riyads Falafel-Rezept für den Brunnenmarkt: Kichererbsen, 7 Gewürze und 2 Kräuter faschiert, Minze, Rote Bete, Mango-Sauce.
Brunnenmarktforschung: Die Syrer kommen

Brunnenmarktforschung: Die Syrer kommen

Brunnenmarktforschung: Die Syrer kommen

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*In Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingskurs des Migrantenmagazins biber

"Schade, dass es noch keine syrische Fleischerei gibt", sagt Neivein Al Haddad im syrischen Supermarkt Hammoud am Wiener Brunnenmarkt. "Warte noch eine Woche", sagt der junge Besitzer und zeigt auf einen Stand gegenüber. Er lebt seit neun Jahren in Österreich und ist stolz darauf, mit welchem Tempo sich seine Landsleute hier ausbreiten. Bisher war der Brunnenmarkt türkisch dominiert. Doch im inneren Sektor hat das syrische Falafel dem Döner-Kebab bereits den Rang abgelaufen. Kichererbsen, Minze, Mango-Sauce und Rote Bete in dünnes Brot gewickelt - das ist neu.

Seit 2015 strömten Zigtausende Syrer ins Land, die meisten landeten in Wien, so wie Al Haddad. Der Markt in Wien Ottakring ist - im doppelten Sinne - zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden. In prall gefüllten Ständen finden sie die für ihre Küche typischen Zutaten wie Mutabbal (Melanzani-Paste), Foul (Bohnen), das dünn-zähe arabische Brot oder Kichererbsen in allen Varianten. "Man spricht arabisch": Es sind solche Schilder, die mit ihren geschwungenen Schriftzeichen die Arabisierung des Marktes augenfällig illustrieren.

Relativ unbemerkt schufen sich Syrer ihre eigene Lebensinseln in Österreich - so wie Jahrzehnte zuvor Türken. In beiden Fällen handelt es sich großteils um sunnitische Muslime. Auf Märkten oder in Moscheen kreuzen sich ihre Wege. Syrer kaufen in Etsan-Supermärkten Halal-Fleisch, Türken beschäftigen Syrer in ihren Restaurants. In Moscheen beten sie Rücken an Rücken, auf den Märkten sind sie Konkurrenten. Der Großteil der Türken hat sich in einer muslimisch-türkischen Parallelwelt eingerichtet. Deutschkurs-Brunnenmarkt-Wohnung-Moschee-Shisha-Bar - so sieht auch die Lebensrealität vieler Syrer aus. Auf den ersten Blick spricht wenig dafür, dass die Zuwanderer aus dem Nahen Osten stärker in der heimischen Gesellschaft aufgehen werden als Türken. Auf den zweiten Blick schon mehr.

Fachkraftproben

Der 35-jähige Bilal Albeirouti arbeitete in seiner Heimat als Sportjournalist, der 24-jährige Kurde Mamo Issa als Kameramann und Schnitttechniker, der 35-jährige Chaouki Koujan als Grafiker. Es sind drei von 15 Flüchtlingen, die sich in der Akademie des Migrantenmagazins "biber" fit für den heimischen Arbeitsmarkt machen wollen und an dieser Story mitarbeiteten. Sie stammen aus Damaskus und bringen von dort ein höheres Bildungslevel mit als einst türkische Gastarbeiter aus ihren anatolischen Dörfern. Ein Kompetenzcheck des Arbeitsmarktservice AMS ergab, dass 62 Prozent der Syrer entweder Matura oder sogar Studium vorweisen konnten. Unter Österreichern mit türkischem Migrationshintergrund haben 60 Prozent der 25- bis 64-jährigen Menschen nur Pflichtschulabschluss. Das reichte in den 1960er-Jahren als Eintrittsticket für den Arbeitsmarkt. Für die Flüchtlinge von heute jedoch bedeutet selbst Fachwissen keine Jobgarantie.

75 Prozent der Syrer in Österreich sind derzeit arbeitslos oder in Schulung und leben von Sozialhilfe. Auch die "biber"-Mitarbeiter wissen nicht, ob sie jemals in ihrer alten Branche Fuß fassen werden. "Das ist meine letzte Chance. Sonst geh ich ins Hotel oder an die Tankstelle", sagt Albeirouti. Der Syrer Aladin Nakshbandi hat am meisten Zeitungserfahrung innerhalb der Gruppe: "Ich bin 51 Jahre alt. Um für eine österreichische Zeitung zu schreiben, muss ich zuerst das höchste Deutsch-Niveau erreichen."

Teamwork Chaouki Koujan (2. v. r.) hat die Grafiken für diese Story designt, Ayham Youssef (hinter der Kamera) mit Nooshin Hediyehloo die Bilder geschossen. V. l. n. r.: Bilat Albeirouti, Aladin Nakshbandi, Clemens Neuhold (profil), Ali Sammaraie, Amr Alb

Preiskampfzone

Auf dem Brunnenmarkt interviewen sie auf Arabisch Landsleute, die nicht mehr in der AMS-Statistik aufscheinen. 211 Syrer sind offiziell als Selbstständige gemeldet. Sie haben den Markt in eine Preiskampfzone verwandelt. "Türken verkaufen zu Fixpreisen, wir senken die Preise, um mehr zu verkaufen", sagt Mohamed Lababidi. Seine Landsleute bieten Falafel-Rollen plus Getränk ab 1,80 Euro an, das salzige Jogurt Ayran ab 50 Cent. Polnische Eier kosten 2,40 Euro pro 30 Stück. Zuvor lag der niedrigste Preis bei ebenfalls nicht gerade hühnerfreundlichen 3,50 Euro. "Sogar Fäuste sollen einmal geflogen sein", erzählt man sich am letzten österreichischen Würstelstand mit neuerdings arabischen Nachbarn. Ein Kellner eines türkischen Restaurants beäugt die Menschentraube vor einem der neuen Stände und schüttelt den Kopf. "Wir kamen mit nichts, haben uns das hier aufgebaut. Sie haben die Taschen voller Scheine, weil sie Geld vom Staat bekommen. Und sehen Sie sich diese Dosen-Wirtschaft an!" Ähnlich grantig haben wohl einst österreichische Marktleute auf die Ankunft der Türken reagiert. "Syrer spielen mit Preisen. Doch gut für die Kunden", meint Redakteur Ammar Jalali.

Nicht jeder hat nach der Flucht das nötige Kleingeld für einen syrischen Imbissstand oder ein Restaurant. Manchen reicht die eigene Küche und ein Internet-Zugang. Es gibt syrische Frauen, die über "Social-Media-Restaurants" auf Bestellung Originalgerichte in einer Qualität kochen, die man selbst in syrischen Restaurants schwer findet.

Lababidi ist ein syrischer Greißler. Er ist überrascht, wie viele Frauen mit Kopftuch am Markt einkaufen.

Man spricht auch deutsch?

Lababidi genießt es, Einheimischen syrische Spezialitäten zu empfehlen, und hat damit Freunde gewonnen. Andere Syrer bewegen sich noch immer in einer rein arabischen Welt. Meist macht die Sprache den Unterschied aus. "Die Voraussetzungen sind heute vollkommen andere. Wir haben unser Angebot an Deutschkursen massiv ausgebaut, weil wir die Fehler von früher vermeiden wollen", sagt Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP).

"Wir warteten drei Jahre auf unseren Asylstatus und fünf auf einen Deutschkurs. Der Unterschied zu früher ist wirklich gigantisch", erzählt Redakteurin Laijla Asujeva. Die 50-jährige Tschetschenin erinnert ihre syrischen Kollegen daran, wie privilegiert sie im Vergleich zur tschetschenischen Flüchtlingswelle vor über zehn Jahren sind. Den türkischen Gastarbeitern wiederum fehlte einst das Geld oder die Zeit für Deutschkurse. Staatssekretärin Muna Duzdar (SPÖ), die wegen ihrer palästinensischen Wurzeln mit den Redakteuren auch arabisch smalltalkt, sagt: "Bisher haben Flüchtlinge bis zum ersten Sprachkurs viel zu viel Zeit verloren. Ab September müssen sie ein Integrationsjahr durchlaufen."

30 Eier – schon gesehen um 2,40 €. Syrer unterbieten die türkische Konkurrenz gnadenlos.

Während Nakshbandi sich in Richtung C1-Sprachlevel quält, gibt seine Tochter bereits Nachhilfe in Mathematik. Er ist vor fünf Jahren mit fünf Kindern nach Österreich ausgewandert. Bildung ist vererbbar. Das kann sich auf die Integration der zweiten und dritten Generation der Syrer positiv auswirken. Die Türken wurden durch ihr Erbe gelähmt. Noch in der dritten Generation ist die Zahl der ungebildeten Hilfskräfte hoch - und mit 20 Prozent die Arbeitslosigkeit unter türkischstämmigen Menschen im Land.

Ein Job ist nicht der einzige Gradmesser für Integration. 75 Prozent der Austro-Türken votierten für das Verfassungsreferendum von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Seither ist das Gefühl der Entfremdung zwischen Türken und Österreichern groß wie nie. "Im Unterschied zu Türken haben wir keinen Führer", sagt Albeirouti; das könne hilfreich für die Integration sein. Allerdings bewundern viele Syrer die Stärke des türkischen Herrschers. Andere bezeichnen Alexander Van der Bellen als "unseren Präsidenten".

Das neue Gesicht des Islam

Mit der Flüchtlingswelle stieg die Zahl der Muslime in Österreich von 600.000 auf 700.000 und damit die Angst vieler Österreicher vor einer Erosion der heimischen Werte. Der gebürtige Syrer Tarafa Baghajati, Obmann der Initiative muslimischer Österreicher, meint: "Syrien ist in seiner Geschichte auf Diversität und Pluralität aufgebaut, seit Tausenden von Jahren."

Shahade erinnert sich: "Ich lebte mit Juden, Christen, Aleviten verschiedenen Arten von Muslimen in einem Haus und wusste nicht einmal, ob mein Nachbar Christ war." Der syrische Flüchtling Aho Barsum hat die Frage Moslem oder Christ erst im Libanon und in Österreich kennengelernt. "Bei uns in Syrien war die Frage unerwünscht."

Ort der Ruhe und ein Stück Heimat. Die Moschee ist bei Flüchtlingen beliebt. Man spricht und predigt auf Arabisch.

Bei einer Befragung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter 400 syrischen Flüchtlingen stuften sich 36 Prozent als gar nicht oder eher nicht religiös ein. 60 Prozent meinten, eher religiös, und nur drei Prozent, streng religiös zu sein. Fundamentalisten wollen das ändern. Der Politologe Thomas Schmidinger schildert, wie österreichische Ableger der Muslimbrüder versuchen, Einfluss auf Flüchtlinge zu nehmen. Sie warnen vor den Abgründen der westlichen Welt und fädeln die Kontakte geschickt ein. "Sie gaben uns Gratis-Deutschkurse. In der Pause mussten wir beten, und das Rauchen war verboten", erzählt ein Syrer über die etwas andere Willkommenskultur im Hinterhof.

In der "biber"-Akademie sind alle religiösen Spektren vertreten. Nach dem Aufschrei über die Kopftuch-Aussage von Alexander Van der Bellen ("Alle Frauen bitten, aus Solidarität ein Kopftuch zu tragen") diskutieren wir über die Skepsis der Österreicher gegenüber konservativen Muslimen: Nakshbandi meint, das Kopftuch sei religiöse Pflicht und klar aus dem Koran abzuleiten; Amr Albaghdadi entgegnet, es sei bloß Ausdruck der Kultur; Albeirouti wiederum erzählt von seiner Schwester, die kein Kopftuch trägt, aber fünf Mal am Tag zu Allah betet. "Eine Frage, 15 Ansichten, das ist Syrien", sagt Shahade. Sie will ihr Kopftuch trotz "böser Blicke" in der U-Bahn weiter tragen.

Saudisch oder nur arabisch?

Welchen Einfluss auf die Integration der Syrer hat die größte Moschee Österreichs, das Islamische Zentrum nahe der Donauinsel? Seit der Flüchtlingswelle platzt sie aus allen Nähten. Wie der Brunnenmarkt ist sie erste Anlaufstelle für Syrer, denn auch hier spricht man arabisch. Obwohl die Moschee über 2000 Gläubige fasst, beugen sich vor der Moschee die Zuspätgekommenen im Regen Richtung Mekka. Drinnen stehen Männer dicht gedrängt Schulter an Schulter. Ein bulliger Ordner bringt mit strengem Gestus die Zehenspitzen auf Linie. Frauen beten abgetrennt in einem anderen Trakt. Ein ägyptischer Imam mit durchdringendem Blick predigt von der erhöhten Kanzel über die Pflicht zu arbeiten, der bosnisch-stämmige Imam übersetzt Teile auf Deutsch. "Ein guter Moslem ist nicht faul. Er muss fleißig sein. Brennholz sammeln ist besser als betteln." Das Thema ist nicht zufällig gewählt. Das AMS hat beim Eingang einen Beratungsstand aufgebaut.

Vor dem Markt bringt Mai Nayef, die seit 2 Jahren im Land ist, ihre Kinder in den Islam-Kindergarten.

In den 1970er-Jahren von Saudi-Arabien finanziert, wird das Islamische Zentrum heute von der Islamischen Weltliga erhalten. So steht es in der "Islam-Landkarte", einem Überblick über österreichische Moscheen und Vereine: "Über ein internationales Netzwerk aus Bildungseinrichtungen, Moscheen und Kulturzentren propagiert die Islamische Weltliga die erzkonservative wahhabitische Ausprägung des Islam." Der bosnischstämmige Imam versichert nach der Predigt: "Wir vertreten keine saudische Ideologie. Das wäre bereits aufgefallen. Wir arbeiten mit dem Verfassungsschutz zusammen." Beim Ausgang der Moschee hängen Folder, die islamische Schulen in Wien empfehlen. Betont prominent zeigen sie kleine Mädchen mit Kopftuch. Eine Stunde nach der Predigt hat sich die Menge zerstreut. Männer und Frauen finden sich vor der Gebetshalle zu einer Trauung ein, zwei Frauen tragen Niqab. Diese Vollverschleierung ist ab Herbst in Österreich in der Öffentlichkeit verboten. Im Islamischen Zentrum werden den neuen Muslimen alle Facetten des Islam vorgelebt.

"Laut Islam sollst du fleißig, hilfsbereit, ehrlich und gut zu den Armen sein. Wer hält sich in unseren islamischen Heimatländern bitte daran?", findet Albaghdadi das Thema Religion in Österreich überbewertet. "Die Österreicher sind eigentlich viel mehr Muslime als wir." Alle stimmen ihm zu.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.