Budgetloch: Statt Wahlzuckerln höhere Steuern. Was wusste der Finanzminister?
Finanzminister Magnus Brunner sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Krise der Staatsfinanzen vor den Wahlen klein gehalten zu haben. Eine Spurensuche.
Im Nationalratswahlkampf versprachen ÖVP und FPÖ das Blaue vom Himmel - als wäre das Staatssäckel prall gefüllt. Das machte eine Person so richtig grantig: Den sonst besonnen auftretenden Staatsschuldenwächter Christoph Badelt. Der 73-jährigen zuckte für seine Begriffe regelrecht aus, wenn er die Duelle im Nachgang analysierte. „Unseriös, unrealistisch, nicht einmal mit chinesischen Wachstumsraten finanzierbar“, richtete der Chef des Fiskalrates den Wahlversprechern aus.
Badelt war längst in einer Realität zu Hause, in die der scheidende Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) die Öffentlichkeit erst wenige Tage nach der Wahl führte: Am 3. Oktober erhöhte er die Prognose für das Budgetdefizit von 2,9 auf 3,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Klingt unspektakulär. Bedeutet aber, dass die Republik die EU-Maastricht-Grenze von drei Prozent verletzt und um zwei Milliarden Euro mehr Schulden macht als bisher angenommen.
Nicht nur der Wahlkampf ist damit Makulatur. „Von all den Wahlversprechen geht sich absolut nix mehr aus“, sagt Badelt. Er hält angesichts der Wirtschaftskrise auch Brunners neue Ausschau für viel zu optimistisch.
Brunner, der Österreichs neuer EU-Kommissar für Migration wird, muss sich nun den Vorwurf gefallen lassen, die Bürgerinnen und Bürger vor seinem Aufstieg in die EU-Kommission getäuscht zu haben – und sie weiterhin zu täuschen. Was wusste er wann? Hat er Infos zurückgehalten? Und warum ließ er die Zügel so locker?
November 2023: Der Finanzminister präsentiert das Budget für das kommende Jahr. Nach drei Jahren exzessiver Neuverschuldung in Folge der Coronapandemie kehrt Österreich laut seinen Zahlen endlich wieder unter die Drei-Prozent-Grenze der EU zurück (Maastricht-Kriterien). Die Defizite für die Jahre 2024 bis 2026 veranschlagt er bei rund 2,7 Prozent des BIP. Selbst der grüne Regierungspartner wundert sich hinter vorgehaltener Hand, warum der Finanzminister nicht versucht, das Defizit stärker unter die EU-Grenze zu drücken.
SPÖ-Budgetsprecher Jan Krainer: „Das war kein seriöses Budget, das sah man mit freiem Auge.“ Tatsächlich fehlte die Fantasie, wie der Finanzminister die wachsende Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben schließen will. Denn auf der einen Seite hatte die Regierung mit der Steuerreform 2022 eine Milliarden-Lücke ins Budget gerissen, indem der „schleichender Steuerfraß“ (kalte Progression) abgeschafft und Steuern für Unternehmen gesenkt wurden. Auf der anderen Seite waren stark gestiegene Ausgaben für Pensionen, Bildung, Pflege und Soziales eingebucht.
März 2024: Die Regierung beschließt neue Ausgaben – ein Wohnbaupaket von 2,2 Milliarden Euro, um die Konjunktur anzukurbeln. Brunner sieht weiterhin keinen Grund, seinen Defizitpfad vom Herbst kurzfristig anzupassen. Die Angriffe der Opposition prallen an ihm ab. Doch auch unabhängige Experten werden kritischer.
April 2024: Der unabhängige Fiskalrat mit seinem Chef, Christoph Badelt, lässt eine Budgetbombe platzen und prognostiziert für 2024 ein Defizit von 3,4 Prozent. Unterschied zu Brunners Zahlen: 2,5 Milliarden Euro. Brunner nennt das in einer ersten Reaktion: „Nicht nachvollziehbar.“ Ende April erfolgt Brunners Halbjahres-prognose. Brunner erhöht das Defizit leicht auf 2,9 Prozent. „Witzig“, kommentiert Badelt.
Mai 2024: Die Regierung hebt den Klimabonus kräftig auf 145 bis 290 Euro pro Person an, je nach Abhängigkeit vom Auto. Er kompensiert den CO2-Preis, der seit 2022 erhoben wird und ein Kernanliegen der Grünen ist. Gegenfinanzierung? Fehlanzeige.
Juni 2024: Das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) erhöht seine Defizitprognose auf 3,2 Prozent. Die EU-Obergrenze von drei Prozent ist aus Sicht der Wirtschaftsforscher längst überschritten. Österreich ist auf dem Weg ins zweite Jahr einer Rezession – erstmals seit 1945.
Das Ministerium veröffentlicht Monat für Monat die Einnahmen und Ausgaben des Staates auf seiner Website. Jeder, der genauer hinschaut, fragt sich: Wie soll sich hier noch ein Defizit unter drei Prozent ausgehen?
Die Regierung beschließt weitere Ausgaben, die das Budget belasten, unter anderem ein Paket für eine „wettbewerbsfähigere Landwirtschaft“ über 300 Millionen. Ein weiterer ungedeckter Scheck.
Juli 2024: „Budgetdesaster“ (SPÖ), „Alarm“ (NEOS), „außer Kontrolle“ (FPÖ): Es kommt zum politischen Schlagabtausch mit dem Finanzminister. „Keine Überraschungen“, kontert Brunners Büro. An den 2,9 Prozent wird weiterhin nicht gerüttelt. Offizielle Begründung des Ministeriums damals wie heute: Die aufwendigen Haushaltsprognosen werden im Einklang mit der EU nur halbjährlich, im April und Oktober, erstellt.
„Das geht auch dazwischen auf Knopfdruck“, ist der Budgetsprecher der SPÖ, Jan Krainer, überzeugt. Der Finanzmarktexperte der Initiative Weis(s)e Wirtschaft, Peter Brandner, sagt: „Jedes Börsenunternehmen veröffentlicht bei gröberen Abweichungen Ad-Hoc-Meldungen an seine Aktionäre und wartet nicht auf die Jahresbilanz. Das könnte auch das Finanzministerium mit einer Analyse, weil es an der Datenquelle sitzt.“ Es sei eine „rein politische Entscheidung“, es nicht zu tun.
August 2024: Wirtschaftsforscher fordern immer lauter ein Sparpaket – das Institut für Höhere Studien in Höhe von zwei bis vier Milliarden Euro. Bundeskanzler Karl Nehammer sieht keine Notwendigkeit. Er habe eine „gegenteilige Auffassung“. Brunner wird zum EU-Kommissar für Migration designiert.
September 2024: Wahlkampf. Milliardenschwere Entlastungen werden versprochen – vor allem von FPÖ und ÖVP. Die Zauberformel für die Gegenfinanzierung heißt: „Förderungen kürzen“. Mittlerweile ein Klassiker aus der Kategorie Wählertäuschung. NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger versucht, das „Budgetloch“ zum Thema zu machen, fordert vehement Sparpakete. Sie findet wenig Widerhall.
3. Oktober 2024: Vier Tage nach der Wahl revidiert Brunner sein Budgetdefizit nach oben. Der neue Wert: 3,3 Prozent. Als Grund gibt er das Hochwasser und den erhöhten Klimabonus an. Badelt richtet ihm aus, dass auch dieser Wert mittlerweile viel zu niedrig angesetzt sei. Am Tag darauf schnalzt das WIFO seine Defizitprognose für 2024 auf 3,7 und für nächstes Jahr auf vier Prozent hinauf.
9. Oktober 2024: Der Fiskalrat geht mittlerweile von einem Defizit von über drei Prozent des BIP bis 2028 aus. Unter Wirtschaftsexperten wird nun nicht mehr darüber diskutiert, ob Österreich in den kommenden Jahren den EU-Grenzwert von drei Prozent verletzt, denn das scheint fix. Jetzt geht es darum, ob das Defizit unter vier Prozent bleibt.
„Kassasturz, Rezession überwinden, Budget sanieren“, skizziert Budgetsprecher Krainer den Fahrplan aus Sicht der SPÖ, die mit der ÖVP eine Regierung bilden will. Auf der Suche nach den fehlenden Milliarden dürfte es als Erstes dem Klimabonus an den Kragen gehen, ist hinter den Kulissen zu hören. Er kostet zwei Milliarden Euro pro Jahr. Er könnte für ein paar Jahre ausgesetzt, komplett abgeschafft oder nur für Besserverdiener gestrichen werden. Auch an höheren Steuern werde kurzfristig kein Weg vorbeiführen, ist Margit Schratzenstaller vom WIFO überzeugt. Zur Debatte stehen die Tabaksteuer, Alkoholsteuer oder eine neue „Zuckersteuer“, die es in elf EU-Ländern bereits gibt. Aber auch über eine Erhöhung von Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer oder Grundsteuer wird offen diskutiert. Die Wahlzuckerl bleiben in der Verpackung.
Und Brunner? Sein Ministerium verweist darauf, dass die Prognosen wegen der wirtschaftlichen Unsicherheit besonders schwierig gewesen seien. So habe das IHS das Budgetdefizit noch im Frühjahr 2024 bei 2,2 Prozent angesetzt, zitiert das Ministerium eine Abweichung nach unten im Vergleich zu den eigenen Vorhersagen. Die Abweichungen nach oben haben freilich dominiert.
Brunner verabschiedet sich mit einer zweifelhaften Haushaltsbilanz nach Brüssel. Mögen die Zuwanderungsprognosen des künftigen Migrationskommissars aktueller und treffsicherer ausfallen.
Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.