Leiter des Bundesasylamtes Wolfgang Taucher: "Es ist nicht meine Aufgabe, Likes zu sammeln."
Interview: Rosemarie Schwaiger
Das Sommerloch war sicher ein Grund. Aber die Geschichte hätte wahrscheinlich auch zu einem anderen Zeitpunkt den Weg in die internationalen Medien gefunden. Am 15. August berichtete die Wiener Wochenzeitung "Falter" über den negativen Asylbescheid für einen jungen Afghanen, der seine Homosexualität als Fluchtgrund genannt hatte. In der Regionalstelle Wiener Neustadt des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wollte man ihm das nicht glauben. Der zuständige Mitarbeiter listete in seinem Bescheid sehr detailliert auf, warum er den Afghanen nicht für homosexuell hielt. Seltsam fand der Beamte etwa den Umstand, dass der junge Mann angab, nur wenige Freunde zu haben. "Sind Homosexuelle nicht eher gesellig?", fragte sich der BFA-Mitarbeiter. Auch dass der Antragsteller im SOS-Kinderdorf, in dem er lebte, öfter mit anderen Jugendlichen in Streit geriet, erschien verräterisch. "Ein Aggressionspotenzial ist bei Ihnen also vorhanden, das bei einem Homosexuellen nicht zu erwarten wäre."
Mit solchen Klischees geht es seitenweise weiter. Über "Europas irrste Abschiebe- Begründung" schrieb daraufhin das deutsche Boulevardblatt "Bild". Auch die "Washington Post" fand die Causa verrückt genug, um darüber zu berichten: "Afghan teenager loses Austrian asylum case for not acting gay enough."
Leider hatte der "Falter" vergessen, darauf hinzuweisen, dass dem betreffenden BFA-Mitarbeiter schon im Mai die Approbation entzogen worden war; er darf seither keine Bescheide mehr unterzeichnen. Die Selbstkontrolle der Behörde dürfte in diesem Fall also funktioniert haben.
Dafür gab es umgehend einen weiteren Fall. Wieder ging es um einen angeblich homosexuellen Asylwerber, wieder las sich der Bescheid höchst eigenartig. Der Mann aus dem Irak sei "nicht authentisch" und "zu mädchenhaft" aufgetreten. Deshalb halte man die behauptete sexuelle Orientierung für "lediglich gespielt". Anders als beim ersten Aufruhr stellte sich das BFA in diesem Fall hinter den Mitarbeiter. Ein Asylbescheid habe im Schnitt 70 Seiten. "Aus dieser enormen Menge ein paar wenige Sätze herauszunehmen, bildet nicht die Realität ab", hieß es in einer Aussendung.
Unser Asylsystem gehört zu den besten in Europa.
Die Behörde hat ihren Personalstand in den vergangenen Jahren fast verdreifacht und beschäftigt aktuell 1380 Mitarbeiter. Seit der großen Flüchtlingskrise von 2015 mussten 150.000 Asylanträge bearbeitet werden. Kann man in einer solchen Ausnahmesituation überhaupt alles richtig machen? BFA-Chef Wolfgang Taucher ist überzeugt davon: "Unser Asylsystem gehört zu den besten in Europa."
profil: Die Arbeit Ihrer Behörde sorgte zuletzt für heftige Kritik. Einem Asylwerber, der Homosexualität als Fluchtgrund angab, wurde mitgeteilt, dass er zu wenig schwul wirke, einem anderen, dass er "zu mädchenhaft" und deshalb unglaubwürdig sei. Wie muss man sich denn benehmen, um in den Augen Ihrer Mitarbeiter als homosexuell durchzugehen? Taucher: Es geht nicht um das Benehmen. Unser Auftrag ist es, in diesen Gesprächen sehr persönliche Fragen zu stellen, Ungereimtheiten aufzuklären, eventuell sogar in die Konfrontation zu gehen. Im Asylrecht muss der Antragsteller seine Behauptungen nicht beweisen, aber er sollte glaubwürdig sein.
profil: Glaubwürdigkeit ist ein sehr vager Begriff, unter dem jeder etwas anderes versteht. Taucher: Die Judikatur regelt das relativ klar. Glaubwürdig bedeutet, Sie haben eine konsistente Geschichte, Sie wechseln nicht im Verfahren ständig die Details, Sie sind als Person authentisch, und was Sie erzählen, stimmt mit der Situation im Herkunftsland überein. Dann geht es um die Frage, wie sich jemand während des Verfahrens verhält. Hat er zum Beispiel bei der Altersfeststellung mitgewirkt? All das wird zusammengenommen und geht in die sogenannte freie Beweiswürdigung.
Es geht um die Glaubwürdigkeit der Person.
profil: Der Europäische Gerichtshof hat 2014 entschieden, dass Asylwerber nicht zu ihren sexuellen Praktiken befragt werden dürfen. Wie soll man dann herausfinden, ob die Angaben stimmen? Taucher: Der EuGH hat im Wesentlichen festgestellt, dass die sexuelle Orientierung nicht durch einen Sachverständigen, zum Beispiel einen Mediziner, bewertet werden kann. Im Grunde sagt der EuGH das Gleiche, was ich Ihnen gerade gesagt habe: Es geht um die Glaubwürdigkeit der Person.
profil: Können Sie mir ein Beispiel geben? Welche Fragen stellen Sie einem jungen Afghanen, der sagt, er sei schwul und müsse deshalb um sein Leben fürchten? Taucher:Wir haben da keine standardisierten Fragen. Die meisten Gespräche beginnen mit der Aufforderung an den Antragsteller, einfach seine Geschichte zu erzählen. Aus dieser Geschichte ergeben sich dann Nachfragen. Die Fragetechnik ist trainierbar. Man muss wissen, was die Kennzeichen einer realen Geschichte sind.
profil: Zum Beispiel, dass sie detailreich ist. Taucher: Unter anderem. Aber es gibt noch sehr viel mehr Hinweise.
profil: Haben Ihre Mitarbeiter eine psychologische Ausbildung? Taucher: Unsere Mitarbeiter werden im Haus geschult, weil es extern kein Ausbildungsangebot gibt. Ich bin ja auch Vorsitzender der europäischen Unterstützungsagentur in Malta. Dort haben wir über die Jahre unterschiedliche Lehrmodule entwickelt, die auch bei uns zum Einsatz kommen.
profil: Vor ein paar Monaten wurde bekannt, dass es im deutschen Bundesamt für Asyl und Migration in größerem Stil Betrugsfälle gab. Mitarbeiter hatten sich für positive Bescheide bezahlen lassen. Wie verhindern Sie so etwas? Taucher: Kriminelle Energie wird man nie ganz ausschalten können. Aber wir haben ein internes Kontrollsystem, das wir ständig weiterentwickeln. Wir führen eine interne Kontrollstatistik, und es gibt zusätzlich Kontrollen durch den unmittelbaren Teamleiter. Auch wir in der Direktion schauen uns immer wieder ein Sample der Bescheide an. Als zweiten Eckpfeiler haben wir aktuell stark in die Compliance-Schulung aller Mitarbeiter investiert.
profil: Sehr viele negative Asylentscheidungen Ihrer Behörde werden in zweiter Instanz aufgehoben. Wo läuft da etwas falsch - bei Ihnen oder im Bundesverwaltungsgericht? Taucher: Weder noch. Es gab Meldungen, wonach fast jeder zweite negative Bescheid wieder aufgehoben wird. Tatsächlich kommt es bei 36 Prozent zu Abänderungen durch das Gericht. Das sind nur zwei bis drei Prozent mehr als in anderen Verwaltungsbereichen. Und das Flüchtlingsrecht weist Besonderheiten auf: Wie ich schon erklärt habe, geht es nicht um Beweise, sondern um den persönlichen Eindruck. Während der Dauer des Gerichtsverfahrens kann sich auch einiges ändern, zum Beispiel die Situation im Herkunftsland. Oder jemand heiratet und wird dadurch begünstigter Drittstaatsangehöriger. Außerdem ist die Zählweise des Gerichts so, dass Abänderungen schon als solche gelten, wenn sie nur ein Detail des Spruchs berühren. Angenommen, wir haben in einem Fall ein Wiedereinreiseverbot für zehn Jahre verhängt, und der Richter reduziert das auf fünf Jahre. Dann gilt das schon als Abänderung - obwohl die betreffende Person von beiden Instanzen kein Bleiberecht bekommen hat. Wir akzeptieren natürlich die Entscheidungen des Gerichts, keine Frage. Aber das ist keine Aussage zur Qualität unserer Arbeit.
profil: Sie machen diesen Job schon seit über 20 Jahren. Gewöhnt man sich daran, als oberster Asylbeamter in der Kritik zu stehen? Oder kränken Sie sich noch? Taucher: Das kränkt mich nicht. Ich finde, wir leisten gute Arbeit. Wir haben in den vergangenen zweieinhalb Jahren 150.000 Entscheidungen getroffen. Seit 1. Juni können wir wieder eine Verfahrensdauer von rund sechs Monaten gewährleisten. Wir haben den Rückstand der Jahre 2015 und 2016 aufgearbeitet. Und wir haben die Zahl der Außerlandesbringungen jedes Jahr gesteigert, heuer schon um 40 Prozent bei den zwangsweisen Returns. Damit leisten wir einen guten Beitrag zur Sicherheit in Österreich.
Der Anteil der negativen Entscheidungen ist seit 2016 um 23 Prozent auf derzeit 60 Prozent gestiegen.
profil: Als Sie 1996 Ihr Amt antraten, erklärten Sie, die Priorität müsse sein, Entscheidungsprozesse nachvollziehbar und transparent zu machen. Gegenüber der Öffentlichkeit ist das offenbar nicht gelungen. Taucher: Es ist uns gelungen zu kommunizieren, dass 2015 nicht nur Flüchtlinge im Sinne der Genfer Menschenrechtskonvention gekommen sind. Deshalb konnten wir auch die Trendumkehr in unserer Anerkennungspraxis ganz gut vermitteln, glaube ich. Der Anteil der negativen Entscheidungen ist seit 2016 um 23 Prozent auf derzeit 60 Prozent gestiegen.
profil: Urteilen Sie jetzt so viel strenger? Taucher: Es liegt an den Herkunftsländern der Menschen und daran, dass wir zur Normalität vor der großen Flüchtlingskrise zurückkehren. Ein Beispiel: Im vergangenen Jahr lagen Migranten aus Nigeria in ganz Europa unter den Top fünf bei den Antragstellern. Auch in Österreich war das so. Die Anerkennungsquote für Nigerianer beträgt bei uns aber nur zwei Prozent. Da ist es klar, dass die Quote der positiven Bescheide insgesamt sinkt.
profil: Viele Menschen haben den Eindruck, dass hauptsächlich gut integrierte Menschen abgeschoben werden. Sie haben einen festen Wohnsitz, vielleicht einen Job, Kinder in der Schule - man findet sie also leichter als einen obdachlosen Drogendealer. Ist das so? Taucher: Überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Wir setzen grundsätzlich immer zuerst auf die freiwillige Ausreise. Wenn dieses Angebot nicht genützt wird, folgt die zwangsweise Außerlandesbringung. Unsere klare Priorität liegt bei der Rückführung von straffälligen Personen. Die Ansicht, dass es häufiger gut integrierte Familien trifft, basiert nicht auf Statistik, sondern auf subjektiver Wahrnehmung. Ich verstehe das. Für Personen, die mehr Kontakte in Österreich haben, ist es vielleicht auch leichter, in die mediale Berichterstattung zu kommen. Wir hatten einen Charterflug nach Nigeria, auf dem 17 von 19 Passagieren rechtskräftig verurteilte Straftäter waren. Davon haben Sie nichts gehört, oder?
profil: Diese Woche jährt sich die Grenzöffnung zum dritten Mal. Ihr Resümee? Taucher: Im Jahr 2015 sind 90.000 Menschen in Österreich geblieben. Das waren so viele wie in den fünf Jahren davor zusammen und natürlich bei Weitem zu viele für unsere Kapazitäten. Wir mussten bis vor Kurzem, bis Mitte 2018, immer noch diese Fälle abarbeiten. Ich hoffe, dass man auf allen Ebenen, also national und innerhalb der EU, Maßnahmen setzt, damit eine Situation wie 2015 nicht mehr eintreten kann.
profil: Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie von der Grenzöffnung erfahren haben? Taucher: Ich war im Büro, ganz konkret im Innenministerium.
profil: Wahrscheinlich waren Sie nicht erfreut. Taucher: Wenn man vor solchen Herausforderungen steht, ist das Erfreutsein keine Kategorie.
profil: Es gibt in den Niederlanden das Asylzentrum Ter Apel, das viel kritisiert, aber auch viel gelobt wird. Dort schafft man es, jeden Asylantrag innerhalb von acht Wochen zu erledigen - und zwar letztinstanzlich. Das funktioniert, weil sämtliche Experten und Zuständigen an einem Ort zusammenwirken. Wäre das ein Modell für Österreich? Taucher: Ja und nein. Wir tauschen uns auf europäischer Ebene sehr offen aus. In Holland waren wir, glaube ich, zuletzt im Jahr 2002. Wir haben uns das angeschaut und das Zulassungssystem für Traiskirchen übernommen. Ich bin grundsätzlich ein großer Befürworter davon, sich im Interesse der Glaubwürdigkeit des Asylsystems stark um offensichtlich unbegründete Asylanträge zu kümmern - wie das in Ter Apel ja auch passiert. Das haben wir im Vorjahr in 1500 Fällen so gemacht und konnten innerhalb von drei Wochen Entscheidungen treffen, etwa auch bei visafrei eingereisten georgischen Staatsbürgern. Am 1. September trat das jüngste Fremdenrechtsänderungsgesetz in Kraft. Wir nehmen das zum Anlass, um auch operativ darauf zu reagieren. Das heißt, wir haben einen neuen Schwerpunkt, auf Einreisen aus asylfremden Motiven noch schneller und effizienter zu reagieren. Wir werden diese Menschen nicht mehr auf die Bundesländer verteilen, sondern sie ersuchen, in den Betreuungsstellen des Bundes zu bleiben.
profil: Was bedeutet das Wort "ersuchen" in diesem Zusammenhang? Werden die Leute eingesperrt? Taucher: Natürlich nicht, aber außerhalb der Betreuungsstellen wird es keinerlei Unterstützungsleistung geben.
profil: Wann ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet? Wenn der Bewerber aus einem sicheren Herkunftsland kommt? Taucher: Das ist ein wichtiger Punkt und betrifft sämtliche Balkanländer, Georgien, Marokko, Algerien. Aber die Maßnahme bezieht sich auch auf Menschen, bei denen wir den begründeten Verdacht haben, dass sie uns in ihrer Identität täuschen.
profil: Sie haben früher bei der Caritas gearbeitet - und zwar unter anderem als Rechtsberater für Flüchtlinge. Warum haben Sie die Seiten gewechselt? Taucher: Das habe ich nicht. Mir ging es immer darum, jenen Menschen Schutz zu bieten, die ihn wirklich brauchen. Dieser Intention bin ich treu geblieben.
profil: Von den meisten Hilfsorganisationen werden Sie als Gegner wahrgenommen. Taucher: Die NGOs haben ein anderes Mandat als wir. Aber man sollte einander dennoch mit Wertschätzung begegnen. Wenn das wechselseitig gegeben ist, bin ich jederzeit zu Gesprächen bereit. Wir haben mit vielen Interessensvertretungen zu tun, die trefflich und mitunter auch medial stark überzogen ihre Interessen vertreten. Im Gegensatz dazu haben wir einen gesetzlichen Auftrag zu erfüllen. Und unser Asylsystem gehört zu den besten in Europa, unsere Experten sind europaweit höchst gefragt.
Mein Auftrag ist es nicht, Politik zu machen, sondern eine Behörde zu managen.
profil: Das öffentliche Image ist ein ganz anderes. Taucher: Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, Likes zu sammeln.
profil: Ins Amt geholt wurden Sie seinerzeit von SPÖ-Innenminister Caspar Einem. Mit Herbert Kickl von der FPÖ haben Sie nun schon den neunten Ressortchef. Sind Sie so tüchtig, dass man Sie nicht austauschen kann? Oder so flexibel, dass Sie mit jedem können? Taucher: Da will ich keine Selbstbeurteilung abgeben. Mir geht es um Rechtsstaatlichkeit, um Qualität und um Loyalität. Ich habe es immer so gehalten, dass ich meinem Chef gegenüber sehr offen rede. Aber ich muss nicht notwendigerweise mit den Medien über meinen Chef reden. Mein Auftrag ist es nicht, Politik zu machen, sondern eine Behörde zu managen.
Wolfgang Taucher, 55 Der Oberösterreicher hat Jus studiert und war Assistent am Institut für Völkerrecht der Universität Graz. Von 1988 bis 1996 arbeitete er als Rechtsberater der Caritas, seit 1996 ist er Direktor des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und gehört damit zu den längstdienenden Spitzenbeamten.