Bundeskanzler im Interview: „Ausgerechnet der Nehammer“
profil: Wie verbringt ein Bundeskanzler die Quarantäne?
Nehammer: Ich war acht Tage isoliert, habe meine Frau und meine Kinder vermisst. Ansonsten musste ich drei Mal täglich mein Handy aufladen, ich hatte viel mehr elektronische Sitzungen, Videokonferenzen, Telefonkonferenzen.
profil: Im Jogginganzug?
Nehammer: Klar, ich habe in Freizeitkleidung gearbeitet, aber nicht in Jogginghose. Und mir bei offiziellen Themen ein Hemd angezogen. Bei Online-Konferenzen muss man nicht immer im Anzug sitzen.
profil: Mittlerweile gibt es 30.000 Neuinfizierte pro Tag. Ab welcher Zahl machen Sie sich Sorgen?
Nehammer: Es stimmt, was uns Experten vorhersagten: Mit Omikron findet ein Paradigmenwechsel statt. Die Infektionszahlen sind hoch, aber die Situation in den Spitälern ist stabil. Es kann aber sein, dass viele Menschen gleichzeitig ausfallen – besonders schlimm wäre das in der kritischen Infrastruktur, im Gesundheitsbereich, bei der Lebensmittelversorgung. Das beobachten wir. Offenbar gibt es bei Omikron kein Limit, wir müssen uns auf neue Dimensionen bei Infektionen einstellen.
profil: Braucht es damit andere Maßnahmen?
Nehammer: Wir justieren ständig nach. So muss mit Omikron die Dauer der Quarantäne neu gedacht und wohl verkürzt werden. Gecko arbeitet daran.
profil: Das wäre eine kleinere Änderung. Eine große Änderung wurde beschlossen: die Impfpflicht. Viele Wissenschafter zweifeln, ob sie mit Omikron überhaupt notwendig ist und zum richtigen Zeitpunkt kommt.
Nehammer: Ich habe in zwei Jahren Pandemie gelernt, dass Politik und Wissenschaft ständig dazulernen. Erinnern Sie sich: Wir haben angefangen mit Händewaschen, dann kam der Mund-Nasen-Schutz, dann waren wir glücklich über die Perspektive Impfung. Es hieß zwei Stiche reichen, dann drei Stiche, jetzt gehen wir von ständigen Auffrischungen aus. All diese Entwicklungen passierten mit enormer Geschwindigkeit, weil die Wissenschaft Unglaubliches leistet. Aber die Wissenschaft ändert ihre Meinung auch: Manche Experten sind für, manche gegen die Impfpflicht. In der Politik muss man sich festlegen.
Antigen-Tests werden wichtiger, weil das PCR-System an Grenzen stößt – sogar beim Test-Meister Wien. Auch beim Testen sind wir Lernende.
profil: Sie bezeichnen die Impfpflicht als Ultima Ratio. Kurz vor Beschluss präsentierten Sie Prämien und eine Lotterie. Warum haben Sie nicht vorher ausprobiert, ob Anreize die Impfquote erhöhen, bevor Sie zum letzten Mittel Impfpflicht greifen?
Nehammer: Die Kombination ist wichtig: Einerseits die Pflicht, weil nur Impfen uns die Freiheit erhält. Es schaut so aus, als könnten wir das Virus nicht endgültig besiegen, aber wir können es durch Impfen zurückdrängen. Zusätzlich zur Impfpflicht gibt es Anreize. Wir wollen nicht nur Zwang, wir wollen ja weiter in einer solidarischen Gesellschaft leben.
profil: Werden mit der Impfpflicht Corona-Tests kostenpflichtig?
Nehammer: Das ist nicht vorgesehen. Antigen-Tests werden wichtiger, weil das PCR-System an Grenzen stößt – sogar beim Test-Meister Wien. Auch beim Testen sind wir Lernende.
profil: Wir Betrachter lernen, dass die Zusammenarbeit in der Koalition funktioniert. Vizekanzler Werner Kogler lobt Sie als Teamplayer. Sebastian Kurz war also kein Teamplayer?
Nehammer: Natürlich, sonst wäre ich nicht in seinem Team gewesen. Aber jeder hat einen anderen Stil. Ich halte es mit der Aufschrift auf der Wiener Secession: Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit. Als Sebastian Kurz Kanzler wurde, war eine andere Positionierung notwendig: Damals litten die Menschen unter der lähmenden Großen Koalition, hatten Sehnsucht nach kantiger Zuspitzung. Jetzt, nach zwei Jahren Pandemie, ist die Grundstimmung anders: Die Gesellschaft ist gespalten, manche Ungeimpfte haben Angst, die müssen wir abholen, nicht wegstoßen. Niemand braucht jetzt das Narrativ „Geimpfte gegen Ungeimpfte“. Ich will einen gemeinsamen Kampf gegen das Virus. Daher versuche ich, alle einzubinden.
profil: Sebastian Kurz war ein „Sozifresser“, er hätte sich nie mit SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner hingestellt und Impfanreize verkündet.
Nehammer: Ich finde diesen Begriff unpassend, und er trifft auch nicht zu. Die Zeit erfordert eine Einbindung der Opposition. Das ist mir bei der Impfpflicht gelungen. Ich profitiere davon, dass mir Dialogführen nicht fremd ist: Als Innenminister habe ich polarisiert und fünf Misstrauensanträge bekommen – aber auch 91 Prozent Zustimmung im Parlament für die Reform des Verfassungsschutzes. Ich will als Kanzler alle Menschen mitnehmen. Dazu gehört, dass man mit Oppositionsparteien vertrauensvollen Kontakt hat. Das erfordert übrigens jeweils beide Seiten.
profil: Geht der Übergang vom Flex-Innenminister so schnell?
Nehammer: Die Flex entstand, als viele glaubten, Corona ist ungefährlich. Wir in der Politik hatten einen Informationsvorsprung, weil wir die Bilder aus Bergamo mit den gestapelten Leichensäcken kannten. Wir mussten damals das Gefahrenbewusstsein erhöhen – auch durch Sprache. Die Polizei musste Dinge tun, an die man vorher nie dachte, etwa den Abstand zwischen Menschen kontrollieren. Damals entstand der Begriff „Flex“. Die Polizei durchbricht Infektionsketten.
profil: Manche träumen in der Sandkiste davon, Kanzler zu sein, manche arbeiten mit dem Projekt „Ballhausplatz“ darauf hin. Sie wurden eher zufällig Kanzler. Welches Amtsverständnis haben Sie?
Nehammer: Ich sehe mich als Brückenbauer. Ich habe eine Lieblingsbrücke, die ich mir unendlich oft anschauen kann: die Brooklyn Bridge in New York. Sie ist eine besondere Konstruktion, hat auch eine dramatische Sozialgeschichte, weil viele Menschen beim Bau starben.
profil: Und sie ist eine alte Brücke.
Nehammer: Aber eine sehr tragfähige. Sie steht bis heute, Millionen Menschen überqueren sie. Als Brückenbauer muss man stark sein, weil viel Gewicht auf der Brücke liegt. Darum mag ich das Symbol.
profil: Auch Wolfgang Schüssel bezeichnete sich als Brückenbauer. Sie wollen ein lernender Kanzler sein. Was haben Sie bisher gelernt?
Nehammer: Dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass das Corona-Virus uns lange begleiten wird. Uns wurde vorgeworfen, dass wir zu schnell die Pandemie für beendet erklärten.
profil: Kurz tat das.
Nehammer: Rudi Anschober genauso. Bei beiden muss man Fairness walten lassen. Im ersten Lockdown sagten uns Psychologen: Nicht nur düstere Szenarien zeichnen, die Menschen brauchen Perspektiven. So entstand die Aussage vom Licht am Ende des Tunnels.
profil: Solche nicht eingehaltenen Versprechen zerstören Vertrauen.
Nehammer: Wir müssen alle zugeben, dass wir nicht alles wissen und lernen. Darum bin ich ein lernender Kanzler – bei vielen Themen: Pflege, Bildung, Sicherheit, Kultur, Industrie, Technologie, Forschung. Nie darf man so vermessen sein zu glauben, dass man schon alles weiß. Davor bewahrt mich meine humanistische Prägung. Ich hatte noch Altgriechisch-Unterricht.
profil: Waren Sie ein guter Schüler?
Nehammer: Ein lausiger! Die Lehrer denken sich jetzt: dass ausgerechnet der Nehammer, der uns so narrisch gemacht hat, auf seine Altgriechisch-Zeit repliziert! Aber manches blieb bei mir hängen, etwa aus Platons Texten zu Sokrates: dass ständiges Lernen notwendig ist, um Antworten zu finden.
profil: Mit Sokrates nahm es kein gutes Ende, er trank das Gift aus dem Schierlingsbecher.
Nehammer: Dieses Bild könnten wir vertiefen, dann wird es philosophisch. Aber was ist die Lehre daraus? Ich werde nicht meine Ansprüche ändern, nur weil es schlecht ausgehen könnte.
profil: Die erste Belastungsprobe für die Regierung wird der ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss. Im Ibiza-U-Ausschuss waren die Grünen scharfe Aufdecker, zum Unmut der ÖVP.
Nehammer: Ich verstehe das Unbehagen in meiner Partei mit den Methoden im U-Ausschuss. Ich durfte ja selbst einmal dort sein, ganz am Anfang, mit Alma Zadić. Wenig später war ich bei einem Gerichtsverfahren als Zeuge. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht: Im U-Ausschuss verhalten sich Abgeordnete wie bei einem Tribunal, fragen schroff, schreien „Unterbrechung“. Dagegen geht es bei Gericht gesittet zu.
profil: Die Bezeichnung „Tribunal“ für eine gesetzlich verankerte Einrichtung des Nationalrates ist heftig.
Nehammer: Wären Sie selbst in der Situation wie eine Auskunftsperson im U-Ausschuss, würden Sie sehen, dass ich recht habe. Die Frage ist, wie sich Abgeordnete im U-Ausschuss verhalten: Zeigen sie Respekt gegenüber dem anderen oder nicht? Man kann Institutionen wie einen U-Ausschuss auch missbrauchen. Nicht die Institution ist ein Tribunal, das Verhalten mancher Abgeordneter erinnert daran.
Im U-Ausschuss verhalten sich Abgeordnete wie bei einem Tribunal, fragen schroff, schreien „Unterbrechung“.
profil: Auch ÖVP-Abgeordnete im U-Ausschuss waren nicht fein in ihrer Wortwahl.
Nehammer: Ich habe als Abgeordneter nie Kollegen despektierlich behandelt. Das ist nicht meine Form demokratischer Auseinandersetzung. Ich bin einer der härtesten Kämpfer für die Ideen der ÖVP. Aber ich werde nie versuchen, andere Politiker runterzumachen. Leider hat sich der Umgangston im Parlament verändert.
profil: Das dürfte auch an der Pandemie und am Streit um das Krisenmanagement liegen.
Nehammer: Wir werden nicht so bald den Status erreichen, dass die Pandemie überwunden ist. Aber die politische Arbeit der Regierung endet jetzt schon nicht beim Krisenmanagement. Der Beschluss der ökosozialen Steuerreform ist in der öffentlichen Wahrnehmung leider untergegangen, obwohl sie eine komplette Neuordnung unseres Steuersystems bedeutet. Etwas wie die CO2-Bepreisung hat es zuvor nicht gegeben. Wir werden den Familienbonus von 1500 auf 2000 Euro pro Jahr pro Kind erhöhen. Es geht insgesamt um eine Entlastung in Höhe von 18 Milliarden Euro.
profil: Wie lange soll das Prinzip „Koste es, was es wolle“ noch gelten? Arbeitnehmer bekamen in der Kurzarbeit für deutlich weniger Arbeitsleistung beinahe das gleiche Gehalt. Unternehmen wurden großzügig entschädigt, teilweise gab es Überförderungen. Muss bald Entwöhnung stattfinden?
Nehammer: Dieses Urteil ist zu hart. Die Kurzarbeit ist eine der größten Erfolgsgeschichten in den zwei Jahren der furchtbaren Pandemie. Wir haben es geschafft, dass die Betriebe ihre Mitarbeiter halten. Und was die Unternehmen betrifft: Wenn der Staat verlangt, dass die Geschäftstätigkeit nicht mehr ausgeübt werden darf, wenn er die Wirtschaft zusperrt, dann muss der Staat auch Entschädigungen leisten. Der Entwöhnungsprozess wird beginnen, sobald einschränkende Maßnahmen nicht mehr notwendig sind.
profil: Das wird ein zäher Prozess.
Nehammer: Alle Unternehmerinnen und Unternehmer, die ich kenne, wollen ihr Geschäft lieber aufsperren, etwas produzieren oder ihre Dienstleistungen anbieten, als Entschädigungen vom Staat zu erhalten. Und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer streben die Kurzarbeit ja nicht an.
profil: Es macht den Eindruck, in der Pandemie hat auch die ÖVP den starken Staat schätzen gelernt.
Nehammer: Auch da ist die ÖVP eine Lernende. Es war wichtig, viel Geld in die Hand zu nehmen, wo es notwendig war. Unsere Volkswirtschaft hat zusätzlich zum normalen Budget 42 Milliarden Euro für Corona-Hilfen gestemmt. Das war eine riesige Kraftanstrengung, das kann aber nicht immer so weitergehen. Nach dem Ende der Krise müssen wir wieder einem nachhaltigen Budget den Vorrang geben.
profil: Klingt fast nach Sozialdemokratisierung der ÖVP.
Nehammer: Wenn Sie meinen, dass die christliche Sozialisierung der ÖVP voranschreitet, haben Sie recht. Das andere wird nicht passieren.
profil: Sie sind Obmann einer Partei, gegen die die Korruptionsstaatsanwaltschaft ermittelt. Wie wollen Sie den Ruf der ÖVP wiederherstellen?
Nehammer: Sie müssen mich an meinen Taten messen, nicht an Umfragen. Wir arbeiten redlich und hart in der Regierung. Wir haben ein konstruktives Klima in der Koalition und setzen das Regierungsprogramm Punkt für Punkt um. Das ist mein Angebot an jene,
die von den Ereignissen der letzten Monate irritiert sind.
profil: Wie erklären Sie Steuerzahlern, dass das ÖVP-geführte Finanzministerium Geld für Studien ausgab, in denen erhoben wurde, dass Sebastian Kurz als Tier am ehesten ein Eichhörnchen oder Delfin wäre?
Nehammer: Das müssen zunächst jene erklären, die diese Studie beauftragt haben. Wenn etwas im Einflussbereich der ÖVP nicht korrekt abgelaufen ist, muss es untersucht werden. Dafür sind die Ermittlungsbehörden und die Gerichtsbarkeit zuständig. Abgesehen davon bitte ich um Differenzierung. Dass die ÖVP eine korrupte Partei wäre, weise ich zurück. Wir haben über 20.000 Gemeinderätinnen und Gemeinderäte. Wir stellen über 1500 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister und sechs Landeshauptleute. Wir sind als ÖVP ein fest verwurzelter Teil der Republik, die wir mitbegründet haben. Es gab und gibt auch Ermittlungen gegen hochrangige Politiker im Umfeld der SPÖ, bei den Grünen und auch bei der FPÖ.
profil: Sie sagen zur Entschuldigung der ÖVP, dass es in allen Parteien Korruption gibt?
Nehammer: Nein. Ich sage eben nicht, dass die SPÖ, Grüne oder FPÖ strukturell ein Korruptionsproblem haben. Fehler werden immer von Individuen begangen. Gibt es eine größere Organisation, wo keine Fehler passieren? Wenn aber Fehler passiert sind, dann gehören diese aufgeklärt. Sie werden von keinem ÖVP-Politiker etwas anderes hören.
profil: Die Korruptionsfälle der letzten Monate sind nur zufällig aufgeflogen. Wann kommen endlich Transparenzpaket und Informationsfreiheitsgesetz? Wann fällt das Amtsgeheimnis?
Nehammer: Ich könnte es mir leicht machen und populistisch antworten, dass dies selbstverständlich bald umgesetzt wird. Mehr Transparenz ist ja immer gut. Aber natürlich ist das Thema viel komplexer. Was darf der Staat? Was darf er nicht? Wo beginnt Privatheit, worin besteht das öffentliche Interesse? Man muss auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs achten. Das heißt, so viel Transparenz wie möglich, aber genug Spielraum für die Kontrollierten, um arbeiten zu können. Ein Beispiel: Parlamentarische Anfragen an die Ministerien sind ein starkes Kontrollmittel der Opposition. Aber man kann es übertreiben. Ich habe als Innenminister 1500 parlamentarische Anfragen beantworten müssen. Das sind mehr Fragen als Tage, die ich Minister war.
profil: Werden die Beinschab-Studien für das Finanzministerium veröffentlicht?
Nehammer: Ich kenne sie nicht. Aber wenn sie unter das Transparenzgesetz fallen, werden sie veröffentlicht, wenn das Transparenzgesetz gilt. Die Verhandlungen über das Gesetz laufen, und zwar gut.
profil: Ist die ÖVP die „Hure der Reichen“?
Nehammer: Falls diese provokante Frage darauf abzielt, wie ich zu solchen Aussagen stehe, dann antworte ich, dass ich die Aussage für völlig inakzeptabel halte.
profil: Ist die ÖVP des Karl Nehammer auch die Partei der Frühaufsteher?
Nehammer: Die ÖVP ist Anwältin derer, die arbeiten gehen, einen Beitrag zur Gesellschaft leisten, dafür sorgen, dass wir das Sozialsystem finanzieren können, bereit sind, eine Familie zu gründen und Angehörige zu pflegen. Das ist die ÖVP. Wir sind so breit in unseren Themen wie noch nie in unserer Geschichte. Wir sind keine Klientelpartei und keine segmentierte Partei mehr. Wir haben in den vergangenen Jahren als Kanzlerpartei die kleinen Pensionen erhöht und gleichzeitig den Forschungsstandort weiterentwickelt. Die Volkspartei ist tatsächlich wieder echte Volkspartei.
profil: Sie sprechen bei öffentlichen Auftritten nicht nur „Österreicherinnen und Österreicher“ an, sondern immer „Menschen, die in Österreich leben“. Warum? Weil Österreich ein Einwanderungsland ist?
Nehammer: Als Innenminister war ich für die öffentliche Sicherheit verantwortlich. Die geht alle an. Und in meinem neuen Amt bin ich der Bundeskanzler für alle. Was die Einwanderung betrifft: Allein die geostrategische Lage Österreichs bedingt, dass immer auch Migration stattgefunden hat. Menschen, die hier leben, sollen die Chance haben, sich zu bilden, sich zu integrieren. Und wir sollten bereit sein, sie aufzunehmen. Eine Gesellschaft, die nicht bereit ist, Menschen von woanders zu akzeptieren, ist eine in sich geschlossene, ganz verengte Gesellschaft. Das war Österreich nie. Wir können das System aber nicht überfordern. Unkontrollierte Zuwanderung lehnen wir ab, weil sie die soziale Sicherheit gefährdet.
profil: Die einzige große Wahl in diesem Jahr ist die Bundespräsidentschaftswahl. Braucht die ÖVP einen eigenen Kandidaten?
Nehammer: Ich habe ein exzellentes Verhältnis zu Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Er hat das Primat der Kommunikation und wird uns mitteilen, ob er neuerlich kandidiert. Bis dahin werde ich mich zu dieser Frage nicht öffentlich äußern.
profil: Sie haben einmal über sich gesagt, Sie seien hart, aber herzlich. Kann man als Bundeskanzler herzlich sein?
Nehammer: Ich denke, man wird in allen Parteien Politiker finden, die der Ansicht sind, dass man mit mir gut zusammenarbeiten kann. Man kann ideologisch ganz weit auseinanderliegen, aber den anderen schätzen.
profil: Zu viel Herzlichkeit ist aber auch falsch.
Nehammer: Wolfgang Schüssel hat einen ganz wichtigen Hinweis gegeben: Eine Linie ist eine Linie. So halte ich es. Ich funktioniere sehr gut im Team. Viele sind überrascht, wie viel Schwarmintelligenz ich um mich herum zulasse. Aber dann gibt es einen Punkt, an dem ich entscheide. Und diese Entscheidung durchsetze.
Interview: Gernot Bauer, Eva Linsinger, Fotos: Alexandra Unger