Causa Ischgl: Tiroler Behörden missachteten Erlass des Gesundheitsministeriums
Update 17:00: Das Land Tirol hat am Samstag in einer Aussendung auf den profil-Bericht reagiert: Der im Artikel genannte Erlass vom 29. Februar sei am 5. bzw. 6. März nicht mehr gültig gewesen. profil weist darauf hin, dass das Land Tirol im Zuge der Recherche mit dem konkreten Erlass vom 29. Februar konfrontiert wurde. In seiner Antwort bezog sich das Land Tirol dann ebenfalls auf den erwähnten Erlass von 29. Februar, eine Änderung zum Zeitpunkt des 5. bzw. 6. März wurde gegenüber profil nicht erwähnt. Das Land Tirol betonte bezugnehmend auf die profil-Berichterstattung in der Aussendung, die Definition der Kontaktpersonen sei zuvor geändert worden. Die behördliche Absonderung sei ab diesem Zeitpunkt nur mehr für Personen vorgesehen gewesen, die zu CoV-Infizierten oder Verdachtspersonen „15 Minuten oder länger in einer Entfernung von weniger als zwei Metern“ Kontakt hatten. Fest steht: Mehrere Isländer waren bereits zum Zeitpunkt infektiös, als sie sich in Ischgl aufhielten - das geht aus dem Mail der Isländer vom Nachmittag des 5. März hervor. Die von profil aufgeworfene Frage, wie viele Kontaktpersonen der Isländer ausgeforscht und isoliert wurden - und was zur Ausforschung allfälliger Kontaktpersonen unternommen wurde - beantwortete das Land Tirol auch in der Aussendung nicht.
Die Faktenlage spricht schon länger für ein rundum verkorkstes Corona-Krisenmanagement im Land Tirol: Vom Virenherd Ischgl aus infizierten sich mindestens 1670 Österreicher, über 11.000 Menschen in ganz Europa – und noch Zigtausende mehr, die das Virus vom beliebten Skiort in 45 Länder auf fünf Kontinenten trugen.
Ein Grund für dieses Desaster: Die Tiroler Behörden handelten nicht nur zu spät, sie missachteten in Ischgl auch die klaren Vorgaben eines Erlasses des Gesundheitsministeriums, der profil vorliegt. Kontaktpersonen von Infizierten wurden nicht in Quarantäne geschickt, obwohl das schon Anfang März dezidiert vorgeschrieben war. Doch auch die Bundesregierung stufte Ischgl erst sehr spät als Risikogebiet ein – mit gravierenden Folgen.
Vom ersten Corona-Fall in Ischgl erfuhren die Behörden in Tirol bekanntlich bereits am 5. März durch eine Warnung aus Island. Über das Mail, in dem auch die Namen jener fünf Hotels angeführt sind, in denen die 14 infizierten Isländer genächtigt hatten, berichtete profil vor zwei Wochen. Die entscheidende Frage ist nun, wie das Land Tirol und die für Ischgl zuständige Bezirkshauptmannschaft Landeck auf diese Warnungen konkret reagierten. Haben sie, wie der Tiroler Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg (ÖVP) beharrlich wiederholt, „alles richtig gemacht“? Haben sie „in der jeweiligen Situation das Menschenmögliche getan“, wie Landeshauptmann Günther Platter beteuert?
Die Antwort darauf lautet: nein.
Eindeutige Vorgaben
Bereits eine Woche vor der Warnung aus Island – am Vormittag des 29. Februar – verschickte das Gesundheitsministerium in Wien den ersten Corona-Erlass direkt an die Büros der Landeshauptleute. Betreff: „Behördliche Vorgangsweise bei Kontaktpersonen.“ Der Erlass beschreibt penibel, wer als Kontaktperson von Corona-Patienten gilt – und wie die Bezirkshauptmannschaften mit ihnen umgehen müssen.
Die Vorgaben waren eindeutig, alle von profil kontaktierten Bezirkshauptmannschaften hielten sich daran – nur nicht das Land Tirol und die Bezirkshauptmannschaft Landeck. Wer in einem geschlossenen Raum einem Corona-Infizierten näher als zwei Meter kam, mit ihm ein Gespräch führte, ihm die Hand schüttelte oder ihn küsste, galt damals schon als Kontaktperson „mit hohem Infektionsrisiko“.
Im Erlass wurden die Bezirkshauptmannschaften dazu aufgefordert, solche engen Kontaktpersonen per Bescheid für 14 Tage in Heimquarantäne zu schicken, und zwar unabhängig davon, ob die Personen Symptome zeigten oder nicht.
Haben die Tiroler Behörden diese Vorgaben in Ischgl befolgt?
Nach der detaillierten Warnung aus Island am 5. März reagierten Land und Bezirkshauptmannschaft zaghaft; erst einen Tag später begaben sie sich auf die Suche nach Kontaktpersonen. Doch sie dürften dabei einen entscheidenden Fehler begangen haben: Wie ein Sprecher des Landes Tirol auf mehrmalige profil-Nachfrage erklärte, wurde in den betroffenen Hotels lediglich eine Mitarbeiterin mit grippeähnlichen Symptomen in Quarantäne geschickt und getestet. „Bei allen anderen MitarbeiterInnen dieser Hotels gab es keine Hinweise auf eine Corona-Erkrankung“, so der Sprecher. Laut Ministeriumserlass hätten auch alle anderen Kontaktpersonen, die näher als zwei Meter mit den infektiösen Isländern zusammenkamen, für 14 Tage isoliert werden müssen – unabhängig von jedweden Symptomen. Davon wären wohl zumindest mehrere Mitarbeiter und Gäste der fünf Hotels betroffen gewesen, in denen die Isländer in Ischgl abgestiegen waren.
"Nicht an das Ministerium gewandt"
Ausnahmen bei der Isolierung von Kontaktpersonen wären nur nach ausdrücklicher Genehmigung durch das Gesundheitsministerium möglich gewesen. Doch aus dem Ministerium heißt es auf profil-Anfrage: „Die BH Landeck oder das Land Tirol hat sich in diesem Zusammenhang nicht an das Ministerium gewandt.“ Das Land blieb dennoch bei seiner Darstellung, der Erlass des Gesundheitsministeriums sei „seitens der Tiroler Gesundheitsbehörden stets eingehalten worden“.
Dass die Vorgehensweise in Ischgl untypisch lasch war, zeigt auch ein Vergleich mit anderen Bezirkshauptmannschaften. Schließlich gab es in mehreren Skigebieten in ganz Österreich zeitgleich mit Ischgl ebenfalls Corona-Fälle. Doch wurde der Erlass des Ministeriums dort sehr viel ernster genommen.
Etwa im Salzburger Pongau: Am 4. März, einen Tag vor der Ischgl-Warnung aus Island, wurde in einem Hotel in Obertauern eine deutsche Touristin positiv getestet. Bezirkshauptmann Harald Wimmer erinnert sich: „Wir sind am selben Tag mit einem Amtsarzt hingefahren und haben die Erhebungen gemacht: Wer wie lange und wie eng mit der Corona-Infizierten in Kontakt war.“ Es habe zwar niemand Symptome gezeigt, doch die Hotelbesitzer und alle Mitarbeiter wurden per Bescheid umgehend in Quarantäne geschickt. Auch viele Gäste waren betroffen, denen die Bezirkshauptmannschaft die Heimreise mit dem Privat-PKW erlaubte – wenn sie sich zu Hause isolierten. Wimmer: „Vor der Abreise haben wir die Gesundheitsämter in Deutschland informiert. Das macht man so.“ Für eine öffentlich angereiste Urlaubergruppe aus Deutschland wurde gar ein Mietwagen organisiert, um eine Verbreitung des Virus in Öffis zu vermeiden.
Rasche Reaktion in Kärnten
Im Kärntner Skiort Bad Kleinkirchheim reichte ein einziger Verdachtsfall aus, um eine gesamte Tourismusanlage für mehrere Stunden zu sperren: Eine italienische Urlauberin war Ende Februar im Zimmer ihres Apartments gestorben. Der zugezogene Notarzt konnte Covid-19 als Todesursache nicht ausschließen, und noch in den frühen Morgenstunden läutete das Handy von Klaus Brandner, Bezirkshauptmann von Spittal an der Drau. „Ich wurde über den Journaldienst von dem Corona-Verdachtsfall informiert. Meine Behörde ist laut dem Epidemiegesetz in so einem Fall zuständig“, sagt Brandner gegenüber profil: „Nach Rücksprache mit einer Ärztin der Landessanitätsdirektion verfügte ich dann die polizeiliche Sperre der gesamten Apartmentanlage.“ Am Nachmittag desselben Tages kam der Laborbefund: Die Urlauberin war nicht an Covid-19 verstorben. Bis zu diesem Zeitpunkt durften die übrigen Gäste ihre Apartments nicht verlassen.
Dass die Vorgehensweise in zwei anderen Bundesländern konsequenter war, liegt am föderalen Management der Corona-Krise: Für die Umsetzung der Ministeriumsvorgaben beim Contact-Tracing sind die Bezirkshauptmannschaften zuständig; die medizinische Expertise dafür holen sie sich bei den jeweiligen Landessanitätsdirektionen – und ausgerechnet in dem am schwersten betroffenen Bundesland traf die Behörde folgenschwere Fehleinschätzungen.
Ganz kann sich die Bundesregierung allerdings nicht an Tirol abputzen. Zwar leitete das Gesundheitsministerium die Warnungen aus Island unverzüglich an Tirol weiter. Doch drei Tage später gingen im Ministerium weitere warnende Mails zu Tirol aus Dänemark und Norwegen ein. Hätte Ischgl aufgrund dieser Auffälligkeit nicht zur Chefsache erklärt werden müssen? Das Gesundheitsministerium verweist auf den SKKM-Krisenstab (Staatliches Krisen- und Katastrophenschutz-Management) im Innenministerium. In der zentralen Krisenkoordinationsstelle, in der Sicherheitsexperten, Ministeriumsvertreter und die Bundesländer jeden Tag konferieren, war auch Tirol ein Thema: Die Lage dort sei „wie mit allen anderen Bundesländern in der täglichen Videokonferenz besprochen worden“, teilt das Gesundheitsministerium mit.
Auch Bund reagierte zu spät
profil liegen sämtliche Morgen-Briefings des SKKM-Krisenstabs vor. Sie legen nahe, dass es im Krisenstab lange kein Bewusstsein für den Virenherd Ischgl gab. Zwar wurden in den täglichen Präsentationen die Warnungen aus Island (Briefing vom 6. März) oder Dänemark (Briefing vom 7. März) vermerkt, doch daraus leitete die Regierung keine Notwendigkeit ab, Maßnahmen zu ergreifen.
Nach heutigem Wissensstand reagierte der Bund zu spät: Bei der Einstufung von Risikogebieten orientierte sich das Gesundheitsressort stark am deutschen Robert-Koch-Institut. Doch das Gefahrenpotenzial von Ischgl hätten die österreichischen Behörden selbst erkennen müssen. Erst ab dem 13. März, als das Paznaun unter Quarantäne gestellt wurde, galt das Tal österreichweit als Risikogebiet. Das heißt: Alle österreichischen Ischgl-Urlauber, die vor dem 13. März mit Symptomen zurückkamen, wurden nach damaliger Teststrategie nicht als Verdachtsfälle gewertet – und nicht getestet. Dabei urlaubten etwa 5000 Österreicher in der ersten Märzhälfte im Bezirk Landeck. Viele von ihnen schleppten das Virus unbemerkt in ihre Heimatbundesländer.
Dass in der Causa Ischgl Fehler passiert sind, geht in den SKKM-Briefings nur aus der Zusammenfassung der medialen Berichterstattung hervor. Am 18. März steht unter dem Punkt Öffentlichkeitsarbeit: „Schwere Kritik an Ischgl-Fiasko.“