Causa Kuhn: Rendezvous in Saal 215
Schwierige Auftritte absolvierte Julia Oesch im Laufe ihres Lebens schon einige. 1998 etwa stand die deutsche Opernsängerin bei der Eröffnung der Tiroler Festspiele in Erl als blutjunge Wagner’sche Urmutter auf der Bühne. Der Auftritt vor dem Landesgericht Innsbruck fällt in die Kategorie "besonders schwer". Im Verhandlungssaal 215 sitzt Oesch seit langer Zeit dem Ex-Intendanten Gustav Kuhn erstmals persönlich gegenüber. Ihr letztes Zusammentreffen liegt mehr als eineinhalb Dekaden zurück.
Die Mezzosopranistin Oesch war eine von fünf Künstlerinnen, die am 25. Juli 2018 ans Licht der Öffentlichkeit traten und dem Dirigenten und Festspiel-Intendanten Kuhn Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe vorwarfen. Sogar die "New York Times" berichtete über den offenen Brief der Sängerinnen. Oesch war die einzige, die der 72-Jährige wegen des Verdachts der Rufschädigung vor ein Zivilgericht brachte. Die Sängerin hatte in einem ORF-Interview von einem "massiven sexuellen Übergriff" berichtet. Das jedoch brachte ihr keine Klage ein; es war vielmehr die – praktisch schwer zu belegende – Behauptung, der Maestro habe Rollenversprechungen mit sexuellen Gegenleistungen verknüpft.
"Machtmissbrauch, Übergriffe und Machismus dürfen unseren Arbeitsalltag nicht mehr bestimmen"
Nun war sie angereist, um sich dem Zivilverfahren und den Medienvertretern zu stellen. Kuhns Klage hindere sie nicht daran, "weiter Stellung zu beziehen und meinen Beitrag zu leisten, um die Arbeitsbedingungen für Musiker und Musikerinnen zu verbessern", erklärte Oesch noch vor Beginn der Verhandlung. "Machtmissbrauch, Übergriffe und Machismus dürfen unseren Arbeitsalltag nicht mehr bestimmen", sagte sie. Es habe eine "Zeitenwende" stattgefunden, aber es brauche "noch viele mutige Frauen und Männer, die sich nicht verstecken, sondern aufstehen und für Fairness kämpfen". Sie erlebe "große Unterstützung, viel Rückhalt und Solidarität". Das "Netzwerk der Mutigen" werde immer größer.
Künstlerkolleginnen und Unterstützer füllten an diesem Dienstag den Saal. Die Richterin ließ den Nebenraum aufsperren und zusätzliche Sessel herbeischaffen. Mit im Publikum: der Tiroler Internet-Publizist Markus Wilhelm, der die Causa Kuhn auf dietiwag.org im Februar 2018 lostrat, und die berühmte Sängerin Elisabeth Kulman, die nach Innsbruck gekommen ist, "um zu zeigen, dass wir Frauen einander stärken, wir sind viele". Als Kulman ihren Sessel Richtung Kuhn rückt, um für Nachdrängende Platz zu schaffen, fixiert der Dirigent sie mit einem schwer zu deutenden Blick.
"Wir wollen uns nicht verstecken, wir bekennen Farbe"
So wie ihre Kolleginnen Mona Somm und Manuela Dumfart, die als Zeuginnen vor dem Verhandlungssaal warten müssen, bis sie aufgerufen werden, ist Kulman in leuchtend bunter Kleidung erschienen. "Wir wollen uns nicht verstecken, wir bekennen Farbe", wird Mona Somm später beim Hinausgehen erklären. Die Zeuginnen warten heute vergeblich. Der Prozess geht, bevor er noch richtig begonnen hat, mit einem sogenannten Unterlassungsvergleich zu Ende.
Julia Oesch sitzt kerzengerade auf dem Sessel; sie wirkt sprungbereit. Ihr gegenüber der "Maestro", vorgebeugt, seine Unterarme liegen auf der Tischplatte, die Finger verschränkt. Die Anwälte – auf Kuhns Seite Michael Krüger; an der Seite der Sängerin Markus Orgler – sind handelseins geworden. Die Sängerin muss nichts widerrufen, darf den beanstandeten Vorwurf aber auch nicht wiederholen.
Ursprünglich hatte die Richterin vorgehabt, Kuhn zu befragen. Weil die Ermittlungen der Staatswanwaltschaft wegen des Verdachts der sexuellen Belästigung noch laufen, will der Ex-Intendant laut seinem Anwalt aber nicht Rede und Antwort stehen. Anwalt Krüger hält in einem Mail gegenüber profil tags darauf jedoch fest, seine Prozesserklärung habe sich nur auf Sachverhalte bezogen, die von der Staatsanwaltschaft untersucht werden, zur Causa Oesch hätte Kuhn "selbstverständlich umfassend ausgesagt”. Beim Hinausgehen kann sich Kuhn Bemerkungen freilich nicht ganz verkneifen. Die Sängerin Mona Somm fasst er von hinten an der Hand und überrumpelt sie mit der Gratulation, "sie habe ja eine wunderbare Karriere gemacht". Anerkennend war das vermutlich nicht gemeint.