Die Präsidenten und die Seitensprünge
Die Charakterfrage als Eignungstest wird vor allem in den USA gestellt. Bill Clinton kostete sie beinah das Amt. Der 42. Präsident der Vereinigten Staaten geriet wiederholt wegen seines Privatlebens unter Druck. Im Jahr 1998 wurde ihm vorgeworfen, im Weißen Haus eine Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky unterhalten zu haben. Clintons Aussage in einem Amtsenthebungsverfahren ging in den amerikanischen Zitatenschatz ein: „I did not have sexual relations with that woman.“
Dass die Charakterfrage für die Wahlchancen völlig irrelevant sein kann, zeigt Donald Trump. Offensichtlich handelt es sich beim früheren Präsidenten um eine ruchlose Persönlichkeit. Doch an seinen Wahlchancen ändert dies nichts.
Auch ein österreichischer Bundespräsident sah sich während seiner Amtszeit unerwartet mit der Charakterfrage konfrontiert. Nach seiner Wahl 1992 wurde bekannt, dass Thomas Klestil ein Verhältnis zu seiner Mitarbeiterin, der Diplomatin Margot Löffler, hatte. Der Boulevard tobte sich am vermeintlichen Seitensprung des Staatsoberhaupts aus. Anders als bei Clinton handelte es sich allerdings um eine ernsthafte Beziehung. Nach seiner Scheidung heiratete Klestil Löffler.
Für dessen Kritiker waren die Thematisierung des Privatlebens und die Frage nach dem Charakter gerechtfertigt. Der Bundespräsident habe sich im Wahlkampf als liebender Familienvater mit seiner Gattin an der Seite präsentiert und damit die Öffentlichkeit getäuscht. Auch Konrad Paul Liessmann kann diese Argumentation etwas abgewinnen: „Ein Politiker muss sich an seinen eigenen Ansprüchen messen lassen.“ Denn Demokratie lebe vom Vertrauen. Dieses würde beschädigt, wenn die politischen Repräsentanten unverlässlich werden.
Was die Fälle Clinton und Klestil verbindet: Die Charakterfrage bezieht sich allein auf das Privatleben. Infrage gestellt wird, was man leicht spießig den „Lebenswandel“ nennt – und nicht, wie sich der Betreffende in seiner politischen Tätigkeit verhält: Neigt er zur Ranküne? Hat er Wahlversprechen gebrochen oder den eigenen Leuten lukrative Posten zugeschanzt? Überzieht er andere Politiker mit Unflat? Biegt er die Realität zurecht? Unterstützte er die Demontage eines Parteifreundes? Ist er Karrierist? Stellte man diese politischen Charakterfragen, könnte man auch die Eignung anderer EU-Spitzenkandidaten anzweifeln.
Hierarchie der Charakterfehler
Der frühere Bundeskanzler Sebastian Kurz war einer der wenigen, dessen Charakter im politischen Handeln hinterfragt wurde – ausgerechnet von seinem Koalitionspartner. Als die Ermittlungen zur mutmaßlichen Inseratenkorruption im Oktober 2021 sogar eine Hausdurchsuchung im Kanzleramt auslösten, forderte Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer die ÖVP auf, eine „untadelige Person“ als Regierungschef zu nominieren. Dass Kurz 2017 Reinhold Mitterlehner regelrecht aus dem Amt mobben ließ, sahen die Grünen allerdings nicht als Hindernis für eine Zusammenarbeit.
Offenbar gibt es eine Hierarchie der Charakterfehler, die für ein Amt diskreditieren. Besonders übel wird ein Verstoß gegen das achte Gebot – „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ – genommen. Im „Standard“ ist zu lesen, Lena Schilling habe „ein problematisches Verhältnis zur Wahrheit“, das Gratisblatt „Heute“ nannte sie gar „Lügen-Lena“. Auch diese Charakterisierungen betreffen Aussagen, die Schilling im engsten privaten Kreis, nicht als Politikerin getätigt haben soll. Dass sie auch im EU-Parlament „ein problematisches Verhältnis zur Wahrheit“ haben wird, kann daraus wohl nicht zwingend geschlossen werden.
Über Schillings politische Eignung entscheiden die Wählerinnen und Wähler am 9. Juni. Wie sehr ihr Ergebnis von der Charakterfrage beeinflusst gewesen sein wird, werden Nachwahlanalysen zeigen. Die Erwartungen der Bürger an ihre Repräsentanten haben sich im Lauf der Jahre jedenfalls geändert. Soft Skills werden wichtiger. So hieß es schon vor Jahren in Zusammenhang mit einer Studie der Bertelsmann-Stiftung: „Lange galten Begriffe wie Fachwissen- und Methodenwissen als die wichtigsten Eigenschaften von Führungskräften in Politik und Verwaltung. Unsere Umfrage zeigt jedoch, dass zunehmend persönliche Charaktereigenschaften und menschliche Werte in den Blickpunkt rücken.“
Weitergedacht hieße dies: Geht es um das politische Personal, ziehen Bürger nette Menschen den fähigen vor. Was nicht gerade zweckmäßig sein muss: Alfred Gusenbauer war im Umgang eher herablassend, die Fähigkeit zum Kanzler sprach dem SPÖ-Vorsitzenden deswegen niemand ab. Ähnlich verhält es sich bei Wolfgang Schüssel: Der ÖVP-Kanzler setzte große Projekte wie eine Pensionsreform durch, galt aber als kalt und schreckte vor derber Sprache nicht zurück. Den früheren deutschen Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer bezeichnete er als „richtige Sau“.
Freilich tat Schüssel das in einem Hintergrundgespräch, von dem er nicht annahm, dass es öffentlich wird. Im Vertrauen formuliert wohl jeder zugespitzter als in größerem Kreis. Konrad Paul Liessmann warnt vor einem Irrtum: „Wir sollten akzeptieren, dass Politiker im Durchschnitt nicht schlechter oder besser sind als alle anderen Menschen.“
Bestes Gewissen
Die Bundesverfassung sieht keine charakterlichen Voraussetzungen für Politiker vor. In ihrem Amtseid verpflichten sie sich in der Regel nur, ihre Aufgaben „nach bestem Wissen und Gewissen“ auszuüben. Was ihr „bestes Gewissen“ zulässt, entscheiden sie selbst. Wo es Charakterfehler gibt, müssen aber auch Stärken existieren. Der Soziologe Max Weber nennt in seinem berühmten Aufsatz „Politik als Beruf“ drei wesentliche Charaktereigenschaften für Politiker: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß.
Weber zeichnet ein Ideal, dem in der Realität kaum ein Politiker nahekommt. Auch muss differenziert werden: Die Verantwortung eines Bundeskanzlers ist mit jener einer EU-Abgeordneten nicht vergleichbar. Nimmt man die Charakterfrage ernst, müssten für einen Regierungschef schärfere moralische Anforderungen gelten als für einen Abgeordneten; wobei fraglich ist, ob es ein Politiker, der stets edel, hilfreich und gut handelt, überhaupt in ein Spitzenamt schafft. Mit immerwährender Fairness und Redlichkeit wird man vielleicht Volksanwalt, nicht aber Bundeskanzler. Der Umkehrschluss, nur moralisch fragwürdige Charaktere könnten in der Politik erfolgreich sein, ist aus Sicht von Konrad Paul Liessmann allerdings unzulässig: „Ich denke nicht, dass nur bestimmte Persönlichkeiten und Typen in die Politik gehen oder dass eine Charakterschwäche bei Politikern gleichsam angelegt wäre.“
Zudem kann sich die Persönlichkeit eines Menschen auch wandeln, vor allem in der Mühle Politik. Liessmann: „Die Politik ist ein Mechanismus, der die Integrität von Personen gefährdet. Ein Politiker ist ständig Einflussnahmen ausgesetzt, er muss Tauschgeschäfte eingehen, sich Machtinteressen unterordnen. All das führt beim Politiker zu bestimmten Verhaltensweisen, die er als Privatmensch nicht hatte.“ Politik muss den Charakter nicht verderben, aber sie kann ihn verändern.
Vertrauensverlust
In der öffentlichen Meinung fallen Österreichs Politiker beim Charaktertest durch. Regelmäßig lässt die Austria Presse Agentur abfragen, ob die Bürger zu einzelnen Politikern Vertrauen oder kein Vertrauen haben. Laut der jüngsten Erhebung verfügen nur vier von 31 abgefragten Spitzenpolitikern über einen positiven Saldo: Bundespräsident Alexander Van der Bellen, die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures (SPÖ), Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) und Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP). Allen anderen Regierungsmitgliedern, Parteichefs, Klubobleuten und EU-Spitzenkandidaten sprechen die Österreicher mehrheitlich das Misstrauen aus. Auf den letzten Plätzen in ihrer Gunst liegen Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP), Lena Schilling und FPÖ-Obmann Herbert Kickl.
Die pauschale Charakterfrage in Zusammenhang mit ihren Repräsentanten beantworten die Bürger also negativ. Auf Selbsttäuschung folgt Enttäuschung. Konrad Paul Liessmann: „Einerseits stellen wir hohe moralische Ansprüche an Politiker mit der absurden Erwartung, diese würden anderen Standards unterliegen. Und andererseits strafen wir sie mit Verachtung und halten sie für charakterschwache Halunken.“