Superwahljahr 2024

Causa Schilling: Hängt die Eignung für ein Amt vom Charakter ab?

Ist Lena Schilling eine Lügnerin und Verräterin? Der Charakter der Politikerin wird hinterfragt – Aufklärung oder Inquisition?

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Bezugspunkt der Auseinandersetzung um Lena Schilling ist nicht das Strafrecht. „Der Standard“ veröffentlichte in den vergangenen Wochen insgesamt drei Artikel mit Vorwürfen gegen die grüne Spitzenkandidatin für die Europawahl am 9. Juni. Schilling wird dabei an keiner Stelle strafrechtlich Relevantes vorgehalten: weder üble Nachrede noch Verleumdung, auch nicht Kreditschädigung. Allerdings habe Schilling „viele Menschen verärgert oder verletzt“ und „einige sogar in existenzbedrohende Schwierigkeiten gebracht“. Sie spiele, so „Der Standard“ mit Bezug auf Informanten, „Personen gegeneinander aus“ und hinterlasse „verbrannte Erde“.

Die Vorwürfe der Zeitung beziehungsweise ihrer anonymen Zeugen betreffen in ihrer Substanz Schillings Persönlichkeit: Sie sei „eine Spitzenkandidatin, die problematische Verhaltensmuster an den Tag legt“. In ihrer ersten Stellungnahme hielt Schilling dagegen. Die Vorwürfe hätten nichts mit ihrer politischen Arbeit zu tun, sondern: „Hier wird mein Charakter infrage gestellt.“

In einem Kommentar in der „Presse“ fragte sich die renommierte Publizistin Anneliese Rohrer, ob Schilling „wusste, was sie da von sich gab“. Denn, so Rohrer: „Ja, natürlich! Wie kommt sie auf die Idee, dass die Charakterfrage in der Politik nichts zu suchen hat?“

„Charakterfrage“ bedeutet, dass man das Verhalten eines Politikers hinterfragen darf, vor allem auch in privatem Zusammenhang. Und sie erlaubt es, vom Charakter eines Politikers auf dessen Eignung für ein öffentliches Amt zu schließen. Das führt zu weiteren Fragen: Wer ist berechtigt, die Charakterfrage zu stellen, und wer, sie zu beantworten? Die Bürgerinnen und Bürger? Die Medien? Die politischen Mitbewerber?

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann warnt im Gespräch mit profil vor „jeder Art von Charakterprüfungen“. Damit begäbe man sich „auf dünnes Eis“. Er bezweifelt auch deren Sinn. Denn diese könnten keinen Hinweis liefern, wie Politiker in einer bestimmten Situation handeln werden. Liessmann: „Wer man ist, weiß man erst nach der Tat.“

Vor der Nominierung eines Quereinsteigers checken alle Parteien dessen Vita, um sich für Attacken anderer Parteien oder Medienanfragen zu wappnen. So wurde auch Lena Schillings Lebenslauf von den Grünen penibel durchleuchtet. Die Überprüfung höchstpersönlicher Handy-Chats unterblieb, weil auch unter Parteifreunden der Privatbereich tabu ist. Der jüngste Vorwurf des „Standard“ ist durch Chats auch nicht belegt. Anonyme Zeugen geben an, Schilling habe „überlegt“, nach der Europawahl die Grünen zu verlassen und sich der Linksfraktion anzuschließen. Einen Podcast übertitelte „Der Standard“ auf seiner Website mit der Frage: „Wollte Lena Schilling die Grün-Wähler hintergehen?“ Verrat steht auf der Charakterfehler-Skala weit oben. Die Grenzen zwischen Aufklärung und Inquisition sind allerdings fließend.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.