Christian Kern: "Jetzt können wir die Colts einpacken“
Auf dem Parkplatz des riesigen Werksgeländes der Stahl Judenburg in der Steiermark sind ein paar Stehtische aufgebaut; Lehrlinge, Betriebsräte und Geschäftsführung warten auf Kanzler Christian Kern. Dieser hält sich nicht lange am Stehtisch auf und nimmt den Rundgang durch das 450-Mitarbeiter-Stahlwerk in Angriff. Er plaudert sich durch die Hallen ("Wie lange sind Sie schon hier? Wo sind Sie her?“), fragt die Arbeiter nach Einkommen und Jobzufriedenheit, macht Handyfotos, erkundigt sich nach Problemen der Stahlbranche. Seit Wutwähler für Brexit und Trump votierten und Italiens Premier Renzi in die Wüste schickten, wird viel über den Zorn der Wähler und den Aufstieg der Rechtspopulisten philosophiert.
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profil: War 2016 ein Annus horribilis? Christian Kern: In den Krisenländern geht der Protest nach links, in Spanien zu Podemos, in Griechenland zu Syriza. Wo es eigentlich stabile Verhältnisse gibt, gewinnen Rechtspopulisten. Das ist das Frappierende an Trump und Brexit: Dort kann man es sich quasi leisten, rechten Protest zu wählen. Sicher spüren viele, dass eine Epoche zu Ende geht. Die Digitalisierung beschleunigt die Globalisierung, der Wandel hat ein Tempo wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Da kommen manche nicht mehr mit.
profil: Sie lobten Italiens Matteo Renzi gerne als vernünftigen Zentristen. Nun ist er gescheitert. Alarmiert Sie das? Kern: Ich habe ihn angerufen. Er hat gehadert, weil er etwas Vernünftiges wollte - und am Zorn scheiterte. Die Menschen erwarten sich von den Protestparteien gar keine Verbesserung, sie wollen nur das System zerstören und auf den Knien sehen. Und sie wählen ihre eigenen Schlächter- mehr Elite als ein Milliardär wie in den USA geht ja nicht mehr. Die Ernüchterungsphase wird kommen. Das Unerfreuliche ist: Mit dem Abgang Renzis verlieren wir in der EU wieder Zeit - und es kommen sukzessive die Partner für eine sozialdemokratische Restaurierung Europas abhanden.
profil: Sie haben gewitzelt, gemeinsam mit Renzi nach der Politkarriere einen Gebrauchtwagenhandel aufzumachen. Er hätte jetzt Zeit. Kern: Blöd gelaufen, weil ich diesen Plan lieber erst in zehn Jahren verwirklichen würde. Im Ernst: Wir Sozialdemokraten haben die Hegemonie über den Diskurs verloren. Es gibt in der EU Fehlentwicklungen, doch die Kritik daran dürfen wir nicht rechten Populisten überlassen. Seit ich Kanzler bin, diskutieren wir zum Beispiel mit Verve, wie wir mit der Stahlschwemme aus China umgehen. Ich bin für massive Zölle. Wenn die USA 260 Prozent auf Stahl aus China verlangen und die EU nur 14 und wir das ewig nur debattieren, dann akzeptieren wir, dass unsere Stahlindustrie von China zerstört wird. Die EU hat allein heuer 30.000 Arbeitsplätze in der Branche verloren.
profil: Sie fordern eine andere EU. Dazu müsste sich Österreich aktiver einbringen. Kern: Wir müssen uns fragen: Wollen wir mit der besten Schlagzeile punkten, uns um die beste Pointe hochlizitieren und bei EU-Themen sofort mit harscher Ablehnung reagieren? Das sind Schaukämpfe, die unsere Position in Brüssel nicht stärken.
profil: War das Türkei-Veto falsch? Kern: Unsere Türkeiposition ist inhaltlich richtig. Dabei bleiben wir auch. Wir müssen uns aber gut überlegen, wann wir zuspitzen. 90 Prozent der Österreicher finden es gut, wenn wir in Brüssel auf den Tisch hauen - aber es macht unsere Verhandlungsposition bei den für Österreich wirklich wichtigen Fragen, etwa beim Lohndumping, nicht leichter. Wir müssen auch die Bereitschaft haben, im Sinne des größeren Ganzen bei unpopulären Dingen Zugeständnisse zu machen. Ein Beispiel: Wir üben derzeit sicherheitspolitische Zurückhaltung - zu Recht, denn die Neutralität ist konstituierender Bestandteil unserer Geschichte. Aber falls die USA wirklich ihre Bereitschaft aufkündigen, Europa militärisch zu schützen, müssten wir über unsere Rolle nachdenken.
profil: Ist die Neutralität noch zeitgemäß? Kern: Das ist sie, aber wir werden uns nicht immer auf die schnelle Nein-Antwort zurückziehen können. Wir brauchen ein anderes Europa. Dafür müssen wir uns engagieren. Vielleicht kam der Brexit-Weckruf zur richtigen Zeit: Wir dürfen unsere Politik nicht in Bürotürmen ausdealen, diese alten Rituale funktionieren nicht mehr. Wir brauchen eine klarere Sprache. Was ist das Erfolgsgeheimnis von Donald Trump? Er ist absolut authentisch. Offenbar gibt es ein Bedürfnis danach.
profil: Die andere These lautet: Wähler haben politische Korrektheit satt. Kern: Diesen Diskurs finde ich bedenklich. Was soll an rassistisch und frauenfeindlich gut sein? Die Locker-Room-Pussy-Tapes aus dem US-Wahlkampf sind überhaupt nicht cool. Sie sind nicht nur sexistisch - ich habe mich als Mann auch dafür geniert, weil wir als triebgesteuerte Primaten hingestellt werden.
profil: Warum wählen so viele Männer Rechtspopulisten? Kern: Sie wählen gespieltes Leadership, jemand, der sich angeblich nichts pfeift. Strache gibt auch die wandelnde Antithese zum Zeitgeist, er pflegt bewusst ein machistisches Image, geht etwa Paintball spielen. Auf der anderen Seite war es ein positives Zeichen an Van der Bellens Wahlsieg, dass man mit Unaufgeregtheit und Ernsthaftigkeit gewinnen kann. Er repräsentiert altmodische, in moralischen Grundsätzen gefestigte Politik.
profil: Van der Bellens Sieg wird von manchen als Ende des Rechtspopulismus gefeiert. Kern: Vermutlich überschreitet das Phänomen langsam seinen Höhepunkt. Mir haben Politanalysten gesagt: "Für dich wäre es taktisch besser, wenn Hofer gewinnt - denke an Franz Vranitzky in der Kurt-Waldheim-Ära. Ich halte das für Unsinn. Über kurz oder lang hätte das das Ende der Koalition bedeutet. So ist jetzt Reinhold Mitterlehner gestärkt, das freut mich und stärkt auch die Regierung.
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In der Stahl Judenburg werden seit bald 111 Jahren unter anderem Kolbenstangen für Autos produziert. Kern stellt Fragen zu Investitionen und testet bei Konzern-Chef Ewald Thaller ab, welche Maßnahmen dem Industrieunternehmen helfen würden: "Bringt Ihnen die Forschungsprämie etwas? Wenn wir die erhöhen würden, hätten Sie was davon? Würde degressive Abschreibung nützen?“ Danach meint er: "Solche Fachgespräche genieße ich.“
In der Regierung waren die Genussmomente rarer.
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profil: Die berühmtesten Zitate Ihrer Antrittsrede lauteten: "Zukunftsvergessenheit“, "Machtversessenheit“, "Uns bleiben nur wenige Monate bis zum Aufprall“. Stimmt das noch? Kern: Bestimmt. Wir haben in den vergangenen sieben Monaten manches erreicht. Aber sobald es eine Einigung gab, wurde sie sofort zerredet. Beispiel Ganztagsschule: Im Juni haben wir uns auf massiven Ausbau geeinigt - und bis Dezember Woche für Woche neu darüber diskutiert. Oder: Es gab große Aufregung, weil ich in meinem "FAZ“-Artikel für öffentliche Investitionen plädierte - aber im Budget haben wir genau solche Investitionen beschlossen. Nur merkt es kaum jemand, weil wir uns oft gegenseitig zutexten. Weniger Schaukämpfe würden uns gut tun.
profil: Woran scheitert das? Kern: Die ersten Monate waren von Misstrauen geprägt. Wir haben uns belauert wie in einem schlechten Western: Zwei stehen sich gegenüber, mit dem Finger am Abzug, und beim ersten nervösen Grinsen passiert ein Unglück. Jetzt können wir endlich die Colts einpacken.
profil: Schneller schießen wäre manchmal nicht schlecht: Alles dauert viel länger als angekündigt. Kern: Die Ganztagsschule wurde ewig diskutiert. Aber im Unterschied zu vorher kommt jetzt nach all dem Gerede eine Entscheidung zustande. Es geht in die richtige Richtung.
profil: Die PISA-Tests erbrachten miserable Resultate. Kern: Das ist nicht akzeptabel, gerade weil wir viel Geld für das Bildungssystem ausgeben. Wir haben zu viele Köche, die den Brei zerkochen. Dazu schwingt bei Bildung viel Ideologie mit. Teile der ÖVP wehren sich gegen die Ganztagsschule, weil sie meinen, dass Mütter bis ins Teenageralter bei ihren Kindern bleiben sollen.
profil: Bei der gescheiterten Reform des Finanzausgleichs war Ideologie nicht das Problem. Kern: Der Finanzausgleich ist durchaus ein Fortschritt, aber oft gibt es ein Umsetzungsproblem: Die Dinge zu benennen, das klappt - sie zu ändern, schon weniger. Der Apparat genügt sich manchmal selbst. Früher wollte man an Macht und Verwaltung kommen, um die Gesellschaft zu ändern. Heute glauben manche, dass Macht und Verantwortung schon das Ziel sind. Die Innovationsfähigkeit des politischen Systems ist begrenzt. Oft wird Pose für Politik gehalten.
profil: Zwei Ihrer ersten Ankündigungen waren, dass Gewerbeordnung und Sozialversicherungen reformiert werden müssen. Heraus kam wenig. Kern: Es gab bei der Gewerbeordnung einen wesentlichen ersten Reformschritt. Natürlich bin ich damit nicht zufrieden. Zufriedenheit ist auch eine schlechte Eigenschaft für einen Bundeskanzler. Wir müssen mutiger sein. Das gilt auch für die Sozialversicherungen.
profil: Allein um dafür eine Studie in Auftrag zu geben, brauchte das Sozialministerium Monate. Kern: Wer glaubt, dass wir das Thema zu Tode begutachten, irrt sich. Das Thema ist heikel, aber eine Frage der Gerechtigkeit. Mittlerweile arbeiten 1,5 Millionen Menschen Teilzeit oder als Ein-Personen-Unternehmen, für die gelten viele Regeln nicht.
profil: Sie haben auch 200.000 Arbeitsplätze versprochen. Wann kommen die? Kern: Bis 2020. Das geht sich sicher aus. Wir haben Investitionen beschlossen, auch Förderungen für Klein- und Mittelbetriebe und Start-ups. Jetzt müssen nächste Schritte folgen: Wir sehen, dass die Arbeitslosigkeit bei Älteren und Migranten stark ansteigt. Bei der Jugend sinkt sie. Deshalb investieren wir in die Requalifikation von Facharbeitern und in Rehabilitierung Älterer.
profil: Wann kommt der sagenumwobene New Deal? Kern: Mir sind fünf Punkte wichtig: Investitionen, Beschäftigung, Wachstum, Bildung, Sicherheit. Daran arbeiten wir seit Monaten, unser Plan besteht aus einem Bündel von Maßnahmen. Wir brauchen eine echte Veränderung, um die Zukunft zu sichern.
profil: Ihre Neustartversuche für die Koalition waren bisher nicht von Erfolg gekrönt. Kern: Das müssen halt alle Beteiligten wollen. Um weiterzukommen, müssen wir das Regierungsprogramm überarbeiten. Mitterlehner und ich werden diskutieren, welche Änderungen notwendig sind, und ein Arbeitsprogramm für die nächsten zwei Jahre schnüren. Danach, nach der nächsten Wahl, wollen wir als SPÖ so stark werden, dass wir in der nächsten Regierung mehr Gestaltungsspielraum haben - mit welchen Koalitionspartnern auch immer.
profil: War die Ausgrenzung der FPÖ ein Fehler? Kern: Sie hatte ihre Berechtigung. Aber wir haben es der FPÖ zu leicht gemacht, sich aus inhaltlichen Diskussionen davonzustehlen. Die FPÖ braucht den Lärm, die Attacke. Das muss man ihr nehmen und fragen: Wofür steht ihr? Ich halte es für ein Missverständnis, dass im sozialpolitischen Bereich viele Schnittmengen zwischen SPÖ und FPÖ bestehen. Wenn die FPÖ die Anti-Eliten-Rhetorik ablegt, verbirgt sich dahinter eine Partei der Gutsbesitzer und Hausherren, die etwa strikt gegen Vermögenssteuern ist.
profil: Ist das ein Nein oder Jein oder Ja zu einer Koalition mit der FPÖ? Kern: Es ist ein Missverständnis, aus meinem höflichen Gespräch mit Heinz-Christian Strache ein Koalitionsangebot zu konstruieren. Mir geht es darum, zu zeigen, was die FPÖ für das Land will - und was die SPÖ. Das wird entscheidend. Um das Wahlverhalten der sozialliberalen urbanen Schichten mache ich mir keine Sorgen. Wir müssen Boden bei Nichtwählern und Exwählern gewinnen. Dann existiert eine stabile Mehrheit jenseits der FPÖ.
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Als nervenzerfetzendes Kopf-an-Kopf-Rennen muss man sich eine Betriebsratswahl bei der Stahl Judenburg eher nicht vorstellen: Die SPÖ-Liste gewann zuletzt sieben von sieben Mandaten. Früher war die gesamte Industrieregion der Mur-Mürz-Furche tiefrote Bastion, mittlerweile wurde die Zahl der Industriearbeitsplätze fast halbiert - und die Steiermark zur neuen FPÖ-Hochburg. Bei der Nationalratswahl 2013 wie auch bei der Bundespräsidentenwahl war das Bundesland blau eingefärbt. In Judenburg wählten 59 Prozent Norbert Hofer. SPÖ-Bürgermeister Hannes Dolleschall stapft in Kerns Schlepptau durch das Stahlwerk und sinniert: "Ich verstehe nicht, warum die Menschen so unzufrieden sind.“ Sicher ist jedenfalls: Judenburg schrumpft. Die höchste Einwohnerzahl hatte die Stadt 1971, seither geht es stetig bergab.
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profil: Die Steiermark wählt tiefblau. Was läuft schief? Kern: Regionen mit starker Abwanderung tendieren zur FPÖ. Wir müssen den Menschen das Gefühl geben: Wir haben euch nicht vergessen, wir machen was für euch. Wir haben Regionalpolitik zu lange als Agrarpolitik missverstanden, dabei geht es um Infrastruktur. Wenn Post, Bahnhof, Schule und das letzte Geschäft weg sind, ist auch der Glaube an die Zukunft weg. Wir brauchen ein Konzept für ländliche Entwicklung. Und wir brauchen bessere Stimmung, ohne Probleme zu ignorieren: Wer ständig trommelt, dass das Pensionssystem vor dem Bankrott steht und überhaupt alles dem Untergang geweiht ist, erzeugt nur Angst.
profil: Probleme schönzureden, bringt auch niemandem etwas. Kern: Ich habe neulich in Simmering mit einem Fensterputzer geredet. Der hat ein anderes Bild von der Pensionsreform. Der ist 62, kann seinen Job nicht mehr machen, muss drei Jahre auf seinen Pensionsantrag warten, ist deshalb urangefressen auf die Politik - und schimpft auf Ausländer. Wir brauchen uns nichts vorzumachen: FPÖ-Wähler führen alle Probleme auf die Migration zurück. Nur wo Integration funktioniert, leben die Menschen gut damit.
profil: Die SPÖ hat unter Ihnen Maßnahmen beschlossen, für die Werner Faymann ausgepfiffen worden wäre. Kern: Die Wahrheit ist: Bei der Integration stoßen wir an die Grenzen unserer Möglichkeiten. Daher müssen wir die Zuwanderung begrenzen. Auf der anderen Seite haben wir die Verpflichtung, in Krisenregionen zu helfen. Das Thema ist ein Dilemma: Rhetorik der Härte nützt der FPÖ - Realitäten nicht anzuerkennen, nützt niemandem. Wir werden als SPÖ mit dem Migrationsthema keine Wahl gewinnen. Aber wir haben gute Chancen, damit eine Wahl zu verlieren. Daher müssen wir eine Politik machen, die Probleme benennt und löst.
profil: Die Obergrenze für Flüchtlinge wurde viel diskutiert, heuer aber gar nicht erreicht. War das die Aufregung wert? Kern: Berechtigte Frage. Es war auch ein Bekenntnis à la: Wir haben verstanden. Als SPÖ dürfen wir aber nie zulassen, dass Menschen ins Eck gedrängt werden - und etwa die Mindestsicherung so kürzen, dass nur mehr der Ausweg in die Kriminalität bleibt. Es gibt politische Kräfte, die mit Flüchtlingen bewusst ihr Spiel treiben. Damit meine ich nicht nur die FPÖ.
profil: Sind Sie ein Populist? Kern: Mit Sicherheit nicht. Populismus bedeutet, Lösungen auf Kosten Dritter zu versprechen, Ausgrenzung zu betreiben und Konflikte zu schüren.
profil: Ihr Hunderter für Pensionisten soll kein Populismus sein? Kern: Die Durchschnittspension liegt bei 1100 Euro. Heuer geben wir 600 Millionen Euro weniger für Pensionen aus als geplant. Ich habe kein schlechtes Gewissen, den Leuten zu sagen: Ihr bekommt 100 Euro zusätzlich.
profil: Auch nicht, wenn Sektionschefs im Ruhestand 100 Euro dazu bekommen? Kern: Das war nicht unsere Idee, aber die ganz große Mehrheit der Pensionisten besteht nicht aus Sektionschefs. Vielleicht bezeichnen Sie es als Populismus, aber ich bin überzeugt, dass wir die Stimmungslage nicht ignorieren können. Ich will nicht das Gefühl aufkommen lassen: Ihr kümmert euch nicht um uns, aber für Bankenrettungen und Zuwanderer ist Geld da.
profil: Ihre CETA-Abstimmung halten Sie auch nicht für populistisch? Anton Pelinka sagt dazu, in Kern stecke mehr Faymann als in Faymann selbst. Kern: Sein Urteil ist für mich nicht der kategorische Imperativ. Die CETA-Abstimmung war der Einstieg in eine notwendige Diskussion über Freihandelsabkommen.
profil: Die geringe Beteiligung an der Befragung zeigte, dass die SPÖ nicht kampagnenfähig ist. Kern: Sagen wir es so: Unsere Kampagnenfähigkeit ist ausbaubar, mit einem traditionellen Straßenwahlkampf allein werden wir die nächste Wahl eher nicht gewinnen. Außerdem hat die SPÖ den Einstieg ins Internet-Zeitalter ziemlich verschlafen. Die SPÖ muss wieder zu einer Bewegung werden, die Chancen dafür sind gut. Ich erlebe das Gegenteil der viel zitierten Politikverdrossenheit, viele sind massiv politisiert. Daher können wir Experimente wagen.
profil: Wird es wieder Mitgliederbefragungen geben? Kern: Mit Sicherheit, aber vielleicht bei Themen, die weniger komplex sind. Ich bin eher ein Excel-Sheet-Mann und kein PowerPoint-Fan. In der Politik wirkt aber mehr die Oberfläche, also PowerPoint, wenige wollen sich mit Details und Fakten belasten.
profil: Sie wollen nur zehn Jahre Politiker sein. Wiens Bürgermeister Michael Häupl ist seit 22 Jahren im Amt. Ist es für ihn Zeit zu gehen? Kern: Michael Häupl ist nach dem Abgang von Heinz Fischer der letzte Großpolitiker, den wir haben. Er ist eine Institution und hat die Umsicht, die Situation in die richtige Richtung zu lenken.
profil: Das war jetzt nichtssagender Politsprech. Kern: Ich vertraue Häupl völlig. Er weiß, dass es Veränderung braucht. Gegen das, was sich beim Einigungsparteitag in Hainfeld an Flügelkämpfen abgespielt hat, sind die Debatten in der Wiener SPÖ harmlos.
profil: Das war 1889! Sie sagen, Sie haben zwei Parteien gewählt: Eine ist wohl die SPÖ - und die zweite? Kern: In meiner Jugend war ich bei einer alternativen Simmeringer Liste, Typus links und Ökofundi. So habe ich bei meiner ersten Wahl gewählt. Seither gehöre ich zu denen, die auch, wenn sie nicht restlos einverstanden sind, immer SPÖ ankreuzen - sonst hätte ich nächtelang nicht schlafen können.
profil: Solche unverbrüchlichen Stammwähler hat die SPÖ kaum mehr. Kern: Wenn wir uns als SPÖ nicht weitgehend verändern, wird es einen massiven Aufprall geben. Es wird nicht reichen, so weiterzumachen wie bisher, nach dem Motto: Wir dekorieren das Schaufenster neu, und einer macht den Vorturner. Wir werden eine mutigere, entschlossenere Partei werden müssen, um auch in 50 Jahren noch bestehen zu können.
profil: Wenn das nicht klappt, können Sie ausnahmsweise nicht der ÖVP die Schuld geben. Kern: Wir haben genug Anlass, vor der eigenen Türe zu kehren. Wir sind teilweise eine strukturkonservative Bewegung geworden. Ich erlebe zwar jetzt viel Enthusiasmus, aber wenn wir uns ernsthaft ändern, werden nicht alle Glückseligkeit verspüren. Wir müssen unsere Klientel neu definieren: Die 1,5 Millionen Ein-Personen-Unternehmen und Teilzeitbeschäftigten, die 300.000 Klein- und Mittelbetriebe - das sind die neuen Ziegelarbeiter. Sie machen ihre Jobs unter Selbstausbeutung und haben Angst vor der ersten Vorschreibung der Sozialversicherung. Unser Anspruch muss sein, diese Menschen zu vertreten.
profil: Es war anfangs Ihr Anspruch, Freude an Politik zu vermitteln. Das gelingt selten. Kern: Das erlebe ich anders. Natürlich denkt man manchmal: Das darf doch nicht wahr sein, das ist ja rationalitätsbefreit. Man gewöhnt sich nicht daran, aber man lernt damit umzugehen. Wir Österreicher schwanken offenbar zwischen Opportunismus und Verächtlichmachung. Es gibt submissive Annäherungen, die sich mit aggressiver Ablehnung paaren.
profil: Sie beschweren sich oft über die mediale Wahrnehmung und beklagen etwa das Hunderennen. Kern: Weil ich es nicht verstehe. Alle, die behaupten, sie hätten ein Patentrezept, Österreich bis 2017 auf Vordermann zu bringen, sind Scharlatane. Aber offenbar gibt es in der Politik ein Bedürfnis nach Scharlatanerie, außerdem eine Fixierung auf Äußerlichkeiten. Ich finde es okay, wenn jemand Maßanzüge hat. Ich persönlich besitze aber keinen einzigen. Trotzdem werden in Medien derartige Zerrbilder produziert - und viele andere mehr. Wenn Lokführer so arbeiten würden wie einzelne Journalisten, würde jeden Tag ein Zug entgleisen.
profil: Das klingt dünnhäutig. Vielleicht haben Sie sich an die Anfangseuphorie und Fragen wie jene gewöhnt, ob Sie über Wasser gehen können. Kern: Darüber habe ich mich nicht nur gefreut. Mich irritieren diese Hypes, die gab es ja bei Mitterlehner anfangs auch. Sie halten nie lange und machen dem Gegenteil Platz. In Österreich ist massive Respektlosigkeit gegenüber Politikern eingerissen. Alle glauben vom Spielfeldrand aus, es viel besser zu können.
profil: Glaubten Sie das auch? Stellt man sich Politik von außen zu leicht vor, ist das eine Ihrer Erkenntnisse? Kern: Absolut. In der Wirtschaft sitzt man in einem Boot mit acht Leuten, vielleicht rudern drei davon nicht, aber die anderen fünf haben sich wenigstens über die Richtung verständigt. In der Politik haben manche permanent Interesse, dass nichts zustande kommt. Das ist gewöhnungsbedürftig. In der Politik verdient man deutlich weniger als in der Wirtschaft, arbeitet rund um die Uhr und hat als Bonus die schlechte Nachrede.
profil: Noch Ihre Lieblingsfrage: Wann wird gewählt? Kern: Ich bin seit sieben Monaten in der Politik, seit sechs Monaten beantworte ich die Frage nach Neuwahlen. Es ist absurd: Eine Präsidentschaftswahl kann ein Grund für Neuwahlen sein - keine Präsidentschaftswahl auch. Gute Umfragewerte können ein Grund für Neuwahlen sein - schlechte auch. Wahrscheinlich ist sogar Freibier ein Grund - und kein Freibier auch. Wir werden alle überraschen: Die Regierung hält bis Herbst 2018.