ÖBB-Chef Christian Kern

Christian Kern: Kanzler der Herzen

Die ÖBB mauserten sich in der Flüchtlingskrise zur Vorzeigeinstitution des kleinen Empathie-Sommermärchens, ihr Chef zum Lieblingspolitiker im "Wir helfen“-Land. Eva Linsinger über die nachgerade unheimlichen Sympathiekundgebungen für Christian Kern.

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(Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst im September 2015. Christian Kern gilt als möglicher Nachfolger des am 9. Mai 2016 zurückgetrettenen Kanzlers Werner Faymann.)

Auf Gleis 9 am Wiener Hauptbahnhof quietscht vergangenen Donnerstag kurz nach Sonnenaufgang ein überfüllter Zug aus Ungarn an und spuckt eine neue Ladung übermüdeter, fast apathischer Flüchtlinge aus. Sie werden, immer noch, vom Applaus freiwilliger Helfer empfangen und in eine Bahnhofshalle geleitet, die zum Behelfs-Flüchtlingslager umfunktioniert ist: mit Kindergarten, Krankenstation, Feldbetten, Handy-Auflade-Eck, Essensständen und Dolmetschern mit "Farsi“- oder "Arabisch“-Zetteln am Bauch. Die jungen Enthusiasten der "train-of-hope“ organisieren hier die Flüchtlingshilfe - als eine Mischung aus professionellem Internet-Start-up und improvisiertem Zeltlager: manchmal chaotisch, teils handgestrickt, immer emphatisch. Wenn dieser täglich neu zusammengewürfelte Haufen freiwilliger Helfer die vielzitierte Zivilgesellschaft ist, dann lässt sich attestieren: Sie funktioniert.

Ich bin ein rationaler Mensch, mir ist schwer verständlich, warum nicht rascher nach Lösungen gesucht wurde.

Ein paar Meter weiter, an der Adresse Hauptbahnhof 2, und 22 Stockwerke höher liegt das Büro von ÖBB-Boss Christian Kern, so schniek und niegelnagelneu wie der gesamte Hauptbahnhof. Der Blick aus den Panoramafenstern ist atemberaubend, doch Kern hat an diesem Donnerstagvormittag keine rechte Muße dafür. Frisur und Anzug sitzen ultraperfekt wie immer, doch der für sein extrem kontrolliertes Auftreten bekannte Kern ist ungewöhnlich ungehalten: "Wir sind am Limit. Gibt es in Österreich keine anderen Transportmöglichkeiten als die Bahn? Was ist mit der AUA, Lastwägen des Bundesheeres, Busunternehmen? Ich bin ein rationaler Mensch, mir ist schwer verständlich, warum nicht rascher nach Lösungen gesucht wurde.“ Derartige Sätze stellen für Kerns Verhältnisse fast einen Wutausbruch dar. Wenig später wird der Zugsverkehr über die ungarische Grenze eingestellt, auch nach Deutschland rollen keine Sonderzüge mehr.

Über die Eisenbahner, lange als personifizierte Staatsschulden die Prügelknaben der Nation, ergießen sich dieser Tage ungewohnte Sympathiewellen.

In normalen Zeiten hätte ein derartiger Zug-Stopp für einen ausgeprägten Shitstorm und eine Menge Kalauer über faule ÖBBler gesorgt, die vor allem ihre Frühpension und dann lange gar nichts im Kopf haben. Diese Zeiten sind vorbei, ÖBB-Witze passé. Über die Eisenbahner, lange als personifizierte Staatsschulden die Prügelknaben der Nation, ergießen sich dieser Tage ungewohnte Sympathiewellen. "Wir bedanken uns bei den ÖBB für die Unterstützung der geflüchteten Menschen! Ihr habt Unglaubliches geleistet!“, wird auf Facebook und Co. gepostet, online und analog nehmen die Elogen kein Ende. Im kleinen österreichischen Spätsommermärchen mutieren die Bahnhöfe, allen voran der Wiener Westbahnhof, zu den Zentralen und Symbolen der Mitmenschlichkeit und die ÖBB zur Vorzeigeinstitution. Und ihr Chef Christian Kern zum Sonnenkanzler der Herzen - zumindest in der kleinen Teilrepublik, die derzeit im "Wir-helfen-Gefühl“ schwelgt. Er gibt der Ausnahmestimmung ein Gesicht und dient ihr als Identifikationsfigur.

Selbst geübte Giftspritzen wie der Kampf-Twitterer Rudi Fussi überschlagen sich nachgerade vor Begeisterung

Das Ausmaß und die überschwängliche Tonalität der Lobeshymnen auf Kern erscheinen fast unheimlich. "Du zeigst richtige Größe“ oder "Chapeau“ sind noch die untere Latte der Respektskundgebungen. "Jetzt weiß ich, warum Faymann sich vor dem so fürchtet“ die hinterfotzigeren. Selbst geübte Giftspritzen wie der Kampf-Twitterer Rudi Fussi überschlagen sich nachgerade vor Begeisterung und posten: "So muss Kanzler.“ Sogar ORF-Anchorman Armin Wolf, der wirklich nicht dafür bekannt ist, seine Interviewpartner vorbehaltlos zu hofieren, schwang sich am Samstag der Vorwoche zu einem Lob auf Sendung auf und tönte: "Ich bewundere Ihre Nerven.“ Das war nach jener Live-Schaltung vom Samstag der Vorwoche zum Westbahnhof, als sich Kern auch von einem Schluckspecht hinter ihm nicht aus der Fassung und seinem wohlformulierten Satzfluss hatte bringen lassen. Der Mann hat Steherqualitäten, keine Frage.

Jener denkwürdige Samstag wäre auch ein Anlass für einen Regierungschef gewesen, in deJn Fächern Leadership und Charisma Punkte zu sammeln.

Blöd gelaufen für den Bundeskanzler: Jener denkwürdige Samstag wäre auch ein Anlass für einen Regierungschef gewesen, in deJn Fächern Leadership und Charisma Punkte zu sammeln. Nach gefühlten Ewigkeiten wagte sich auch Werner Faymann wieder einmal zu Wolf in die Sendung - und musste sich von Kern die Show stehlen lassen. Ausgerechnet von jenem Kern, der seit Jahren als Kanzlerreserve gilt.

Kern hat ausreichend Routine darin gesammelt, alle Fragen nach seinen allfälligen Politambitionen wortreich nicht zu beantworten. Er würde nie wie Fernsehmann Gerhard Zeiler eine öffentliche Bewerbung für den Job am Ballhausplatz abgeben - fehlt aber natürlich nicht, wenn Zeiler zu einem Abend mit Wahlkämpfer und Kanzlermacher Michael Häupl lädt. Kern will nur das Lob, das sich über ihn ergießt, an seine Mitarbeiter weiterreichen - und wohldosiert mit der ihm eigenen Form der raffinierten Eitelkeit ein Zitat nach Karl Kraus einstreuen: "Wenn die Sonne der Kultur tief steht, dann werfen selbst Zwerge lange Schatten. Natürlich freut uns der Beifall. Aber wir stehen derzeit so positiv da, weil wir funktionieren. Ob wir das alles dürfen, was wir machen, werden wir erst sehen.“

Kern und die Bahn in der Flüchtlingskrise sind so etwas wie seinerzeit die Europäische Zentralbank und ihr Chef Mario Draghi in der Eurokrise. Damals vor drei Jahren, als die EU-Staaten von Krisengipfel zu Krisengipfel taumelten und sich nicht und nicht zu Maßnahmen aufraffen konnten, erwies sich die EZB als einzige handlungsfähige Institution. Die EU zauderte und zögerte. Draghi handelte und warf Fantastilliarden in die Schlacht um den Euro. Ob er das eigentlich durfte, darüber können sich Feinspitze des Europarechts bis heute in Rage reden. Wahrscheinlich hat es den Euro im Krisensommer 2012 gerettet. Gewiss gilt Draghi seither als "Super-Mario“.

Im Grunde spiegelt sein momentaner überhöhter Superhelden-Status nur die weitverbreitete Sehnsucht wider, endlich wieder einmal jemanden klasse zu finden.

Kern ergeht es derzeit ähnlich. Er steht schlicht der einzigen staatlichen Institution vor, die in der Flüchtlingskrise reibungslos funktionierte und im Chaos Zuversicht vermittelte - und das mit flugs produzierten Broschüren wie "Mitmenschlichkeit fährt Bahn“ auch weidlich auskostete. Kurz: Er macht seinen Job. Selbst das kann reichen, um zu glänzen. Im Grunde spiegelt sein momentaner überhöhter Superhelden-Status nur die weitverbreitete Sehnsucht wider, endlich wieder einmal jemanden klasse zu finden - zumal jemanden, der den Eindruck erweckt, die Flüchtlingssituation irgendwie in den Griff zu bekommen. Oder es zumindest zu versuchen.

Der Hype um Kern kann genauso schnell abebben wie das kurze Aufflackern der Empathie für Durchreisende. Als Bonustrack nimmt der 49-Jährige aber mit: Schon bisher galt er als smarter Manager, dem das seltene Bravurstück gelang, der geprügelten Eisenbahnerseele wieder Zuversicht einzuhauchen und der Bahn ein neues Image zu verpassen. Nicht wenige liebäugeln seit Jahren damit, er möge diese Glanznummer bei der Serienwahlverliererin SPÖ wiederholen. Mindestens genauso viele zweifelten aber daran, ob ein perfektionistischer Dandytyp mit genagelten Schuhen und Managersprech, zu dem vielen als Erstes die Adjektive "emotionslos“ und "pragmatisch“ und als zweites "abgehoben“ und "ehrgeizig“ einfallen, wirklich zum Chef einer Arbeiterpartei taugt. Diese Stimmen sind seit der vergangenen Woche leiser geworden, Kern hat ein paar Hemdsärmeligkeits-Punkte gesammelt.

Zumindest im Paralleluniversum des "Wir Helfen“-Österreich.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin