Es fällt uns manchmal schwer, die große Geschichte zu erkennen, in der wir gerade drinstecken. Was sieht der Historiker?
Clark
Zunächst einmal, dass sich unsere kollektiven Identitäten verflüssigen. Das große Zeitungs-oder Fernsehpublikum gibt es nicht mehr. Die politischen Parteien bieten keinen Anker. Soziale Medien zersplittern die Meinungslandschaft. Eine allgemeine Kartierung der Gegenwart fällt schwer. Sie wird immer unberechenbarer.
Macht Ihnen die Lage der Welt Angst?
Clark
Angst nicht, aber ein dröhnendes Unwohlgefühl. Es häufen sich die Krisen und gleichzeitigen Herausforderungen, die jeweils verschiedenen Logiken folgen und Maßnahmen erfordern, die oft widersprüchlich sind. Das verunsichert mich zutiefst und vor allem auch jüngere Menschen. Nicht nur, dass sie nicht mehr selbstbewusst in die Zukunft blicken, sie zweifeln, dass es überhaupt eine gibt. Die Zukunft hat sich verdünnisiert.
Was tun Sie gegen das Unwohlsein?
Clark
Ich versuche, schlechte mit guten Nachrichten abzugleichen. Der jüngste Wahlsieg von Geert Wilders in Holland etwa ist eine schreckliche Nachricht. Auf der anderen Seite gibt es jedoch Donald Tusk in Polen.
In Amerika wie in Europa greifen Rechtspopulisten, Feinde der Demokratie und Neofaschisten nach der Macht. Lernen wir zu wenig aus der Geschichte?
Clark
Mark Twain hat gesagt, die Geschichte wiederholt sich nie, aber manchmal reimt sie sich. Neonazis, die mit Fackeln herumlaufen, haben aus meiner Sicht gar nichts gelernt. Vielleicht wollen sie aber auch bewusst in eine Katastrophe wie den Nationalsozialismus hineinspringen. Davon abgesehen: Es kommt darauf an, was mit Geschichte gemeint ist. Die Zahnmedizin ist eindeutig besser als vor zehn oder 20 Jahren. Man könnte also sagen, jedenfalls die Zahnärzte sind fähig, aus der Geschichte ihres Faches zu lernen. Dass wir uns als politisch entscheidende Wesen verbessert haben, ist jedoch zweifelhaft, wenn wir an Trump, Putin oder Orbán denken. Politisch verläuft die Entwicklung alles andere als linear.
Dass wir uns als politisch entscheidende Wesen verbessert haben, ist zweifelhaft, wenn wir an Trump, Putin oder Orbán denken. Politisch verläuft die Entwicklung alles andere als linear.
Christopher Clark
Sie widmeten Ihr neues Buch den europäischen Aufständen des Jahres 1848. Warum?
Clark
Ich habe sie in der Schule kennengelernt, in Sydney, Australien. Der Lehrer hat gesagt, Jungs-es war eine Knabenschule-,diese Aufstände waren kompliziert und sind gescheitert. Diese unattraktive Kombination-kompliziertes Scheitern-hat mich zunächst abgestoßen. Aber als Historiker, der im 19. Jahrhundert beheimatet ist, bekommt man schnell zu spüren, dass sie dessen pulsierendes Herz sind. Ein Buch, das die gesamteuropäische Dynamik dieser Revolutionen sichtbar macht, gab es nicht. Das wollte ich schreiben.
Lassen sich heutige Probleme von damals herleiten?
Clark
Herleiten nicht, aber es lassen sich Resonanzen erkennen, etwa an einem Buch wie Thomas Pikettys "Kapital", das beschreibt, wie der Kapitalismus Armut und Ungleichheit erzeugt, entgegen der Meinung, dass er die soziale Frage löse. Bemerkenswert ist weniger Pikettys These als das globale Interesse daran. Ungleichheit ist, wie 1848, ein Kardinalthema.
In seinem neuen Werk "Frühling der Revolution" (DVA, 50,50 Euro) erkundet Christopher Clark die europäischen Aufstände des Jahres 1848 und untersucht ihre Fernwirkung auf unsere Gegenwart.
In den damaligen Aufständen ging es um Demokratie, nun scheint sie wieder in Gefahr.
Clark
Heute bröckelt die Mitte der Politik ab. Die neuen Ideen und großen Herausforderungen kommen von den Extremen, von links und rechts. Das ist mit 1848 vergleichbar. Nach den Revolutionen sah man die Lösung in einer gestärkten bürgerlichen Mitte. Vieles, was damals vorwärtslief, läuft jetzt wieder rückwärts.
1848 kennt einen Gewinner, das Bürgertum. Warum blieben andere auf der Strecke?
Clark
Die Demokratie war das Projekt der Radikalen, während die Liberalen, die Bürgerlichen, gar keine Demokraten waren, denn sie wollten keine Vertretung aller Menschen, sondern nur von jenen, die so sind, wie sie selbst: Gebildete, Steuerzahler, Teilhabende am System. Sie haben gemeint, wer kein Eigentum hat und keine Bildung, ist nicht berechtigt und fähig, mitzubestimmen. Für die Arbeiter, aber auch die Arbeitslosen, war die Not am spürbarsten, weil der Realwert der Löhne fiel. Manche Branchen gingen dem Ruin entgegen, etwa die Leinenweber. In den 1850er-Jahren war die soziale Frage alles andere als gelöst, und sie kehrte bald wieder. Aber kurzfristig wurde sie durch das Wachstum gedämpft. Es kam zum ersten Mal zu einer Erfolgsspirale. Investitionen lohnten sich, Gewinne stiegen, die Unternehmen wuchsen, es gab immer mehr Eigentum, Wohlstand und Reichtum. Diese Tendenz hielt, mit jähen Unterbrechungen wie der Weltwirtschaftskrise, bis in die Gegenwart an und ebbte erst in den vergangenen Jahren ab.
Die Demokratie war das Projekt der Radikalen, während die Liberalen, die Bürgerlichen, gar keine Demokraten waren, denn sie wollten keine Vertretung aller Menschen, sondern nur von jenen, die so sind, wie sie selbst: Gebildete, Steuerzahler, Teilhabende am System. Sie haben gemeint, wer kein Eigentum hat und keine Bildung, ist nicht berechtigt und fähig, mitzubestimmen. Für die Arbeiter, aber auch die Arbeitslosen, war die Not am spürbarsten, weil der Realwert der Löhne fiel.
Welche Kräfte kommen heute zusammen, die Umwälzungen in Gang bringen können?
Clark
Vereinfacht gesagt kam der Tumult damals von links, heute kommt er von rechts. Manche Historiker meinen, man könne heute nicht mit 1848 vergleichen, weil niemand mehr an die Revolution glaube. Das mag für die Linke stimmen, es stimmte aber auch für die meisten Linken damals. Der Sozialist Louis Blanc etwa, der nach der Februarrevolution 1848 Mitglied der provisorischen Regierung in Paris war, glaubte an den langsamen Wandel, nicht an den gewaltsamen Umsturz.
Halten Sie eine Revolution denn für denkbar, aber eben nicht von links?
Clark
Die aktuelle Lage ähnelt jener von damals, nur dass jene, die drohen, mit den Normen der liberalen Demokratie grundsätzlich zu brechen, Menschen wie Geert Wilders sind oder Donald Trump, der ein zweites Mal US-Präsident werden könnte.
Die aktuelle Lage ähnelt jener von damals, nur dass jene, die drohen, mit den Normen der liberalen Demokratie grundsätzlich zu brechen, Menschen wie Geert Wilders sind oder Donald Trump, der ein zweites Mal US-Präsident werden könnte.
Christopher Clark
Formieren sich die für Umwälzungen nötigen Kräfte damit bereits?
Clark
Die braucht es gar nicht. Es reicht, dass genug Menschen die Nase voll haben. Ich will nicht sagen, dass eine Revolution bevorsteht. Ich hoffe, sie kommt nicht. Wenn doch, wird sie nicht nur fortschrittlich und sympathisch sein, sondern es wird wieder zu einer allgemeinen Enthemmung kommen, auch zu Gewalt, weil es viel Wut und aufgestaute Emotionen gibt. Es brodelt.
Das Vertrauen in Politik und Institutionen, auch Medien, schwindet. Nicht nur am gesellschaftlichen Rand wird spürbar, wie viele wegdriften.
Clark
Wenn man sich mit solchen Menschen ein paar Stunden hinsetzt und ihre Ideenwelt kennenlernt, werden sie einem oft immer fremder. Es gibt viele durchaus sympathische Menschen, die extrem gefährliche Ideen im Kopf herumführen. Zum Beispiel, dass 9/11 nicht geschehen ist. Dass Impfstoffe die gesamte Bevölkerung vergiften. Oder dass die Weltwirtschaft von einem Komitee reicher Männer, vielleicht jüdischer Herkunft, gesteuert wird. Das sollte uns schon Sorgen machen.
Was ist mit den Konservativen los? Ist mit ihnen kein Staat mehr zu machen?
Clark
Die Konservativen sind unabdingbar für die stabile Demokratie. Man braucht Status-quo-Leute, die bei Experimenten bremsen. Heute sind jedoch viele, die man früher zu den Konservativen zählte, nicht mehr konservativ. Die Rechten von heute nähren sich von einem Gedankengut, das eigentlich radikal ist. Sie sind nicht mehr konservativ, sondern disruptiv. Und wenn die Konservativen nicht mehr konservativ sind, kann das System schnell ins Wanken geraten. Auch diejenigen, die alles andere als konservativ sind, müssten inzwischen einsehen, wie sehr man Konservative doch braucht.
Welche Kräfte bräuchte es, um globale Probleme wie Migration, Klimawandel, Ungleichheit oder künstliche Intelligenz bewältigen zu können?
Clark
Erstens muss die Mitte wieder erstarken. Eine gute, kompromissbereite Politik erfordert eine starke, breite Mitte, die nach rechts und links hört, neue Ideen aufgreift, aber Interessen austariert und die harte Arbeit der Vermittlung leistet. Mit extremen Rechten und extremen Linken haben wir es in Europa probiert. Es gab den Nationalsozialismus und den Stalinismus. Beides war katastrophal. Aber diese Mitte kann auch nicht die mathematisch kleine, defensive Mini-Mitte eines elitären Neoliberalismus sein.
Zerstört der Neoliberalismus die bürgerliche Mitte?
Clark
Inzwischen schon, ja, weil er zu einer entwurzelten Form des Kapitals geführt hat, das nicht mehr politisch verbindend, sondern für den Zusammenhalt zersetzend wirkt.
Die Konservativen sind unabdingbar für die stabile Demokratie. Man braucht Status-quo-Leute, die bei Experimenten bremsen. Heute sind jedoch viele, die man früher zu den Konservativen zählte, nicht mehr konservativ. Die Rechten von heute nähren sich von einem Gedankengut, das eigentlich radikal ist. Sie sind nicht mehr konservativ, sondern disruptiv. Und wenn die Konservativen nicht mehr konservativ sind, kann das System schnell ins Wanken geraten. Auch diejenigen, die alles andere als konservativ sind, müssten inzwischen einsehen, wie sehr man Konservative doch braucht.
Politiker denken oft nur bis zur nächsten Wahl. Sind sie deshalb nicht in der Lage, richtige Weichen zu stellen?
Clark
Es gibt Lerneffekte, die sich als Strukturen verewigen. Ein Beispiel ist die Europäische Union, die gewissermaßen der Lerneffekt des Zweiten Weltkrieges ist. Leider sind diese Lernschübe immer mit Katastrophen verbunden. Wir sind Krisen-Addicts.
Die abendländische Philosophie kennt, anders als die östliche, kein zyklisches Denken. Können wir uns das Neue deshalb nur als Zusammenbruch des Alten vorstellen?
Clark
Die Vorstellung von nicht krisenbedingtem Weiterwachsen fällt uns tatsächlich sehr schwer. Wir müssten lernen, im Hinblick auf das zu handeln, was bevorsteht. Bisher haben wir das nie geschafft. Immer müssen wir erst den Schmerz spüren, bevor wir Fehlentwicklungen korrigieren. Und dann stellt sich die Frage: Kommt eine Zeit, wo sie nicht mehr korrigierbar sind-etwa was den Klimawandel angeht?
Warum alarmiert uns der nahende Kipppunkt nicht ausreichend?
Clark
Das ist das Bemerkenswerte. Die Lösungen wären oft verblüffend einfach. Die Klimawissenschaft ist ausgereift und zuverlässig. Problematisch sind die Menschen. Karl Marx schrieb in den 1840er-Jahren über die Schwierigkeiten der rheinischen Forstwirtschaft und kam zum Schluss, dass die erstaunliche Vielseitigkeit der Welt sich vor allem aus der Einseitigkeit ihrer vielen Teile ergibt. Damit meinte er, die Probleme an sich sind nicht unbedingt kompliziert, aber wir sind es, weil wir an engen, egoistischen Perspektiven hängen. Daraus auszusteigen, schaffen wir meistens erst nach einem Weltkrieg oder einer Revolution, nachdem wir am eigenen Leib gelernt haben, was es heißt, dort zu bleiben, wo wir waren.
Österreich hat eine manchmal mehr, oft auch weniger glorreiche Vergangenheit. Sehen Sie hier eine Konstante von 1848 bis heute?
Clark
Darauf habe ich keine schnelle Antwort. Österreich gehörte 1848 zu den wichtigsten Schauplätzen. Das Überleben des österreichischen Systems ist eines der bemerkenswertesten Ergebnisse dieser Revolution. Die autonomen, nicht besonders synchronisierten Machtzentren des Habsburgerreichs funktionierten erstaunlich gut. So hat man sich durchlaviert. Dazu gibt es eine Anekdote, die in Wien wahrscheinlich jeder kennt: Ferdinand der Gütige hörte den Lärm auf den Straßen und fragte: „Was machen die da draußen?“ „Majestät, sie machen eine Revolution!“ Er fragte daraufhin: „Ja, dürfen s' denn das?“ Das finde ich sympathisch und vielleicht ziemlich österreichisch.
Beraten Sie Regierungen?
Clark
Oh, nein!
Wenn Sie einen Rat frei hätten, wie würde er lauten?
Clark
Regierungen sollten das Fürchten lernen. Sie sind auffallend selbstgefällig. Wenn man Regierungspolitiker trifft, sind sie oft sympathisch, intelligent, gut ausgebildet, perfekt gekleidet, mittlerweile auch recht jung, aber sie haben viel zu wenig Angst. Ich finde, man sollte sich vorauseilend in die Notsituation einfühlen, die bald bei uns herrschen wird, und schon jetzt aus dieser Notsituation heraus handeln. Das ist mein Rat.
Die Gefahr eines Atomkrieges, die Erderhitzung, künstliche Intelligenz: Niemand will, dass diese Risiken schlagend werden, aber niemand weiß, wie man sie kontrolliert. Können wir nur mehr auf das Glück bauen?
Clark
Lassen Sie mich einen Vergleich mit der frühen Neuzeit ziehen. Das preußische Staatswesen im 17. Jahrhundert stand vor vielen Krisen-die Schweden griffen an, die Österreicher, Frankreich-,aber es ging aus jeder gestärkt hervor. Schlüssig geführte Staaten können aus überwundenen Krisen Stärke gewinnen. Heutige Bedrohungen zielen dagegen auf die ganze Menschheit, die keinen Staat, keine Institutionen und Organe hat. Zudem schwelen Kriege. Die Fähigkeit zum gemeinsamen Handeln ist unterentwickelt, und die Strukturen, die man braucht, um schwierige Lösungen durchzusetzen, sind nicht vorhanden.
Wenn man Regierungspolitiker trifft, sind sie oft sympathisch, intelligent, gut ausgebildet, perfekt gekleidet, mittlerweile auch recht jung, aber sie haben viel zu wenig Angst. Ich finde, man sollte sich vorauseilend in die Notsituation einfühlen, die bald bei uns herrschen wird, und schon jetzt aus dieser Notsituation heraus handeln.
Christopher Clark
Zumal es keine Weltmacht mehr gibt. Geht das amerikanische Zeitalter zu Ende?
Clark
Vielleicht geht es zu Ende, das wissen wir noch nicht. Aber sich jetzt schon darauf zu freuen, scheint mir verfrüht. Die Amerikaner haben gewiss schreckliche Fehler gemacht, aber gibt es wirklich bessere Alternativen? Putins postliberale Weltordnung? Die Mullahs im Iran? Wir werden der amerikanischen Ära-so schlimm sie in mancher Hinsicht auch gewesen sein mag-vielleicht noch nachtrauern.
Zu dieser Ära gehört irgendwie auch Elon Musk, ein disruptiv gestimmter Tech-Gigant, der zum Mars fliegen will, wenn die Erde verbraucht ist. Gibt es eine historische Figur, an die er Sie erinnert?
Clark
Nein; aber ich empfinde seine fast kosmische Frechheit als ständige Herausforderung. Dass ein Mensch mit solch unmenschlichen Ideen so viel Macht an sich reißen konnte, beweist, dass wir in einer Welt leben, in der sich Macht nicht unbedingt an den richtigen Stellen sammelt. "Let's trash the earth" ist eine schreckliche Vision. Ich würde lieber mit meinen Erdlingen in den Flammen der brennenden Erde sterben, als in der Kolonie Elonia auf dem Mars unter der Regierung von Musk oder einer von ihm geschaffenen künstlichen Intelligenz mein Leben zu fristen.
Derzeit übergibt die Menschheit ihr gesamtes Wissen an künstliche Intelligenzen, die so rasend schnell lernen, dass Kontrollschleifen vielleicht nicht mehr möglich sein werden. Was passiert dann mit uns Menschen?
Clark
Es gibt-nicht ganz ernst gemeint-einen positiven und einen negativen Ausblick. Eine nette künstliche Intelligenz findet, dass die Menschheit schützenswert, aber außerstande ist, selbst zu entscheiden, was für ihr Überleben notwendig ist, oktroyiert ihr eine ultrakomplexe, rettende Lösung und achtet darauf, dass Verteilungskämpfe möglichst ohne Gewalt gelöst werden. Das wäre eine Art Computerisierung der Heilsgeschichte, der Lehre von den letzten Dingen.
Und der schlechte Ausblick?
Clark
Die künstliche Intelligenz entscheidet, dass die Menschen bei der Suche nach einer Gesamtlösung nur hinderlich sind, auch nicht mehr gebraucht werden. Die künstliche Intelligenz löscht uns aus, und wir bleiben als gespeichertes Gedankengut übrig.