Chronik des Terrors: Das Novemberpogrom des Jahres 1938
Noch in der Dunkelheit der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 standen Deutschlands Synagogen und Bethäuser im Feuerschein der Flammen. Im Osten und Süden Österreichs ging es erst im Morgengrauen los, mörderisch, leidenschaftlich und exzessiv. Danach lag über mehrere Stunden lang dicker Rauch in der Luft. Die Betriebsamkeit des Alltags war lärmiger als sonst. Man hörte Sirenen von Feuerwehrautos, die nicht löschten, doch die umstehenden Gebäude sicherten. Scheiben klirrten, Holz zersplitterte, Möbel, Klaviere, Bilder, Vasen krachten auf Gehsteige. NS- Funktionäre plünderten, auch Passanten griffen zu. Lastkraftwagen mit Juden auf offener Ladefläche fuhren hin und her - und mittendrin viele junge Menschen, Hitlerjungen, die sich mit Eisenstangen der Lust am Drangsalieren von Schwachen hingaben.
Das Regime verlautbarte, dies sei eine "Racheaktion" für den deutschen Botschaftssekretär Ernst Eduard vom Rath, der ein unbedeutender Beamter an der deutschen Botschaft in Paris gewesen war, bis der 17-jährige polnische Jude Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in der deutschen Botschaft in Paris auf ihn geschossen hatte, den erstbesten Beamten, der ihm dort begegnete.
Rath erlag am Nachmittag des 9. November seinen Verletzungen, und die NS- Machthaber riefen zur Menschenhatz auf. Das Attentat war willkommener Anlass. Ein Pogrom hatte sich seit Wochen angekündigt. Schon ein paar Wochen zuvor, zu Jom Kippur, war an die größte Synagoge Wiens in der Tempelgasse im 2. Wiener Gemeindebezirk die Lunte gelegt worden. "Es wurde nun immer schlimmer, telefonisch wurden Einzelnen Pogrome angedroht", so der Bericht eines Zeitzeugen (siehe profil-Serie 1938).
Gemeinheit, Sadismus, kühle Pflichterfüllung
An den Pogromtagen zeigte sich, wozu der Mensch fähig ist, wenn er glaubt, sich über andere erheben zu können. Es herrschten Gemeinheit und Sadismus sowie kühle Pflichterfüllung. Es stellte sich heraus, dass der Staat schon vollständig unter Kuratel der Nationalsozialisten stand, Institutionen wie Polizei oder Feuerwehr nur noch Erfüllungsgehilfen waren, auch wenn berichtet wird, dass sich ältere Polizeibeamte noch am ehesten halbwegs korrekt verhielten. An diesen Tagen waren Angehörige von SA, SS, Gestapo, Sicherheitsdienst, führende Figuren der NSDAP, Hilfspolizisten, Hitlerjugend sowie eine ganze Reihe anderer Aktivisten unterwegs.
Die Bevölkerung war wohl gespalten. Viele wandten sich schamerfüllt ab, wenn alte Menschen auf Lastwagen geworfen, frommen Juden die Bärte ausgerissen wurden. Das geschah vor aller Augen, am helllichten Tag. Es schien umso brutaler abzulaufen, je mehr Publikum involviert war und in der Anonymität der Gruppe der Jagdeifer besonders angestachelt wurde.
"Die Rassenpraxis des Nationalsozialismus ist der Versuch, den breiten Massen der modernen Völker in ihrem schweren Daseinskampf statt realer Verbesserungen ein künstliches Ersatz-Selbstgefühl zu geben und sie dadurch für bestimmte politische Zwecke seelisch brauchbar zu machen", urteilte der Journalist Konrad Heiden, der Hitlers Aufstieg von Beginn an verfolgt hatte und 1939 seine Reportage über das Pogrom in London veröffentlichte (Konrad Heiden: "Nächtlicher Eid", Europa Verlag 2014). Augenzeugenberichte sammelte damals auch das Jewish Central Information Office in Amsterdam; sie sind heute in der "Wiener Library" (benannt nach Alfred Wiener) in London archiviert. Meist wurden sie anonymisiert , da die Zeugen noch in Deutschland lebten. ("Novemberpogrom 1938", Hgg. von Ben Barkow, Raphael Gross, Michael Lenarz, Suhrkamp 2008)
Katastrophe vor der Katastrophe
In Deutschland herrschte in dieser Nacht und den darauffolgenden Tagen nicht weniger Brutalität als in Österreich, doch war man hierzulande niederträchtiger bei Quälereien, mit mehr "Herz" bei der Sache. Und man hatte sich auch schon daran gewöhnt. Mit dem "Anschluss" Österreichs an Deutschland im März 1938 war eine erschreckende Welle der Gewalt an Regimegegnern und öffentlicher Demütigung von Juden einhergegangen.
Die Nacht, die in den Tag hineinreicht, wurde einst "Reichskristallnacht" genannt. Das war kein NS-Propagandawort, sondern Sarkasmus der Betroffenen. Vor dem Hintergrund des Holocaust wirkt es freilich allzu harmlos.
Am Ende mussten die Juden selbst den Schaden bezahlen. Die Versicherungsgesellschaften waren - wie bei Naturgewalten - vom Schadenersatz befreit. Den Juden wurde eine Milliarde Reichsmark an "Sühneleistung" auferlegt. Es folgten Gesetze, die sie zur Gänze aus dem Wirtschaftsleben ausschlossen und zum Verhungern verdammten.
Das Novemberpogrom war der Auftakt, die Katastrophe vor der Katastrophe, das Menetekel des Holocaust.
Chronik des Terrors
9. November, 17:00 Uhr, München Adolf Hitler empfängt im Alten Rathaus. Die gesamte Führungsspitze der NSDAP und sämtliche Gauleiter sind gekommen, um des nationalsozialistischen Putschversuchs vom 9. November 1923 zu gedenken. Gegen 17:00 Uhr trifft die Nachricht vom Tode des deutschen Botschaftssekretärs in Paris, Ernst Eduard vom Rath, ein, auf den zwei Tage zuvor der blutjunge polnische Herschel Grynszpan gefeuert hatte. Die NS-Prominenz ist vorbereitet. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels weist "Racheaktionen" an, doch sollte die Partei nicht als Urheber in Erscheinung treten. "Stürmischer Beifall. Ich gebe entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei. Alles saust gleich an die Telefone", so Goebbels' Tagebuch-Eintrag.
9. November, früher Abend, Nürnberg In besseren Wohngegenden durchkämmen NS- Funktionäre in Zivil die Häuser und erkundigen sich, welche Mietparteien Juden seien. Mit Beilen kommen sie nach Mitternacht wieder. Die Beile wurden bei der SS-Vereidigung ausgegeben.
9.November, Mitternacht, SS-Vereidigung In ganz Deutschland marschiert in dieser Nacht eine schwarze Schar, von Fackeln beleuchtet. Das hat Tradition. Jedes Jahr am 9. November um Mitternacht werden SS-Rekruten auf Hitler vereidigt. In der Feldherrnhalle in München erleben sie den Führer leibhaftig, in allen anderen Städten stehen sie vor riesigen Lautsprechern und lauschen dem Eid "Gehorsam bis in den Tod". 50.000 Mann sagen: "Ich schwöre es."
10. November, Mitternacht, Graz Die SS-Vereidigung vor dem Rathaus ist eben erst zu Ende gegangen, da brennt schon die Grazer Synagoge. Um halb zwei Uhr stürzt die Metallkuppel ein. Anhand von "Judenlisten" durchkämmen SS, Gestapo und Sicherheitsdienst (SD) die Stadt und führen 300 Männer ab.
"Der in Graz hoch angesehene, allgemein beliebte Oberrabbiner David Herzog wurde zeitlich früh aus dem Bett geholt, am Bart und fast unbekleidet zum Friedhof gezerrt, dort wurde ihm befohlen, sein eigenes Grab zu schaufeln; er wurde im fürchterlichsten Zustand zurückgelassen."
"Der frühere Präsident der Grazer Kultusgemeinde wurde in der Nacht in der Unterhose aus seiner Wohnung herausgeholt, bis zur Unkenntlichkeit verprügelt, man ließ ihn in einer Blutlache liegen: er war so entstellt, dass ihn seine eigene Frau nicht erkannte." "Mädchen aus besseren jüdischen Häusern wurden in Schubkarren an die Mur geführt, dort wurde ihnen befohlen, in das Wasser zu springen; die Mädchen wurden vor Martern halb wahnsinnig."
10. November, 1:00 Uhr, Innsbruck Gauleiter Franz Hofer, der vor wenigen Stunden noch in München war, hat Vertreter von SS, SA, Sicherheitsdienst (SD) und Gestapo für ein Uhr nachts zu sich bestellt. "Es sei notwendig, dass sich auch in Tirol in dieser Nacht die kochende Volksseele gegen die Juden erhebe. (...) Plünderungen seien zu verhindern, Juden in Schutzhaft zu nehmen. Der kochenden Volksseele sei bis Früh um 6 Uhr volle Aktionsfähigkeit zu gewähren; bis dahin habe die Polizei nirgends den Demonstranten gegenüber in Erscheinung zu treten", so Hofer laut Sitzungsprotokoll.
10. November, 1:30 Uhr, Wien Niemand dürfe sich in Uniform an der Aktion beteiligen, befiehlt die Wiener Gauleitung.
10. November, 2:10 Uhr, Berlin "Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Kultusgemeinden und Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören. Jedoch ist (...) sicherzustellen, dass Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden."(Telegramm an Gestapo und Sicherheitsdienst)
10. November, Augenzeugenberichte; Deutschland, Österreich "Dreißig Leute in Uniform, teils mit schwarzen Mänteln. Die Bewohner des Einfamilienhauses erwachten durch das Getöse infolge des Aufsprengens der Haustür und sahen im Schlafzimmer sechs bis sieben Leute stehen, die laut brüllten:,Seid Ihr Juden?'"
"Drei Mann in guter Garderobe befehligten die Übrigen, welche die 'kochende Volksseele' repräsentierten. Diese Gruppe von zehn bis elf Mann drang, mit langen Eisenstangen und Beilen bewaffnet, in die Engros-Geschäfte ein, um dort alles, aber auch alles, was es nur zu zerstören gab, in Trümmer zu schlagen. Kleider, Pelze, Schreibmaschinen, Lampen, Garderobenständer, Blumentöpfe wurden auf die Straße geworfen."
"Die Bevölkerung (in Berlin) stand mit stummem Schrecken dabei. Keiner wagte, dagegen aufzutreten. Schließlich aber begann man zu plündern, Frauen schlugen sich um Unterkleider."
Wie sie zuschlugen, erzählen viele übereinstimmende Berichte. Es wurden Gemälde und Gewänder zerschnitten, das Mobiliar zerhackt. Die Klügeren organisierten Lastwägen für den Abtransport. In einer deutschen Stadt stießen sie einen Anwalt mit dem Kopf abwärts in ein im Straßenpflaster eingebautes Kanalrohr. In Wien waren Rollkommandos mit Hundepeitschen, Knüppeln und Revolvern unterwegs. Das war für die Menschen gedacht. Juden unterschrieben, dass sie ihr Hab und Gut der nationalen Volkswohlfahrt "schenken". Das Pogrom geriet zu einem Raubzug. In der Bevölkerung wurde Unmut laut, weil die Plünderungen "ungerecht" abliefen und nur der engste Parteiklüngel davon profitierte.
10. November, 2:30 Uhr, Innsbruck Der SS-Schwur vor dem Stadttheater wurde geleistet . Man fährt nach Hause und legt zivile Kleidung an. Ein Rollkommando übernimmt die Synagoge, ein anderes prominente Tiroler Juden wie den Chef der jüdischen Handelsorganisation, Wilhelm Bauer, den Kaufmann Richard Graubart oder den Leiter der Jüdischen Kultusgemeinde, Richard Berger. Alle drei werden in dieser Nacht ermordet. Richard Berger wird im Schlafanzug in ein Auto gezerrt, zu Tode geprügelt, der Leichnam in den Inn geworfen. Ein Gestapo-Beamter dieser Nacht, Ferdinand Obenfeldner, machte nach 1945 in der SPÖ Karriere.
"Das Ehepaar Popper wurde nach Zerstörung seiner Wohnung in die Sill geworfen, es konnte sich jedoch ans Ufer retten."
"Die Wohnung eines Juden befand sich im selben Hause, in dem auch der italienische Konsul wohnt. Dieser war anfangs sehr empört, dass die Leute durch das Schlafzimmerfenster seiner Frau eingestiegen waren, um in die Wohnung zu gelangen. Nach Aufklärung des Sachverhalts war er beruhigt."
Aus dem SD-Bericht dieses Tages: "Falls Juden bei dieser Aktion keinen Schaden erlitten haben, dürfte dies darauf zurückzuführen sein, dass sie übersehen wurden."
10. November, 3:00 Uhr, Synagoge Linz "Der in der Nachbarschaft wohnende Gewerbetreibende G. holte sich aus dem Vorraum des Tempels, in dem manche Requisiten verwahrt waren, einen Zylinderhut, einen Talith, nahm eine Thorarolle in den Arm und setzte sich damit auf die Stufen zum Eingang des Gotteshauses, indem er, sich wiegend, einen hebräischen Singsang imitierte. Das Gegröle des angesammelten Pöbels dankte ihm für seine ,humoristische' Vorstellung."(Karl Löwy) Die Synagoge wurde gegen 3 Uhr in Brand gesteckt.
"Zu Plünderungen von jüdischen Geschäften ist es nicht gekommen, da in der Stadt Linz keine Geschäfte dieser Art mehr bestehen."(SD-Bericht Linz)
"Gegen 1 Uhr morgens trafen sie in der Wohnung der Jüdin S. ein und begehrten unter dem Vorgeben einer Hausdurchsuchung Einlass. Schremmer stellte den Juden Dr. R. zur Rede und ließ ihn im Zimmer exerzieren, verabreichte ihm auch einige Ohrfeigen. (...) Sturmbannführer Schmidinger rief die Jüdin Unger ins Badezimmer und verlangte von ihr, dass sie sich vollständig nackt ausziehe."(Bericht des SD-Unterabschnitts Oberdonau)
10. November, Salzburg Sieben Geschäfte und die Synagoge werden zerstört, im Laufe des Tages jüdische Villen- und Hotelbesitzer im Salzkammergut aufgesucht.
10. November, 4:00 Uhr, Wien "Die Polizeiämter erhalten den Auftrag, wohlhabende Juden zu verhaften, sie aus größeren Wohnungen zu werfen, (...) jüdische Geschäfte zu sperren und zu versiegeln."
Die SS-Standarten 89 und 11 rücken zwischen vier Uhr und sechs Uhr früh aus, um Synagogen und Bethäuser zu zerstören. Der Stadttempel in der Seitenstettengasse durfte laut Gauleiter Bürckel "auf keinen Fall in Brand gesteckt werden" - wegen angrenzender Wohnhäuser und wertvollen Archivmaterials.
10. November, 5:00 Uhr 1220 Wien Im Umschulungslager Groß-Enzersdorf werden alle Anwesenden, auch Kranke, Alte und Kleinkinder, auf Lastautos nach Winden ins Burgenland gebracht. Dort irren sie auf Feldern umher. Am Ortseingang steht ein Schild mit der Aufschrift "Juden unerwünscht".
10. November, 6:00 Uhr, Wien "Um sechs Uhr früh der erste gründliche Einsatz. Vollständige Zerstörung des Neudegger-Tempels. im 8. Bezirk. 40 Leute im Café Raimund festgehalten." (SS-Einsatzbericht)
"Schon im Morgengrauen, so berichteten mir alle, seien sie aus den Häusern herausgeholt oder auf der Straße gepackt worden. In Kellern (...) habe man die Leute gezwungen, eineinhalb Stunden zu wippen, und wen das bebende Herz, der rasende Puls zum Stillstand zwang, wurde erbärmlich geschlagen. Auch homosexuelle Exzesse seien geschehen." (Ernst Benedikt)
10. November, 7:00 Uhr, Wien "Fortlaufendes Hornsignal der Feuerwehr, eine Aufregung unter der Bevölkerung, was ist denn? Nach einer Stunde wusste jeder, die Judentempel brennen. (...) Der Schmalzhoftempel wurde von HJ-Buben (weiße Hemden) fleißig mit Steinen bombardiert, innen im Tempel brannte es bereits, es war auch Feuerwehr zugegen, die aber bloß die Nachbarhäuser zu beschützen hatte, durfte also nicht den Tempelbrand löschen." (Robert Steiner)
10. November, 7:30 Uhr, Meidling "Meidlinger Hauptstraße 30-50 HJ-Kinder, mit Eisenstangen bewaffnet, gingen von jüdischem Geschäft zu jüdischem Geschäft und hauten die Firmenschilder zuerst kaputt, um dann mit großem Geschrei die Rollbalken aufzureißen, und gelang es, kam man sich vor wie unter Wilden, so ein Geschrei ertönte." Äußerungen auf der Straße: "Wie kann man 13-bis 16-jährige Buben das machen lassen, das werden doch erwachsene Leute auf anderem Wege zustande bringen (...) was wird denn aus solchen Kindern, wenn sie Männer werden." (Robert Steiner)
10. November, Razzia in einer österreichischen Stadt "SA verhaftete ein junges jüdisches Ehepaar. Die Frau bat um Erlaubnis, ihr zehn Monate altes Baby mitnehmen zu dürfen. Dies wurde ihr verweigert. Nach der Abführung der beiden wurde das Baby in der leeren Wohnung eingeschlossen, die Wohnung versiegelt und ein Wachposten davor gestellt. Zwei Tage lang hörte man das Baby noch schreien. Dann war es still."
10. November, Razzien, Wien "Der Mob ist überall mit freudigen Gesichtern zu sehen."
"Man schreckte nicht davor zurück, kleinen Kindern Ohrgehänge aus den Ohren zu nehmen."
"Auf einmal stürzen vier Parteileute herein, zerren Frau und Kind ins Badezimmer (der Mann ist schon seit Monaten in Dachau), sperren sie dort ein, demolieren die Wohnungseinrichtung; sperrten das Badezimmer wieder auf, nahmen den 9-jährigen Buben, stellten ihn in die Wanne, ließen kaltes Wasser auf ihn, die Frau hielten sie, schmierten sein Gesicht mit Seife ein und gaben ihm dann mit dem Satz ,Judenbengel, beiß ab' die Seife zu essen. (...) der Frau verschmierte man das Gesicht mit Schmutz, nahm ihr den Schlüssel für die Wohnung ab, versiegelte sie, jagte sie ohne Mantel, das Kind ganz nass, auf die Straße."
"In einem Keller, in welchem die Juden untergebracht wurden, haben sich folgende Sachen zugetragen: Frauen im Alter von 50 bis 55 Jahren müssen sich nackt ausziehen, um den Männern, welche mit ihnen zusammen eingesperrt waren, einen Tanz vorzuführen, welcher ihnen von der SA gezeigt wurde." (Fritz Grünwald)
"Man nahm von den Fingern den Leuten die Ringe, man sah alles. Eine Schande für das Volk, das sich sagt: 'Über alles in der Welt.' Ja, in Niedertracht und Gemeinheit, Härte und Rohheit, Sadismus, Raubgier und Bestialität. Traurig, sich sagen zu müssen, Deutsch ist Muttersprache."
10. November, Vormittag, Leopoldstadt Der Tempel in der Großen Schiffgasse brennt bei Ankunft der Feuerwehr lichterloh. Thorarollen, Talmudfolianten und Gebetsbücher werden auf der Straße zu Haufen angeordnet und angezündet. Als der sephardische Tempel in der Zirkusgasse fiel, hat "der ganze Bezirk gezittert von der Erschütterung des Einsturzes". (Rita Koch)
"Sie haben uns geschlagen. Der schrecklichste Tag, den ich je erlebt habe. (...) Leute starren, kalte Luft, Gestalten und vorn ein Lastauto mit Juden, ganz aufrecht, wie Schlachtvieh!"(Ruth Maier) "Augenzeugen berichteten, die Zerstörer seien in der Zeit des Gottesdiensts gekommen. Sie hätten die Gemeinde gezwungen, zusammen zu bleiben. 'Sprecht Eure Totengebete', so wurde ihnen gesagt: 'In einer Stunde seid ihr alle gestorben.' Die Jungen mussten hierauf unter Misshandlungen an der Zerstörung der heiligen Thorarollen teilnehmen. (...) Die Peiniger setzten die Sprengladung an die Mauer des Tempels. Jeder dieser Eingeschlossenen musste glauben, er werde von Dynamit zerschmettert, von Steintrümmern zerstümmelt. (...) Aber es genügte den Schaulustigen, die Wehrlosen durch diesen infamen Scherz gequält zu haben. Sie hatten sich gesättigt an der Totenblässe der Gemeinde, an den Klagelauten der Sterbenden." (Ernst Benedikt)
10. November, 8:00 Uhr, Polizei Hufelandstraße "Wachtzimmer, ein Militärauto voll besetzt mit alten Juden, wird von einem sehr jungen SS-Mann in Feldadjustierung kommandiert:'Herunterspringen vom Auto, es wird nichts weiter passieren, als dass ihr euch die Füße brechen könnt, das möchte aber schon gar nichts schaden.' - Dann sah man alte Greise herunterspringen, sie konnten kaum mehr aufstehen, wurden aber von den SS-Leuten ins Wachzimmer hineingestoßen, die Leute, die das sahen, schüttelten den Kopf, und man hörte leise sagen: 'Furchtbar.'"
"In Hietzing wurde die Schuljugend zwischen 12 und 14 Jahren um 10 Uhr morgens aus der Schule entlassen, mit der Weisung, jüdische Wohnungen und Geschäfte zu demolieren."
10. November, 11:00 Uhr Sitzung des Beirats der Vermögensverkehrsstelle Die Sperrung von Geschäften kommt gelegen, da ohnehin geplant war, 5000 Kleinhandelsgeschäfte zu schließen.
10. November, Mittag, Kärnten "Heute ist kein Unterricht, heute ist Judenverfolgung", erfährt der Villacher Anton Engelhart, der Nachmittagsunterricht gehabt hätte. "Wir gingen in die Stadt und sahen Hausrat aus den Fenstern fliegen."
10. November, Lagebericht des SD-Wien vom 10.11.1938 "Die jüdischen Männer nahmen, wenn sie erfasst wurden, in keiner Form eine böswillige Haltung ein und zeigten stets ein sehr verängstigtes Verhalten."
10. November, Bericht Büro Bürckel "Ich habe heute eine Rundfahrt durch Wien gemacht. Im ganzen sah ich persönlich neun Synagogen, die zum Teil noch brennend, zum anderen Teil gesprengt waren. Im Übrigen werden die Juden zusammengetrieben. Im Allgemeinen ist sonst übliche Wiener Ruhe."
10. November, Lagebericht des SD vom 18.11.1938 "Die ganze Aktion erregte naturgemäß großes Aufsehen, es sammelten sich ungeheure Menschenmassen an, die den Ablauf der Ereignisse interessiert verfolgten, und soweit sie nicht daran gehindert wurden, begannen sie auch selbst, sich aktiv an den Aktionen zu beteiligen. (...) Mitleid mit dem Los der Juden wurde fast nirgends laut, und wo sich ein solches dennoch schüchtern an die Oberfläche wagte, wurde diesem von der Menge sofort energisch entgegengetreten, einige allzu große Judenfreunde wurden festgenommen." Eine Frau wurde verhaftet, weil sie angesichts des brennenden Tempels Siebenbrunnengasse ausgerufen hatte: "Ist das Christenliebe, habt ihr denn gar kein Hirn? Wegen eines Siebzehnjährigen soll das ganze Volk zugrunde gehen?"
10. November, 14:00 Uhr, Polizeikommissariat Prater "Die Juden wurden wie von toll gewordenen Bestien angegangen (...) Prügel über Prügel. Dann hüpfen, springen, wippen - immer mit Prügeln, dann mussten sich die Leute gegenseitig anspucken, ohrfeigen - wenn sie nicht mit vollster Wucht einhauten, bekamen die Partner Extrahiebe."
10. November, Notarrest Ernst Benedikt, ehemaliger Chefredakteur und Herausgeber der "Presse", hat seine Erlebnisse in Wiener Notarresten aufgezeichnet, ein literarisches Dokument, souverän, voll innerer Würde. "Wir eilten unter dem brüllenden Zuruf der SS-Leute - Tempo, Tempo! - in das Gebäude, das uns als Kerker dienen sollte (...) mussten in tiefer Kniebeuge mit ausgestreckten Armen unsere Personaldaten mitteilen. (...) Das Regime des Tempos. Wer spricht, wird erschossen, wer zum Fenster geht, wird erschossen, wer nicht gehorcht, wird erschossen, so krachte es aus dem Munde der SS-Leute." "Als erster - dies stand zu erwarten - fiel ein junger Lehrer des Hebräischen in ihre Klauen. (...) eine schlanke Gestalt, mit einem schwarzen Talar bekleidet (...) und der Blick, der starke, schöne Blick des Schwärmers und des Priesters. Auf ihn konzentrierte sich naturgemäß die Aufmerksamkeit der Raubtiere (...) und man beschloss, auf seine Kosten die Vorstellung zu eröffnen. (...) Du wirst erschossen. Jetzt sing etwas! Da fuhr schon die Hand des Peinigers ihm ins Gesicht und packte seinen Bart. Sing, du! Nun begann er wirklich zu singen. Zuerst zögernd, ersichtlich freier, immer - ich kann es nicht anders sagen - erhabener. Wir alle standen atemlos dieses Schauspiel begleitend, mitleidend, mitweinend und innerlich mitsingend."
Eine andere Quälerei. "Man presst seinen dicken Körper zu Boden. Liegestütz, zehnmal. (...) Er wurde nicht getötet, wenigstens nicht vor unseren Augen. Aber der Tod konnte nicht viel ärger sein als die physische und moralische Misshandlung."
10. November, 21:00 An alle NSDAP-Ortsgruppen: "Sämtliche Aktionen sind einzustellen, alle gemachten Fotos einzuziehen. Juden dürfen nicht ausgelassen werden."
11. November, Nachmittag Goebbels verlautbart über die Presse das Ende der Aktion. Um 16:03 Uhr geht ein Fernschreiben an SS-Kaltenbrunner mit dem Zusatz "Sofort auf den Tisch." "Auf Grund der Vorkommnisse in der Nacht vom 10. zum 11.11. ist das gesamte Stadtgebiet so zu sichern, dass weitere Ausschreitungen unmöglich sind."
11. November, Kenyongasse Die ehemalige Klosterschule steht seit Herbst 1938 leer. In den Tagen des Pogroms waren hier mehr als 2000 Menschen interniert. Es gab einige Selbstmordversuche, fünf Menschen wurden ermordet. In den Nächten wurde "exerziert", so der SS-Jargon. Die Zustände in der Kenyongasse werden in Erinnerungsberichten als Hölle beschrieben. "Schlimmer als Dachau", sagte der Überlebende Emanuel Fuchs in einem Projekt des Wiener Wiesenthal-Instituts. Er erinnerte sich an einen Juden mit langem Bart, dem die SS zu singen befahl, indes zwei Mithäftlinge gezwungen wurden, seinen Bart anzuzünden. Fuchs traf den Mann, schwer entstellt, in Dachau wieder.
"Als um halb zehn Uhr abends die SS-Verfügungstruppe das Kommando übernahm, () mussten die Häftlinge 'turnen'. Als besondere Schikane zählte Herr B. Küssen von Boden und Stiefel und sogar Aufschlecken des Sputums auf und erwähnt, dass besonders zermürbend folgende 'Übung' wirkte. Den Juden wurde kommandiert, sich auf ein bestimmtes Zeichen in der Ecke des Raumes zu massieren, und wer die Ecke nicht rasch erreichte und Rücksicht auf den Nebenmann nahm, wurde blutig geschlagen."
"Ein 'Separatvergnügen' der Truppe bildete das Herausholen einzelner besonders prototypisch jüdisch aussehender Verhafteter, die bei den Haaren gerissen wurden oder denen in die Haare 'Embleme' geschnitten wurden." (Dr. Reich)
11. November, Notarrest Karajangasse "Dort wurden sie (die Juden) von der 'wütenden Volksmenge' empfangen und auf dem Wege vom Auto zum Portal mit Steinen beworfen und mit Faustschlägen und Knüttelhieben durch SA und SS mit Stahlhelm traktiert." "Als die Autos vorfuhren, musste durch SS der Platz abgesperrt werden, weil die Menge, speziell Frauen, mit Beschimpfungen und Tätlichkeiten gegen die Aussteigenden losging."
11. November, Polizeikommissariat 1090, Hahngasse "Ein bärtiger Jude wurde gezwungen, mit seinem Bart den Boden aufzukehren."
12. November, Sitzung im Gauwirtschaftsamt Es seien "Skandalszenen vorgefallen, die das Ansehen der Partei und des Reiches aufs Schwerste schädigen. Eine solche Entfesselung niedrigster Instinkte" untergrabe "die Staatsautorität".
12. November, Bilanz 30.000 Juden wurden während des Pogroms verhaftet, davon 6547 österreichische Juden. Im gesamten deutschen Reich wurden nach offiziellen Angaben 91 Menschen ermordet, mehr als 30 Menschen in österreichischem Gewahrsam, so der Historiker Gerhard Botz.
12. November, Berlin "Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und nicht solche Werte vernichtet", sagt Hermann Göring in einer internen Sitzung. Und es erfolgt ein neuer Genickstoß. Den Juden wird für das Pogrom eine Buße von einer Milliarde Reichsmark auferlegt, die Versicherungen müssen nichts bezahlen.