„Man muss auch erkennen wollen”

Cornelius Obonyas Gedenkrede anlässlich der Befreiung des KZ Ebensee vor 69 Jahren

Zeitgeschichte. Cornelius Obonyas Gedenkrede anlässlich der Befreiung des KZ Ebensee vor 69 Jahren

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Hochverehrte Überlebende des Konzentrationslagers Ebensee, verehrte Angehörige und Freunde von Opfern und Überlebenden, sehr geehrte Damen und Herren!

Dieser Ort ist einer, der eine Ungeheuerlichkeit repräsentiert. Die Ungeheuerlichkeit des absoluten Vernichtungswillens. Menschen haben diesen Ort ersonnen, um andere Menschen zu vernichten. Vernichtung durch Arbeit, durch Kälte und Hunger, durch Durst und Hitze, einfach durch puren Sadismus. Das hier geschehene Leid war und ist unglaublich und ist noch immer unfassbar.

Als ich gebeten wurde, heute vor Ihnen zu stehen und hier zu sprechen, geschah dies aus bestimmten Gründen. Ich bin Schauspieler, eine sogenannte öffentliche Person. Und weil ich als solche bereits bei anderer Gelegenheit klare Worte gefunden hatte gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Das ist nicht unbedingt eine Leistung meinerseits. Es ist die Ihre.

Es ist Ihre große Leistung, hochverehrte Überlebende, nach all dem Leid, das Sie persönlich ertragen mussten, Jahr für Jahr hierher zurückzukehren, um die Erinnerung wachzuhalten, um sie Generation für Generation weiterzugeben. Ich bin Nutznießer dieses Ihres persönlichen Mutes. Ich komme aus einer Familie, die zur Zeit der Diktatur des
Nationalsozialismus beiderseits jener Trennlinie zu finden war, nach der wir Nachgeborenen uns ein vorsichtiges oder manchmal auch deutliches Urteil erlauben dürfen. Meine Großeltern Paula Wessely und Attila Hörbiger waren als Schauspieler beide an dem Propagandafilm „Heimkehr“ beteiligt. Nicht aus voller Überzeugung, aber in üblicher Mitläuferschaft mit den Mächtigen, die dem Regime gewogenen Künstlern freie Ausübung ihres Berufes und ihrer Berufung und damit eine Karriere oder deren Fortsetzung in Aussicht stellten. Während mein Großonkel Paul Hörbiger sich zum Widerstand entschloss und, zum Tode verurteilt, in den Gefängnissen der Gestapo saß. Ihn rettete das Ende des Krieges.

Sie haben ihr ganzes Leben lang, bis heute, Zeugnis abgelegt, sodass zum Beispiel meine Mutter, Elisabeth Orth, und viele andere ihrer Generation einen neuen Weg gehen konnten, den des Lernens über das Grauen, das hier und anderswo stattfand, den der vollständigen Aufklärung der Dinge, auch der eigenen Geschichte. Meine Mutter ist heute die Präsidentin der „Aktion gegen Antisemitismus in Österreich“.

Und es ist mit Ihre Leistung, dass meine Mutter diese Haltung mir weitergeben konnte, denn sie konnte Ihr Beispiel nennen, Ihre Geschichte berichten, konnte mich so aufwachsen lassen, dass ich heute als freier Bürger dieses Landes meine Worte an Sie richten darf.

Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen für Ihren Mut, der mir die Möglichkeit gibt, das zu tun.

Niemals vergessen! So vieles ist schon gesagt worden über das Leiden der Juden, der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der politisch Verfolgten, der Verfolgten aus religiösen Gründen, der Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung – und das aus berufenerem Munde als dem meinen – was kann ich noch beitragen, noch dazu an diesem Ort? Mein Kollege Klaus Maria Brandauer kam an dieser Stelle zu einer sehr klaren Erkenntnis: „Aus dem Erinnern erwächst uns die Möglichkeit des Erkennens.“ Und ich möchte dem gerne hinzufügen: Man muss dann aber auch erkennen wollen.

Der Journalist Dr. Christian Rainer, selbst Ebenseer, fand hier harte, deutliche Worte zum kollektiven Verschweigen des Holocaust in den ersten 30 bis 40 Jahren des Bestehens der Zweiten Republik Österreich. Er sagte am Ende seiner Rede: „Die Wahrheit ist nicht nur zumutbar. Die Wahrheit muss dem Menschen abgezwungen werden, damit sich ein Verbrechen wie dieses nicht wiederholen kann.“

Der Regisseur Stefan Ruzowitzky, der mit seinem Film „Die Fälscher“ einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung an eben dieses Verbrechen geleistet hat, empfand als drängende Aufgabe in unserer Zeit, wie wir, die Nachgeborenen, mit dem Erbe der Mörder und derer, die sie politisch und ideell unterstützten, umgehen sollen.

Und er gab seiner Empfindung Ausdruck, dass bei Diskussionsveranstaltungen rund um seinen Film Angehörige jener Generationen, die nach dem Krieg geboren wurden, die frei sind von jeder persönlichen Schuld, nicht wissen, wie sie mit der teilweise sehr konkreten Schuld ihrer Eltern oder Großeltern umgehen sollten.

Ich möchte das gerne etwas erweitern. Ich habe das Gefühl, dass das konkrete Wissen und vor allem das Empfinden um die Shoa, den Holocaust, das millionenfache Sterben der in den Lagern der Nazis Eingesperrten und zur Vernichtung Bestimmten in den jüngeren Generationen nicht oder kaum mehr vorhanden ist. Dies ist eine gefährliche Entwicklung.

Wir stehen meiner Meinung nach an einer Grenze. Diejenigen, die Opfer waren und überlebten, sind noch unter uns. Bald wird es niemanden mehr geben, anhand dessen oder deren Geschichte man das unendliche Leiden begreifen könnte und in dessen oder deren Augen man schauen könnte und „sehen“ könnte, was hier und an anderen Orten des Schreckens und der Vernichtung geschehen ist.

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind Schülerinnen und Schüler aus Österreich und Deutschland durch die Lager und Gedenkstätten, auch durch diese hier, geführt worden, um ihnen die Dimensionen des Holocaust begreifbar zu machen. Das ist gut so und es darf niemals aufhören. Aber wie schaffen wir Nachgeborenen es, den Jüngeren nicht einfach nur Jahreszahlen, Opferzahlen, Namen und Fotos von Tätern zu präsentieren und zu sagen: „Lernt das …“, sondern ihnen das Empfinden für die namenlosen Grauen der Shoa begreiflich zu machen?

Wie soll man jungen Menschen, die vielleicht nicht in privilegierter Umgebung von Bildung, finanziellen Möglichkeiten, beruflicher Zukunft in diesem großen Europa aufwachsen, zur Kenntnis und zur Erkenntnis bringen, dass Orte wie dieser nie wieder entstehen dürfen? Wie sollen wir es anstellen, dass das Begehen von ehemaligen Konzentrationslagern und Folterstätten des Nationalsozialismus nicht den gleichen gefühlsmäßigen Stellenwert bekommt wie der Besuch eines mittelalterlichen Folterkellers in einer Burg und die Jahreszahlen 1933 bis 1945 nicht den gleichen Wert wie die der Bartholomäusnacht? Der Holocaust ist ein singuläres Jahrhundertverbrechen.

Das geeinte Europa schützt nicht vor Phobien, vor Ängsten, vor Unkenntnis. Es hat durch seine schiere Existenz, als beginnende politische Gemeinschaft – und ich darf an dieser Stelle meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass dieser Weg von den Verantwortlichen sowie von uns allen hier Lebenden mutig und rasch weitergegangen wird – vieles geschafft, vieles erleichtert, vieles ermöglicht. Europa, als gedachte, und immer konkreter gedachte und erträumte Gemeinschaft entstand überhaupt nur aus dem Gedanken des „Nie wieder!“. Natürlich nie wieder ein kriegerisches Völkermorden, kein drittes Mal, aber natürlich auch im Sinne des „Niemals vergessen!“. Niemals wieder das systematische, geplante, verordnete Ermorden von Menschen.

Aber wir sehen heute, ganz real, in einigen Ländern Europas, zum Beispiel in Ungarn, das eine durchaus grausame geschichtliche Verbindung mit der Shoa hat, was das Nähertreten an die Schwelle zur Verachtung Andersdenkender und, hier ganz deutlich, zum Antisemitismus, auslösen kann. Die Verengung der Gedanken. Ängste, Phobien einmal mehr. Diese Schwelle ist nicht breit, sie ist im Gegenteil fadendünn. Das Übertreten kann immer passieren, wenn den Ängsten populistisch Raum gegeben wird.

Doch auch hier, in meinem Land, in Österreich, ist es eigentlich nicht viel besser. Erneut meine Fragen: Wie sollen wir es schaffen, eine junge, politisch mündige Generation hervorzubringen, wenn, wie vor nicht allzu langer Zeit geschehen, Mitarbeiter des damaligen Dritten Nationalratspräsidenten über den Computer des Parlaments im Internet auf einschlägigen Seiten Nazi-Devotionalien bestellen und dieser Präsident, anstatt diese Mitarbeiter ehebaldigst zu entlassen und danach gefälligst sich selbst aus diesem demokratischen Amt zu entfernen, die Angelegenheit hämisch grinsend einfach aussitzt, weil der Aufschrei der Sozialdemokratie und des christlich-bürgerlichen Lagers, der folgen hätte müssen, unterhalb der Wahrnehmungsgrenze lag? Wie soll man jungen Menschen erklären, dass es tatsächlich in diesem Lande sehr, sehr lange dauert, bis ein sattsam bekannter rechtslastiger Politiker, der sich um ein Amt in eben jener Europäi-schen Gemeinschaft bewirbt, die Worte „Neger“ und „Zigeuner“ für letztendlich normal und für sprachgebrauchlich lobenswert hält, erst Tage später, nach getaner Aussage und angerichtetem Schaden, widerwillig zurücktritt, und das auch nur nach einem sogenannten „klärenden Gespräch“ mit dem Chef seiner Partei, die für ihre immer wiederkehrenden ausländerfeindlichen Parolen und Plakate allseits bekannt ist, wo es jedem noch so einfältigen Zeitungsleser ­eigentlich klar sein musste, dass dieser Rücktritt ein taktischer war, denn zu weit will man es dann doch nicht treiben. Wiewohl sein Nachfolger als Spitzenkandidat zur Wahl des Europäischen Parlaments durchaus auf Augenhöhe agiert. Wie sollen wir es anstellen, jungen Wählerinnen und Wählern in dieser unserer Demokratie faktisch und – noch einmal – gefühlsmäßig beizubringen, dass man gewisse Dinge, wie die gerade eben genannten, nicht einfach negiert oder als „schon nicht so schlimm“ bewertet und dass man seine demokratische Stimme diesen Leuten und ihren Einstellungen nicht gibt, denn das ist die Grenze, die in dieser Demokratie einfach nicht überschritten werden darf.

Ohne Gesetz, ohne Verordnung. Einfach, weil es richtig ist.
Indem wir, diese – letztendlich – glückliche Generation in diesem freien Europa, zum Beispiel Ihre Geschichten, hochverehrte Überlebende des Konzentrationslagers Ebensee, weitergeben. Indem wir, als „öffentliche Personen“, ebendiese Öffentlichkeit dazu nutzen, aufzuklären, unsere Meinung zu sagen.

Indem wir, denen die Möglichkeit gegeben war und noch immer ist, in die Augen der Überlebenden zu blicken und vielleicht zu erfassen, was es heißt, dies alles durchgestanden zu haben, diese Empfindungen begreifbar machen und den uns Nachfolgenden eine klare und hörbare Stimme des „Nie wieder!“ hinter­lassen.

Indem wir in unserer Zeit den uns Regierenden klarmachen, dass lautes Schweigen zu wie immer gearteten rechtslastigen Ideologien um politischer Taktik willen inakzeptabel ist.

Indem wir niemals vergessen! Das sind wir Ihnen und uns schuldig.
Sie haben mir die Ehre erwiesen, mir zuzuhören. Haben Sie dafür meinen herzlichen Dank.

Cornelius Obonya, 45.
Der mehrfach ausgezeichnete Schauspieler ist Sohn von Elisabeth Orth und Enkel von Paula Wessely und Attila Hörbiger. Der vielseitige Künstler ist seit 1989 für renommierte Bühnen ­tätig – vom Burgtheater über die Berliner Schaubühne bis zu den Salzburger Festspielen – und auch in Kino- und TV-Filmen („Tatort“, „Polt“) erfolgreich. Seit 2013 spielt Obonya bei den Salzburger Festspielen den „Jedermann“.