Die Corona-Chroniken: Trauerzustand

Der tägliche profil-Überblick zur Corona-Krise. Von Martin Staudinger und Michael Nikbakhsh.

Drucken

Schriftgröße

Ausnahmezustand, Tag 9: Seit neuestem führt mich mein Arbeitsweg fast jeden Tag über den Hernalser Friedhof. Nein, keine Angst: das hat eigentlich bloß ästhetische Gründe. Ich marschiere – aus nicht sonderlich überraschenden Gründen zu Fuß – quer durch die Stadt in ein Ausweichbüro, und habe auf dem letzten Stück die Wahl zwischen dem Gehsteig einer selbst jetzt eher stark befahrenen Straße und eben dem Weg durch den Friedhof, dessen Grabreihen zwischen alten Bäumen sanft nach Südwesten hin abfällt.

Gestern fand dort gerade eine Trauerfeier statt, die doppelt traurig wirkte: Abgesehen von einer Angehörigen und einem Bestatter war nämlich niemand anwesend, um den Verstorbenen auf seinem letzten Weg zu begleiten; etwas, das sonst eher die Ausnahme, derzeit aber der Normalfall ist - ein Umstand, dem mein Kollege Stefan Wabl diesen schönen Text gewidmet hat.

Wir wissen nicht, wer da begraben wurde: Frau oder Mann; alt oder jung; geliebt oder einsam; arm oder reich. Vielleicht wäre die Aufbahrungshalle noch vor zwei Wochen voll gewesen, vielleicht wären die Hinterbliebenen danach gegenüber ins Gasthaus zur Elfe gegangen, um miteinander zu weinen und nach dem zweiten Achterl vielleicht schon wieder ein bisschen zu lachen. Aber das Gasthaus zur Elfe ist geschlossen, wie alle anderen.

Vielleicht hätte ich die Frau am Sarg fragen sollen, denke ich mir jetzt. Auch, um hier ein paar Zeilen über die oder den Verstorbenen zu schreiben und auf diesem Weg zumindest ersatzweise die Trauergemeinde zusammenzubringen, die er/sie verdient hätte.

Aber man will ja niemandem zu nahe treten. Gerade jetzt nicht.

Bleiben Sie gesund!

Zahlen bitte!

Derzeit steigen die absoluten Zahlen der erkannten Ansteckungen sehr stark an – 3663 Fälle wurden gestern früh registriert, am heutigen Vormittag waren es bereits 4668, und damit um 1005 mehr (Stand 10.15 Uhr, Quelle Gesundheitsministerium). Die Zahl der Testungen wird mit 28.391 angegeben, nach 23.429 am Tag davor.

Allerdings heißt das nicht, dass die Maßnahmen gegen die Epidemie nicht wirken: Eine Woche nach ihrem Beginn befinden wir uns noch mitten in der Inkubationszeit, die bis zu zwei Wochen beträgt. Ein belastbarer Trend wird sich also frühestens Ende dieser Woche ablesen lassen.

Immer noch verläuft die überwiegende Mehrheit der Infektionen milde. Krankenhausbehandlung ist bislang nur bei 159 Personen notwendig (+ 45 zu gestern früh); die Zahl der Intensivpatienten ist gleich geblieben; 25 eindeutig durch das Coronavirus bedingte Todesfälle wurden bislang gemeldet (+ 9 zu gestern früh).

So beklagenswert jeder einzelne Fall ist: Das österreichische Gesundheitssystem ist damit noch lange nicht überfordert – anders als in Norditalien und neuerdings auch in New York. In der US-Metropole hat sich das Virus in den vergangenen 48 Stunden mit rasender Geschwindigkeit ausgebreitet. Dort waren gestern Abend bereits mehr als 2600 Personen hospitalisiert; über 600 davon sind so schwer erkrankt, dass sie intensivmedizinisch betreut werden müssen; binnen 24 Stunden starben mehr als 100 Infizierte. New York City ist mit 10.600 Einwohnern pro Quadratkilometer die am dichtesten bevölkerte Region der USA.

Weltweit wurden bisher insgesamt 381.621 Infektionen registriert, 101.806 Erkrankte sind bereits wieder gesund.

Nachrichten der vergangenen 24 Stunden

Gute … + China hebt die Abriegelung der Provinz Hubai und ihrer Hauptstadt Wuhan – dem Ausgangspunkt der Epidemie – weitgehend auf + In Deutschland haben sich inzwischen zehn Prozent der rund 28.000 Infizierten wieder erholt und gelten als genesen

Schlechte … - In Italien sind bereits mehr als 6000 Erkranke am Coronavirus gestorben - In Österreich haben seit Beginn der Krise 115.600 Beschäftigte ihre Jobs verloren - Frank Ulrich Montgomery, Präsident des Weltärztebundes, befürchtet, dass die Krise noch bis Ende des Jahres andauern wird

Wenn Sie ein Video gemacht haben, das persönliche Beobachtungen aus dem Corona-Krisen-Alltag einfängt, dann schicken Sie es uns (am besten mit einem Datenübertragungsdienst wie WeTransfer und Link an [email protected] ). Gibt es etwas, das wir an den „Corona-Chroniken“ verbessern können? Das Sie ärgert? Erfreut? Wenn ja, lassen Sie es uns unter der Adresse [email protected] wissen.

Krisenwirtschaft

Wie die VAMED Auftragnehmer am Bau unter Druck setzt

profil vorliegende E-Mails zeigen: Der AKH-Technikbetreiber drohte Firmen, die ihre Arbeiter von Baustellen abzogen, negative Konsequenzen an.

Von Michael Nikbakhsh

Österreich Baugewerbe ist einigen Tagen in einer verzwickten Rolle. Einerseits lassen die seit 16. März geltenden Beschränkungen des öffentlichen Lebens die Weiterführung von Baustellen zu – wenn auch unter Auflagen, unter anderem die Einhaltung des Sicherheitsabstands und der Hygienevorschriften. Andererseits ist der völlige Schutz vor einer Virus-Übertragung auf Baustellen mit viel Arbeitsteilung, engen Baucontainern und gemeinsamen Sanitäreinrichtungen beziehungsweise bei Personentransporten in Firmenbussen nur schwer zu garantieren.

Während Schwergewichte wie Strabag und Porr ihre Baustellen mittlerweile von sich aus geschlossen haben, sind kleinere Baufirmen und hier vor allem das Baunebengewerbe (Maler, Fliesenleger, Dachdecker, Glaser, Spengler) in ihren Entscheidungen nicht ganz so frei.

profil hat einen Fall recherchiert, in dessen Zentrum die international tätige österreichische VAMED-Gruppe steht. Die VAMED betreibt in Österreich mehrere Krankenhäuser. Im größten, dem Wiener AKH, hat sie die technische Betriebsführung über. Dort wird seit einiger Zeit an mehreren Ecken gebaut, so wird unter anderem die Großküche erneuert, die Kinder- und Jugendpsychiatrie um- beziehungsweise ausgebaut.

profil liegen E-Mails vor, die belegen, dass die VAMED diese Baustellen entgegen der Empfehlungen eines Sicherheitsberaters und des Arbeitsinspektorats nicht schließen wollte und will – mehr noch: dass die VAMED Firmen, die ihre Arbeiter bereits abgezogen hatten, unangenehme Konsequenzen androhte.

Was ging in Italien schief?

Die gleiche Zahl an Infizierten hatte in Österreich bisher nicht annähernd so dramatische Folgen, analysiert ROSEMARIE SCHWAIGER.

Es war in erster Linie die katastrophale Situation in Italien, die dazu führte, dass halb Europa vorsorglich zugesperrt wurde. Österreich liege bei den Corona-Auswirkungen zwei Wochen hinter Italien, erzählt man uns immer wieder, weshalb es auch bei uns noch richtig schlimm kommen könne.

Ein Vergleich der Entwicklung (auf Basis von Daten des Sozialministeriums und tagesaktuellen Berichten der Austria Presse Agentur) sorgt in dieser Hinsicht allerdings für Entwarnung: Am 6. März, also zwei Wochen nach der Diagnose der ersten Corona-Fälle in der Lombardei, waren in dem betroffenen Gebiet 3916 Infizierte aktenkundig. In Österreich gab es gestern Nachmittag um 15.00 Uhr fast gleich viele Fälle, nämlich 3943. Bei diesem Stand an Infektionen hatte Italien allerdings bereits 197 Todesopfer zu beklagen, fast 2400 Menschen lagen im Krankenhaus, davon 462 auf Intensivstationen. In Österreich wurden bisher erst 25 Sterbefälle dem Virus zugeordnet, mit der Diagnose Covid-19 im Krankenhaus liegen nur 159 Patienten, Intensivbehandlung benötigen davon nur 16 (Stand heute, 10.15 Uhr). Und während es vor zwei Wochen schon diverse Hilferufe von Ärzten in der Lombardei gab, wurde das Gesundheitssystem in Österreich bisher nicht strapaziert; die Zahl der ernsthaft Erkrankten wäre uns unter normalen Umständen gar nicht aufgefallen.

Sollte die Welt irgendwann wieder einmal halbwegs funktionieren, wird man sich hoffentlich genauer ansehen, was in Italien so fundamental schiefgegangen ist. Den insolventen Unternehmern und den Arbeitslosen in Österreich wird das dann zwar nicht mehr helfen. Aber für die Zukunft wäre es ganz gut zu wissen, ob Italien als abschreckendes Vorbild taugt.

Countersound: Billie Joe Armstong (Green Day) hat nicht den Blues

Philip Dulle findet Musik gegen Corona.

Am 21. Juni sollen die kalifornischen Punkrock-Veteranen Green Day eigentlich im Wiener Ernst-Happel-Stadion auftreten. Offiziell ist die große Party noch nicht abgesagt oder verschoben; immerhin gilt es das erst im Februar erschienene, dreizehnte Album „Father of All Motherfuckers“ (10 Songs, 26 Minuten, Glamrock-Einschlag!) zu promoten. Sänger und Gitarrist Billie Joe Armstrong, 48, meldet sich jetzt mit dem Coversong „I Think We’re Alone Now“ (von Tommy James & the Shondells) aus der Heimisolation. Das klingt überraschend sportlich – und sorgt auch bei den zu betreuenden Kindergartenkindern im Home Office für gute Laune: „‚Children, behave’ / That's what they say when we're together / ‚And watch how you play’ / They don't understand.“ Alles wird gut.

Schöne Grüße aus dem Elfenbeinturm!

Wolfgang Paterno macht sich auf die Suche nach Sätzen, die helfen.

„Ein wunderbarer Ausdruck: ,Ich bin bei mir.‘ (,être chez soi‘.)“

Ludwig Hohl ist schon viel zu lange tot. Der Schweizer Widerspruchsgeist starb 1980 in hohem Alter, sein Werk ist leider in Vergessenheit geraten. Friedrich Dürrenmatt, dem sonst wenig Freundliches über die Kollegenschaft abzuringen war, bemerkte: „Hohl ist notwendig, wir sind zufällig. Wir dokumentieren das Menschliche, Hohl legt es fest.“ Da ist also Hohls Lob der Einsamkeit: „Ich bin bei mir.“ Andererseits, wie stets bei Hohl, sein daueralarmierter Zweifel (aus dem Band „Von den hereinbrechenden Rändern“): „Ein Granit-Satz (einer der stets wieder zu findenden, dunkelsten und allgemeinsten Sätze). Helden sind immer allein.“

Ludwig Hohl: Varia. Bibliothek Suhrkamp 1977, 141 S., ca. EUR 4,50 (antiquarisch)