Die Corona-Chroniken: Die vergessenen Unternehmer

Der tägliche Überblick zur Corona-Krise.

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Ausnahmezustand, Tag 16. Sebastian Kurz hat, soweit ich das überblicke, nicht einen Tag seines Berufslebens in der Privatwirtschaft gearbeitet. Wenn er darüber spricht, dann teilt er lediglich das Wissen und die Erfahrungen anderer Leute. Auch Werner Kogler, Rudolf Anschober und Karl Nehammer können sich ein Berufsleben abseits der täglichen Pressekonferenz, also außerhalb geschützter Werkstätten, allenfalls vorstellen und selbst das nicht besonders gut. Sie wissen nicht, wie es sich anfühlt, als Arbeitnehmer plötzlich in die Kurzarbeit oder überhaupt gleich in die Arbeitslosigkeit geschickt zu werden. Wie es auf der anderen Seite für Unternehmer ist, von jetzt auf gleich vor den Trümmern des eigenen Geschäftsmodells zu stehen.

Aber es gibt ja den Härtefall-Fonds! Das Ding ist eben erst mit großem Hallo als Sicherheitsnetz für Kleinstunternehmer angekündigt worden – und schon reparaturbedürftig. Die Richtlinien wurden so eng gefasst, dass eine Menge selbständig Erwerbstätiger gar keinen Zugang zu den staatlichen Almosen bekommen. Weil sie vor der Krise zu wenig oder zu viel verdienten (es gibt willkürliche Unter- und Obergrenzen); weil sie ihr Unternehmen bedauerlicherweise erst nach dem Jahreswechsel gegründet haben (es gibt den willkürlichen Stichtag 31. Dezember 2019); weil sie, wie übrigens sehr viele Menschen in diesem Land, neben ihrer selbständigen auch einer unselbständigen Tätigkeit nachgehen (da sind jetzt einige gleich doppelt betroffen: Als Unternehmer erhalten sie kein Geld aus dem Härtefall-Fonds, als Angestellte sind sie in Kurzarbeit oder bereits in Kündigung). „Die Verunsicherung ist groß“, sagt Sonja Lauterbach, stellvertretend für tausende Ein-Personen-Unternehmen (EPU) im Land. Sie hat via Facebook die Initiative „EPU Österreich – Gemeinsam durch die Corona-Krise“ lanciert, um Betroffene zu vernetzen und den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen.

So oder so: Bleiben Sie gesund!

Michael Nikbakhsh

Gibt es etwas, das wir an den „Corona-Chroniken“ verbessern können? Das Sie ärgert? Erfreut? Wenn ja, lassen Sie es uns unter der Adresse [email protected] wissen.

Zahlen bitte!

9634 bestätigte Fälle von Covid-19 meldete das Gesundheitsministerium bis heute, 8 Uhr früh. Es ist also zu erwarten, dass in Österreich heute die Grenze von 10.000 Erkrankungen überschritten wird.

Die Zahl der registrierten Ansteckungen ist in den vergangenen 24 Stunden also um 676 gestiegen: ein Plus von 7,5 Prozent, und damit deutlich unter den früheren Werten im März.

Grund zum Optimismus? Nur bedingt. Denn noch immer liegt der Replikationsfaktor (R0) – er gibt Auskunft darüber, wie viele andere Personen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt – laut Experten realistischerweise bei 1,7. Solange er höher als 1 ist, steigt die Zahl der Erkrankungen rasant an.

Die Zahl der Hospitalisierungen ist inzwischen aus 1110 gestiegen, um 111 mehr als gestern; 198 der Patienten benötigen intensivmedizinische Betreuung (+ 5 seit gestern).

Eine interessante Zahlenaufbereitung hat auch der oberösterreichische Data Scientist Thomas Pflügl visualisiert: Die roten Balken zeigen die prozentuellen Zuwächse der diagnostizierten Infektionen – bis Ende der vergangenen Wochen waren diese stark zurückgegangen.

Nachrichten der vergangenen 24 Stunden

Die guten … + Seattle meldet erste Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie. Die Stadt im äußersten Nordwesten der USA war der erste große Infektionsherd des Landes gewesen. Inzwischen steigt die Zahl der Toten dort nicht mehr so schnell wie in anderen Bundesstaaten, die Ansteckungsrate ist von 2,7 Personen pro Erkranktem auf 1,4 gesunken (was aber, siehe oben, immer noch viel zu viel ist). + Südkorea schafft es, die Pandemie so weit unter Kontrolle zu halten, dass kein Kompletter Stillstand des öffentlichen Lebens erzwungen werden muss. Das Rezept: eine Mischung aus engster Überwachung (u.a. durch Bewegungsprofile mit Hilfe von Handy-Überwachung und Kreditkartentransaktionen), Massentests und Hygienemaßnahmen. Allerdings war die Ausbreitung im Land bereits in der Anfangsphase vergleichsweise einfach zu überblicken – mehr als die Hälfte der Infektionen sind auf ein Treffen einer Religionsgemeinschaft zurückzuführen, die den Behörden ihre Teilnehmerliste zur Verfügung stellte und die Nachverfolgung potenziell Erkrankter ermöglichte. + Chinas Fabriktätigkeit hat bereits wieder stark zugenommen. Der offizielle Einkaufsmanagerindex (PMI) stieg von einem Einbruch auf 35,7 Punkte im Februar im März auf 52 und liegt damit wieder über der 50-Punkte-Marke, die Wachstum signalisiert. Wie das Statistikamt mitteilte, haben mehr als die Hälfte der befragten Firmen wieder die Produktion aufgenommen.

Die schlechten … - Lothar Wieler, Chef des deutschen Robert Koch-Instituts (RKI), geht davon aus, dass es in Deutschland noch sehr viel mehr Covid-19-Todesfälle geben wird. „Ich gehe davon aus, dass die Sterberate steigen wird“, sagte er bei einer Pressekonferenz am Dienstag.

Coronavirus und Demokratie: Hier regiert die Pandemie

Nach der Angst vor dem Terror soll nun die Angst vor dem Virus staatliche Überwachungsmaßnahmen rechtfertigen. Treibt uns Covid-19 in eine autoritäre Richtung?

Eine globale Pandemie ist eine enorme Prüfung; für den Einzelnen, aber auch für die betroffenen Gesellschaften. Sie müssen Widerstandskraft zeigen und den Kampf gegen die Krankheit organisieren. Weil das eine hochpolitische Aufgabe ist, zeigt sich auch, welches System, welche Regierungsform am besten dafür geeignet ist. Das Coronavirus testet sie alle: erst China, dann den Iran, Südkorea, Italien, schließlich ganz Europa, Asien, die USA und, wie sich abzeichnet, auch Afrika.

Und was wird aus Donald Trump?

Der profil-Podcast zur US-Wahl im Zeichen der Corona-Krise.

Während sich die Pandemie in den Vereinigten Staaten mit rasender Geschwindigkeit ausbreitet, steht auch die politische Zukunft auf dem Spiel – im November soll gewählt werden, die Demokraten haben noch keinen offiziellen Kandidaten, der gegen Donald Trump antreten wird; und ihre Vorwahlen stehen still.

Damit beschäftigt sich die Auslandsredaktion in ihrem wöchentlichen SUPERTUESDAY-Podcast, bei dem diesmal der Kommunikations- und US-Experte Yussi Pick zu Gast ist.

Das profil-KRISEN-FEUILLETON

Countersound: Pearl Jam und wie sie die Welt sehen

Philip Dulle findet Musik gegen Corona.

Vor allem in Krisenzeiten gilt: Halt dich an der Musik fest, die dir lieb und teuer ist. Nun erscheint „Gigaton“, das elfte Studioalbum der Rock-Institution Pearl Jam zum bestmöglichen Zeitpunkt. Die Musiker aus Seattle waren sich in ihrer knapp drei Jahrzehnte spannenden Karriere nie zu schade, sich mit Vehemenz, viel Aktionismus und Hang zur Eigenbrötelei gegen unliebsame Präsidenten (George W. Bush), gesellschaftliche Missstände, gegen Kriegstreiberei oder Konzertticket-Kartelle (Ticketmaster) zu stemmen. Auf den zwölf Songs ihrer neuen Platte beziehen die Gitarristen Stone Gossard und Mike McCready, Jeff Ament (Bass), Matt Cameron (Schlagzeug) und Sänger Eddie Vedder erneut Stellung – und klingen dabei überzeugend unermüdlich: Es geht um die große Klimakatastrophe, den Trump-Wahnsinn und das wachsende Gefühl eines apokalyptischen Unbehagens. „When the past is the present / And the future's no more“, heißt es in der Vorabsingle „Dance of the Clairvoyants“ hellseherisch: „When every tomorrow / Is the same as before“.

Alles wird gut.

Schöne Grüße aus dem Elfenbeinturm!

Wolfgang Paterno macht sich auf die Suche nach Sätzen, die helfen.

„An diesem Donnerstag, in der ersten Blüte des Aprils, hatte mich mein gelehrter Freund, Meister Martial Canterel, zusammen mit einigen anderen Vertrauten eingeladen, den ausgedehnten Park zu besichtigen, der seine schöne Villa in Montmorency umgibt.“

So beginnen große Leseabenteuer. So lautet der erste Satz des Romans „Locus Solus“ von Raymond Roussel, eines superben französischen Exzentrikers aus dem vorigen Jahrhundert. Es sind unsichere Zeit in dem Buch, das halbe Bibliotheken ersetzt, dessen Titel einen stillen Zufluchtsort verspricht: „Locus Solus“, im Grunde die Geschichte eines ausgedehnten Spaziergangs mit schier unendlich vielen Um- und Irrwegen, ist ein greller, magischer Farbtupfer in der großen Weltliteraturarena, ein Roman, der auf die dröge Wirklichkeit pfeift, der bei jedem Wiederlesen mit unentdeckten Orten, Plätzen und Geheimwinkel aufwartet.

Raymond Roussel: Locus Solus. Deutsch von Stefan Zweifel. Die Andere Bibliothek 2012, 489 S., EUR 37,–

Verlustanzeige (II)

Stefan Grissemann sendet Nachrichten aus dem Paralleluniversum des Menschengedränges.

Er hört, während der erwartete Urteilsspruch ergeht, nur mit halbem Ohr hin, denkt bereits an die Haftbedingungen, die ihm nun, wenn er ein wenig Glück hat, allenfalls einige Monate lang zugemutet werden sollen. „Bei guter Führung“, klar, was immer das genau heißen mag. Sein Hausverstand erklärt ihm den Begriff so: unauffällig bleiben, die Regeln beachten, nicht aus der Rolle fallen.

Sein Vergehen ist gering (findet wenigstens er selbst), eine Haftstrafe wäre da nicht unbedingt nötig gewesen, aber gut, das hohe Gericht wollte das anders sehen. Mit gewissen Lockerungen des Strafvollzugs könne er immerhin rechnen, hat man ihm gesagt. Vorausgesetzt, er mache alles brav und richtig. Es werde beschränkten Ausgang geben, er werde tagsüber seine Wohnung oder auch seinen Arbeitsplatz ansteuern dürfen, von dem er gerade gar nicht weiß, ob es ihn noch gibt – aber er werde direkt gehen müssen, nicht auf irgendeiner Parkbank pausieren oder gar auf ein Bier einkehren dürfen.

Er wird seinen Freigang dennoch dringend einfordern, so viel ist sicher. Das Sozialleben hinter Gittern ist nämlich überschätzt. Zu viele schlecht gelaunte Menschen auf zu engem Raum. Wer da nicht krank wird, hat das Immunsystem eines Außerirdischen.

Am Ende wird es zu einer Rückkehr kommen, zu dem, was man so technisch „Resozialisierung“ nennt. Er wird zurück sein in einer „Gesellschaft“, die er angeblich gerade verlassen hat und die er nach den paar Monaten vielleicht dringender herbeisehnen wird, als er es sich im Augenblick vorstellen kann. Und er wird vielleicht feststellen, dass ihn dort niemand vermisst hat.

Er verscheucht den Gedanken mit einer unwillkürlichen Handbewegung, von der er sofort hofft, dass sie keiner gesehen hat, man könnte ihn ja für verwirrt oder geistesabwesend halten, wie er da sitzt neben seinem betrübt vor sich hin starrenden Pflichtverteidiger, dessen Namen er schon wieder vergessen hat. Nein, er muss das alles auf sich zukommen lassen. Neue Lage, unzählbare Tage.

Michael   Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh

war bis Dezember 2022 stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts.