Die Debatten über die Reihenfolge beim Impfen werden schriller
Neulich im Wiener Prater, Herr T. läuft seinen Tenniskumpels aus dem Vor-Pandemie-Leben über den Weg. Man plaudert. Bald findet Herr T. zu seinem bassen Erstaunen heraus, dass alle außer ihm in der Gruppe, allesamt Mitte 40, bereits geimpft sind. Manche, weil sie in Distanz-Lehre und Nebenberuf hie und da an der Uni unterrichten, andere, weil sie wegen Schuppenflechte zur Risikogruppe zählen. Herr T. erzählt profil von der Begegnung, nicht ohne empörtem Unterton. Er ist nicht der Einzige: Mittlerweile kennt jeder jemanden, der gegen Corona geimpft ist - und das ist gut so, nach überaus zähem Start trudeln verlässlich größere Mengen Impfstoff ein, die Impfkampagne nimmt Fahrt auf. 2,3 Millionen Menschen haben zumindest den ersten Stich schon hinter sich.
Damit stellen sich aber zusehends heikle ethisch-moralische Fragen: Wer soll als Nächstes vorrangig geimpft werden? Menschen über 60, weil sie ein höheres Risiko haben, schwerer an Covid-19 zu erkranken? Eltern, weil ihre Kinder aus Schulen und Kindergärten Viren nach Hause bringen und der Zwei-Meter-Abstand zu Kindern illusorisch ist? Psychisch Kranke? Menschen mit Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder Übergewicht? Schlüsselkräfte in Industrie und Co? Oder Jüngere, weil sie noch lange Steuern zahlen und im Lauf der Pandemie für die Älteren auf vieles verzichtet haben? Jede dieser Gruppen ist felsenfest davon überzeugt, dringend Vorrang zu verdienen-und macht für sich Druck. Wie sicherstellen, dass nicht die Lautesten zuerst geimpft werden, sondern jene, die es am dringendsten brauchen? Wie die Mangelware Impfstoff am besten einsetzen?
Darüber wird, in anschwellender Laufstärke und mit aufgeregten Zwischentönen, diskutiert. Im Dezember und Jänner, als Österreich mit den Impfungen startete, war die Entscheidung noch leicht: Als Ziel-1-Gebiet war rasch die vulnerable Gruppe der Betagten ausgemacht, die in Alten-und Seniorenheimen leben. Aus verflixt guten Gründen-die Statistiken sprechen eine eindeutige Sprache: Im Dezember 2020, am Höhepunkt der zweiten Welle, stammte jeder zweite Corona-Tote aus einem Seniorenheim, beunruhigende 376 Heimbewohner pro Woche wurden damals vom Virus dahingerafft. Jetzt, im April, in der dritten Welle, starben nur mehr 14 Heimbewohner pro Woche. Wer angesichts dieser Zahlen noch an der Wirksamkeit der Impfung zweifelt, gehört auch sonst zur Aluhut-Fraktion. Genauso unumstritten und logisch folgte der nächste Schritt, gleich zu Beginn Personal in Pflegeheimen und Menschen in Gesundheitsberufen zu impfen, Ärzte, Intensivpfleger, Apotheker-dicht gefolgt von Menschen über 70 Jahren und all jenen, die in Schulen und Kindergärten im Einsatz sind und sich nicht distanzieren können.
Klar, einige Impfdrängler waren sich ungeniert selbst am nächsten und akzeptierten diese Prioritäten nicht-das Gros der Bevölkerung aber durchaus. Jetzt, wo die Mehrheit der über 65-Jährigen bald mit Impfterminen versorgt ist, beginnt ein Verteilungskampf. Durchaus befeuert von den Bundesländern: Der Föderalismus läuft zur Hochform auf, jedes Bundesland interpretiert den nationalen Impfplan anders und stellt eigene Vorrangregeln auf. Manche impfen Berg-und Wasserrettung, in Salzburg gab es Sonder-Impfaktionen für Feuerwehr und Führungskräfte in Unternehmen, in Kärnten für Landesbedienstete, in Wien für Philharmoniker und Risikopatienten. Noch Fragen, warum derzeit viele Gruppen aufschreien und die Nächsten an der Spritze sein wollen?
Manche schreien laut, manche durchaus mit Recht-andere hingegen verschaffen sich schwerer Gehör. Das ist seit Beginn der Corona-Krise so, die Pandemie wirft neue soziale Fragen auf, die zu wenig debattiert werden. Schon vor Covid-19 war Gesundheit auch eine Frage von Geld, Ausbildung, Beruf und Lebenssituation: Akademiker leben im langjährigen statistischen Durchschnitt sechs Jahre länger als Pflichtschulabsolventen, höher Gebildete können 13,4 gesunde Lebensjahre mehr genießen als Pflichtschulabsolventen. Corona verstärkte diesen Faktor weiter: Besser gebildete und besser situierte Menschen können sich leichter vor Ansteckung schützen, sie halten im Homeoffice oder im Zweitwohnsitz Distanz. Andere wohnen beengter und arbeiten nicht zu Hause, sondern in Fabriken, an Supermarktkassen, auf Baustellen. Geklatscht wird für sie schon lange nicht mehr, der versprochene "Corona-Tausender" blieb für die meisten pure Illusion, dafür erkranken sie häufiger.
Und jetzt "kommen sie schwerer zu Impfungen", wie die Gesundheitsökonomin Maria M. Hofmarcher analysiert. Denn: "Die schwächeren Schichten, etliche von ihnen haben Migrationshintergrund, sind benachteiligt. Das Wissen über Impfmöglichkeiten ist eine Domäne der gut Gebildeten und gut Informierten. Um rasch geimpft zu werden, muss man viel Eigeninitiative aufweisen." Am Beispiel der Risikopatienten: Wer an Krankheiten wie Asthma über Bluthochdruck und Übergewicht bis Krebs und Autoimmunkrankheiten leidet, kann in Wien seit Mitte April geimpft werden. 60.000 Menschen meldeten sich im Rahmen dieser Aktion an-bezeichnenderweise aus Nobelbezirken wie der Innenstadt doppelt so viele (gerechnet in Prozent der Wohnbevölkerung) wie aus dem Arbeiterbezirk Favoriten. Offenbar waren die Hürden am Weg zur Impfung-Information bekommen, Attest ausstellen lassen, Computeranmeldung-für sozial Schwächere schwerer zu überwinden. Hofmarcher summiert: "Ich hätte Berufsgruppen wie Supermarktkassiererinnen vor die Risikogruppen gereiht."
Zugespitzt formuliert: Sind Menschen im Homeoffice eher geimpft als Kellner, Friseurinnen oder Verkäuferinnen, die spätestens ab 19. Mai wieder nahe an Kunden sind? Was ist richtig, was ist fair? Einfache Antworten auf diese kniffeligen Fragen gibt es nicht. Das Gesundheitsministerium gibt grob als Linie vor: Im Mai vorrangig alle über 50-Jährigen impfen, dazu in Betrieben. Das halten Bundesländer wie Salzburg ein, andere preschen vor: In Niederösterreich können ab 10. Mai alle, unabhängig vom Alter, Impftermine reservieren-jede Vorrangregel ist dann außer Kraft gesetzt. Als vertrauensbildende Maßnahme wirkt der Wettbewerb zwischen den Bundesländern nicht, im Gegenteil.
Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker hat seit Beginn der Pandemie wenig Scheu, auch Kontra-Meinungen zu vertreten. Wer ihn fragt, worin das Länder-Impfwirrwarr wurzelt, bekommt zur Antwort: "Wir Bundesländer hatten im Vorjahr beschlossen, dass die Krankenkassen das Impfen übernehmen. Die wissen genau, wer welche Medikamente nimmt, wer wie krank oder gesund ist und vorrangig geimpft gehört. Leider hat der Gesundheitsminister diesen Beschluss nie unterschrieben. Also sind die Krankenkassen nicht zuständig. Das war zweifelsohne einer der ersten Knackpunkte, der das Impfen erschwerte." Es ging holprig weiter. Next Step: Der Bund zog den Krisenplan aus der Schublade, der etwa für den Fall der Explosion eines Atomkraftwerks nahe der Grenze vorgesehen war, und kontaktierte Unternehmen, die dort als "kritische Infrastruktur" auf der Liste standen. Hacker: "Im Dezember rief die Lichtabteilung der Stadt bei mir an, ob es wahr ist, dass sie bald geimpft werden. Bei einem Atomunfall wäre die Lichtabteilung richtig, in der Pandemie nicht ganz treffsicher."Daraufhin übernahmen die Bundesländer-Ende Dezember, ohne Vorbereitungszeit. Andere Staaten wie Dänemark hatten da seit Monaten zentrale Impflisten mit genauen Kriterien fertig, in Österreich bastelte hurtig jedes Bundesland seine eigene Vormerkplattform mit eigenen Vorrangregeln.
Im Mai geht die Schere weiter auf: Manche Bundesländer impfen strikt absteigend nach Alter, Niederösterreich alle. Als Zusatzplayer spielt der Bund mit und vergibt eigene Impfstoffkontingente an Unternehmen mit Staatsbeteiligung wie die Post und österreichweit tätige Großbetriebe. In Wien wird neben dem Alter das berufliche Risiko zählen, kündigt Hacker an: "Wir impfen nun in Betrieben-vorerst in zwei Berufsgruppen: Menschen, die nahe an Covid kommen, etwa Techniker, die in Impfstraßen Aufbauten machen, oder Wäschereien, die Spitalswäsche waschen. Die zweite Gruppe sind Menschen, die aus beruflichen Gründen ins Ausland müssen und so Risiken eingehen. Das berufliche Risiko zählt für uns, manche Menschen können sich eben nicht aussuchen, an welchem Ort sie arbeiten."40.000 Impftermine werden kommende Woche für diese Gruppe freigeschaltet, dann soll der Handel folgen. Der Aufschrei anderer Gruppen scheint programmiert. Hacker hält das für unvermeidlich: "Wir setzen beim Impfen Schwerpunkte, das bedeutet auch, nicht alle gleichzeitig bedienen zu können. Ab Mitte Juni kommt sehr viel Impfstoff. Bis dorthin ist er Mangelware, bis dorthin müssen wir mit gewisser Ungerechtigkeit leben."
Das wird nicht allen leicht fallen, erschwerend kommt dazu, dass in Österreich zu viele Daten fehlen: Wer steckt sich wo an? Sind Supermärkte oder Gasthäuser gefährliche Arbeitsplätze? Sind Schulen die größten Virenschleudern? Genau erhoben ist das nicht, vergleichbare Gesundheitsdaten sind Mangelware, nicht einmal der sogenannte Modellversuch in Vorarlberg wurde wissenschaftlich begleitet. Umso vehementer können alle eigene Meinungen hinausposaunen, wer dringend zuerst geimpft gehört. Erst ab Spätsommer, so die Prognosen, werden neue Debatten kommen: Dann wird nicht Impfstoff heiß begehrt sein - sondern Impfwillige.