Corona: Ein Fall für das Höchstgericht
Eine vergleichsweise leichte Aufgabe löste der Verfassungsgerichtshof vergangene Woche in schriftlicher Form: Ja, es war rechtens, dass die Bezirkshauptmannschaft St. Johann im Pongau im März 2020 das abrupte Ende der Skisaison verordnet hatte. Unvergleichlich komplizierter war hingegen die Problemstellung, welche die 14 Höchstrichterinnen und Höchstrichter am Dienstag in öffentlicher Sitzung erörterten. War der Lockdown für Ungeimpfte, der im November 2021 in Kraft trat, verfassungswidrig? Faktisch war er ohnehin unwirksam, denn soweit bekannt hielt sich kaum ein Ungeimpfter an das Ausgangsverbot, und Verstöße wurden auch nicht sanktioniert. Die Höchstrichter beschäftigen sich also in einem ziemlich aufwendigen Verfahren mit einer Phantom-Bestimmung. Dem Rechnungshof kann das nicht gefallen. Aber dort sitzen ja buchhalterische Gröscherlzähler und nicht edle Juristen wie im VfGH.
Normalerweise tagt der Verfassungsgerichtshof in aller Stille. Geht es ums große Ganze, kann der VfGH-Präsident Verhandlungen ansetzen, zu denen Volk und Medienvertreter zugelassen sind. Der Eintritt ist kostenlos, aber beschränkt. Tickets werden per Los vergeben. Im VfGH herrscht strenger Gleichheitsgrundsatz und am Dienstag daher FFP2-Pflicht für alle, außer für zwei Zuschauer, die ein Maskenbefreiungs-Zertifikat vorweisen können. In ihren Gesichtern ist der Stolz zu lesen, ihren Protest mitten in die heilige Halle des Höchstgerichts getragen zu haben.
Palazzo-Imitat
Das VfGH-Gebäude an der Wiener Freyung sieht aus wie ein Renaissance-Palazzo, wurde aber im Jahr 1921 für eine Bank errichtet. Die frühere Schalterhalle ist heute der Verhandlungssaal. Hinter der Richterbank an der weißen, ledergepolsterten Wandverkleidung prangt in goldenen Lettern der erste Artikel der Bundesverfassung: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Rechnungshof-Prüfer könnten einwenden, dass der zweite Satz dasselbe bedeutet wie der erste und daher eine ausgabenintensive Doppelgleisigkeit darstellt. Aber bekanntlich sind das Centzutzler.
Bevor das hohe Gericht erscheint, ermahnt eine Ordnerin alle Anwesenden, sich von ihren Sitzen zu erheben. Die Tür öffnet sich. Der Präsident und die Vizepräsidentin tragen Verbrämungen aus Hermelin an ihrem Amtskleid. Die Talare ihrer zwölf Kollegen haben einen kragenartigen Besatz aus purpurnem Samt. Alles hier strahlt Würde aus. Man kann sich die ehrenwerten Mitglieder des VfGH schwer in einer lockeren Umgebung vorstellen, im Biergarten etwa oder bei einer feucht-fröhlichen Aprés-Ski-Party im Kitzloch.
Präsident Christoph Grabenwarter eröffnet die Sitzung. Links vor ihm sitzen die Kläger und ihre Anwälte, rechts die Vertreter des Gesundheitsministeriums. Einige von ihnen kennt man seit zwei Jahren aus dem Fernsehen, Herwig Ostermann etwa, den Leiter der Gesundheit Österreich GmbH, oder Katharina Raich, Chief Medical Officer und Vorsitzende der Gecko-Kommission. Im Grunde tun die beiden hier das gleiche wie im Fernsehen. Sie beantworten Fragen nach der Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen; bloß, dass nicht Armin Wolf bohrend nachhakt, sondern ein Verfassungsrichter.
Bescheinigungslast und Impfdruck
Geklärt werden soll, ob ein Lockdown für Ungeimpfte allein überhaupt zulässig war. Die dabei entscheidende Frage lautet: Wer ist aus epidemiologischer Sicht ein größeres Risiko? Ein ungeimpfter Getesteter oder ein geimpfter Ungetesteter bzw. ein ungetesteter Geimpfter oder ein getesteter Ungeimpfter? Man kann da leicht den Überblick verlieren.
Die Verhandlung startet mit einem kleinen Anschlag auf die Würde des Hauses. Ein Anwalt beginnt seinen Vortrag im Sitzen. Eine kleine Ermahnung des Präsidenten stellt die Würde wieder her. Danach folgen drei Stunden mit Ausführungen der Anwälte, Widerreden der Vertreter des Gesundheitsministeriums und interessiertem Zuhören und Nachfragen der Verfassungsrichter. Es fallen bekannte Begriff wie „Inzidenzen“, „Transmissionsketten“ oder „Virusausscheidung“ und weniger bekannte wie „Bescheinigungslast“, „Zahlen-Granulierung“ und „Impfdruck“.
Wenn zwei Juristen drei Meinungen haben, haben 14 hochgerechnet 21. Kein Wunder, dass der VfGH relativ lang in seiner Entscheidungsfindung braucht. Diesmal sollte es schneller gehen. Die Rechnungshofprüfer werden das zu schätzen wissen.
Und die ungeimpften Getesteten, die geimpften Ungetesteten, die ungetesteten Geimpften und nicht zuletzt die getesteten Ungeimpften warten bestimmt ungeduldig auf das Erkenntnis. Davon wird auch bald hier zu lesen sein.
Sie lesen Folge 6 einer Serie von Gernot Bauer über die heimische Innenpolitik. Alle bisher erschienen Teile von “Bauer sucht Politik” können Sie hier nachlesen.
Gernot Bauer
Der profil-Redakteur ergründet seit 20 Jahren Wesen und Unwesen der österreichischen Innenpolitik.
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